Joseph O'Connor - Shadowplay

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    Bram Stokers Leben verläuft in sehr geordneten und eher unspektakulären Bahnen - er arbeitet im Büro, träumt vage von der Schriftstellerei und das Aufregendste in seinem Leben ist die resolute Florence, eine patente junge Frau, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt und schließlich seine Ehefrau wird. Bis er den legendären Schauspieler Henry Irving kennenlernt, der in London ein neues Theater eröffnet und noch einen Geschäftsführer sucht. Ein Angebot, das Bram nicht ablehnen kann (und auch nicht ablehnen will). Florence ist weniger begeistert, aber Brams Entschluss steht fest, er folgt dem Ruf und sein Leben ändert sich von Grund auf. Plötzlich ist es von schillernden Künstlergestalten bevölkert, unter anderem auch Oscar Wilde, und dank Irvings Ehrgeiz und Phantasie ist das "Lyceum" stets unter den ersten Theatern, die die aufregendsten Neuerungen, die verblüffendsten Showeffekte und die größten Stars vorweisen können.


    Ellen Terry, die größte Schauspielerin ihrer Zeit, ist fixer Bestandteil der Lyceum-Welt, und mit dem exzentrischen und auch durchaus mal explosiven Irving verbindet sie eine ungewöhnliche Freundschaft, und auch Bram Stoker wird ein guter Freund. Nicht selten ist es Ellen, die bei aller Divenhaftigkeit dem weltfremden Irving den Kopf zurechtrückt und die Stimme der Vernunft ist, wenn die Ideen des Theaterinhabers allzu schräge Formen annehmen.


    Stoker selbst bleibt dauerhaft fasziniert von der schillernden Scheinwelt des Theaters und ist dem höchst impulsiven und oft genug auch unvernünftigen Irving stets in tiefer Loyalität verbunden, auch wenn der nicht immer begreift, wie sehr er diesen bodenständigen Gegenpart braucht, der sich um die schnöden Alltagsdinge kümmert und somit eine solide Basis für den Erfolg des Theaters schafft. Unermüdlich arbeitet Bram hinter den Kulissen, damit es im Lyceum rund läuft, und widmet sich ansonsten seinen literarischen Gehversuchen (auch wenn diese nicht von Erfolg gekrönt sind).


    Dass er seiner Frau und später auch seinem Sohn so wenig Zeit und Platz in seinem Leben einräumt, ist sehr bedauerlich und auch kurzsichtig von seiner Seite, denn Florence ist eine kluge, fortschrittlich denkende Frau und könnte ihm eine wertvolle Partnerin und Unterstützerin sein, wenn er es denn nur zuließe. In manchen Dingen hat sie sogar den besseren Riecher als er, doch das begreift er nicht.


    Die viktorianische Theaterwelt ist ein wundervoller Romanstoff mit ihren vielen überlebensgroßen Figuren, spektakulären Effekten und vielen großen und kleinen menschlichen Dramen, die oft alles schlagen, was auf der Bühne aufgeführt wird. In den Händen von Joseph O'Connor, der ein begnadeter Erzähler ist, wird daraus auch kein abgedroschener 08/15-Historienschinken, sondern ein straff erzählter Roman mit reichlich bissigem Humor und vielen originellen, aber nie gewollt wirkenden Sprachbildern, der eine Seite von Bram Stoker in den Vordergrund rückt, die vielen nicht bekannt sein dürfte. Die Charaktere sind durchaus manchmal anstrengend, ambivalent und nicht immer sympathisch, aber gerade das gefiel mir hier.


    Was ich auch sehr mochte: das Buch endet mit einem Schlussakkord, der einige Jahre nach den Geschehnissen der Haupthandlung spielt, zu einer Zeit, in der das Theater genauso heruntergekommen ist wie die Protagonisten mit Altersgebrechen behaftet. Ein wenig morbide vielleicht, aber sehr passend zum Grundton des Buches und auch zur ausgehenden viktorianischen Zeit.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen