Beiträge von Egophagus

    Eine Rezension zu Canettis Blendung konnte ich hier nicht finden, also will ich mich mal daran versuchen.


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    Inhalt: Peter Kien; Privatbibliothekar, Universalgelehrter und wohl bedeutendster Sinologe seiner Zeit; lebt ein Leben diktiert von Fleiß und Ordnung. Es sind die Bücher und die wissenschaftlichen Arbeiten, denen er sein ganzes Leben widmet. Für den Rest, für das unbedachte Herummenscheln seiner Zeitgenossen etwa, hält er ein Notizbuch bereit, in das er hineinschreibt, was es besser zu vergessen gilt. Anders kommt er seinem phänomenalen Gedächtnis nicht bei. Sein Haus in der Ehrlichstraße verlässt er nur auf eine Stunde jeden Morgen, um sich den Rest des Tages an seinen Schreibtisch zu setzen.


    Aus reiner Gutmütigkeit beschließt Kien eines Tages, seine langjährige Haushälterin Therese Krumbholz zu heiraten. Für einen ungebildeten Menschen, geht Therese sehr liebevoll mit seinen Büchern um, ja, manchmal gar liebevoller als er, und es ist letztlich sein Gerechtigkeitssinn, der ihn zur Heirat verpflichtet. Schon in der Hochzeitsnacht aber muss Kien seinen schweren Fehler einsehen. Nach und nach wird Kiens Wohnung von den Ansprüchen seiner Gattin usurpiert. Längst ist es ihr nur noch des materiellen Wertes wegen um die Bibliothek von 25000 Bänden zu tun. Ein erbitterter Kampf bricht los, der Kiens Weltordnung völlig auf den Kopf stellt, ein Kampf, den er nicht gewinnen kann; Sie wirft ihn kurzerhand hinaus.
    Damit ist nicht zuviel verraten, denn hier beschrieben ist lediglich das erste Drittel des Buches, betitelt „Kopf ohne Welt“. Ihm folgen der zweite Teil „Kopflose Welt" und schließlich der dritte Teil „Welt im Kopf".


    Meine Meinung: Es ist nicht eigentlich eine Beleidigung, dass mir, seit ich die Blendung ausgelesen habe, zum Wort „grotesk" nur immer ebendieses Buch einfällt. Wo die meisten Schriftsteller bizarre Morde oder grausame Folter en detail beschreiben, benötigt Canetti in seinem Erstling bloß eine erschreckend authentische, unsäglich dämliche Wirtschafterin im Gespräch mit einem asozialen, introvertierten Gelehrten, um seine Leser vor den Kopf zu stoßen. Es war dann auch Empörung, die mich bei der Lektüre über weite Strecken begleitete. Die extremen und extrem verschiedenen Charaktere, ihre ständige Wiederholung der dümmsten Phrasen und die ständigen Missverständnisse unter ihnen haben mich nicht selten zynisch werden lassen. So sehr in diesem Buch die Satire auf die Spitze getrieben wurde, so erschütternd ist die Tatsache, dass sowohl die Charaktere als auch deren Sprache fast immer glaubwürdig sind. Wen überrascht es da, wenn Canettis Therese eine ehemalige Vermieterin aus Wien zum Vorbild hat, die er im dritten Kapitel sogar wörtlich zitiert? Seine eigene Sprache, sein Schreibstil also, liest sich schnell und mühelos. Einige sprachliche Absonderlichkeiten lastete ich anfangs im Geiste der Tatsache an, dass Deutsch nicht Canettis Muttersprache war. Im letzten Drittel wurde mir dann aber klar; es sind die ureigenen sprachlichen Absonderlichkeiten seiner Protagonisten. Deutlich wird zuweilen Kafkas Einfluss auf Canetti. So geschehen mitunter höchst sonderbare Dinge, wie etwa die Versteinerung Kiens Kraft seines Willens. Der phantastischen Literatur würde ich das Buch dennoch nicht zuordnen. Es ist vielmehr ein stellenweise märchenhafter, moderner Roman mit viel Witz und dem Charme eines Menschen, den man um seine Böswilligkeit bewundert, zur gleichen Zeit verspielt und mitleidlos.


    Mit diesem Roman ist Canetti eine ganz eigenartige Mischung gelungen, die man sich wirklich nicht entgehen lassen sollte. Vielleicht übereifrigen Emanzen und Frauenrechtlern möchte ich von der Lektüre abraten, da das schöne Geschlecht hier durchaus nicht gut wegkommt. Wer sich davon nicht abschrecken lässt: Lesen!


    4ratten

    Kann sein ich bin ein sehr konservativer Leser, kann sein ich hätte weiterlesen sollen; ich kann nur die Eindrücke schildern, wie sie mir von den ersten 60-80 Seiten im Gedächtnis verblieben sind:


    Was reitet einen Schriftsteller, wenn er sein Werk mit „Du schickst dich an, den neuen Roman X von Y [eigener Name] zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite.“ beginnen lässt? Wo Tolstoi in einem Vorwort die eigene Schwäche und die seiner Kollegen anklagt, sich mitunter direkt an den Leser wenden zu müssen, wendet sich Calvino also im eigenen Roman, zwarlich im ersten Satz, an den Leser. Ich werde sofort an den zeitgenössischen Kinderbuchautoren Thomas Brezina erinnert, welcher bekannt für seine interaktiven Spukgeschichten ist. Vielleicht war ihm Calvino ein Vorbild? — Man weiß es nicht. Gewiss ist nur die Antipathie, die ich nach nur zwei Seiten gegenüber Calvino empfinde. Welcher Schriftsteller darf sich billigerweise anmaßen, den Leser eingangs zur Konzentration aufzufordern? Joyce? Dostojewski? Hemingway? Völlig unwichtig; Calvino gehört meines Erachtens (offenbar jedoch seines Erachtens) nicht dazu. An einigen Stellen bezieht er sich auf frühere Seiten des Buches und gibt diese via Seitenzahl an. Das Problem ist: Format und Seitenzahl variieren je nach Ausgabe und Auflage. Hinzu kommt freilich die Verschiebung durch die Übersetzung. Ich blättere also artig zurück auf Seite 39 (ganz so, wie er es verlangt; damals in der Ausgabe der SZ) und verstehe Calvinos Pointe nicht. Ach so, ja! Seite 42! Da haben wir die gemeinte Stelle. Dem Zaubertrick geht dabei freilich dennoch die Magie ab. Diese Ausflüge in die Meta-Kommunikation nerven mich indes dermaßen, dass ich im Geiste um eine echte Geschichte, um eine richtige Handlung bettel. Langsam, ganz langsam, kommt dann doch etwas ins Rollen, aber ich werde nur leidlich entschädigt: Vereinzelnt gelungene Szenen können das Gesamtkunstwerk Roman nicht retten.

    Auf mich wirkte dies Buch, als hätte Calvino trotz größter Ideenarmut und Schreibblockade schreiben müssen, wie um einem Termin und/oder etwelchen Erwartungen gerecht zu werden. Im Kreativen Schreiben tritt er dabei als Könner auf, nicht als feinfühliger Romancier vielleicht, aber als Autor, der sein Handwerk beherrscht. Es ist dann auch das Kreative Schreiben, das Schreibspiel, das diesen Roman im ganzen ersten Drittel (und darüber hinaus?) beherrscht und ausmacht. Euphemistisch gesagt ein gewagtes Experiment, pejorativ gesagt ein erzähltechnischer Reinfall.


    Soweit ich es beurteilen kann allenfalls Unterhaltung für eine traurige Winternacht. 2ratten



    Da lasse ich mich lieber auf Experimente mit Borges oder Queneau ein.

    Entschuldigt bitte, wenn ich das Thema nochmals aufrolle, obgleich kein echtes Interesse mehr daran besteht. Ein Wort zum Ende des Romans:


    Camus schrieb seine Philosophie des Absurden in dreifacher Ausführung nieder: Im Drama Caligula, im Essay Der Mythos des Sisyphos und schließlich im Roman Der Fremde. Wie sich das Ende des Romans liest, wenn man den Essay zuvor nicht gelesen hat, weiß ich nicht. Wer jedoch den Essay zuvor gelesen hat oder eben später liest und das Ende des Fremden wiederliest, sollte sich meines Erachtens gar nicht groß wundern. Nach der Gerichtsverhandlung und Ernennung Meursaults zum Todeskandidaten hat der Roman im Grunde seinen Dienst getan. Wir erfahren noch, dass Meursault Angst hat, verständlicherweise Angst hat, und den Hinrichtungsapparat verdammt, so wie ihn jeder zum Tode Verurteilte verdammen würde. Einige Hoffnung hat er zuweilen, er könne ihm irgendwie entschlüpfen, doch besinnt er sich. Er erkennt seine Zukunft und ihre Unerbittlichkeit, und richtet sich mit dem ein, was ist. Auch erkennt er, dass seine Lage trotz allem glückloser sein könnte. Den Geistlichen will er nicht empfangen, da er des religiösen Trostes nicht bedarf; der Geistliche kommt doch. Meursault gerät in Wut, nicht allein über seine verzweifelte Lage, sondern vor allem über den Geistlichen, welcher ihm Gottes Gnade aufschwatzen will. An dieser Stelle folgen noch einige erhellende Worte. [Es gibt da offenbar unterschiedliche Versionen, denn das Gespräch mit dem Geistlichen ist in meiner Übersetzung ins Deutsche von Uli Aumüller (ein rotes rororo-Buch) enthalten. Bei Juggalette scheint dieses Gespräch übersprungen und seine Folgen kurz zusammengefasst worden zu sein. Mich würde interessieren, Juggalette, welche Ausgabe Du gelesen hast.]


    Nach meiner Auffassung: Meursault sieht sich und sein Leben gerechtfertigt, bereut nichts und macht sich keine Vorwürfe. Das Leben, weiß er, ist nicht lebenswert, doch er wäre es zufrieden, wenn er nicht sterben müsste, nicht jetzt, nicht so; denn er will leben. Meursault ist dabei "das genaue Gegenteil des Selbstmörders: der zum Tode Verurteilte", wie es im Mythos des Sisyphos heißt. Allein der Status des zum Tode Verurteilten, den wir schließlich mit ihm gemein haben, unterstreicht seine Revolte. Gerade als zum Tode Verurteilter drängt er zum Leben. Dabei ist er nicht ohne Hoffnung, aber ohne Illusion.


    Wunderbares Buch! Allein Camus' Philosophie findet heutzutage leider nur wenig Beachtung; als Rettungsanker für Sinnsuchende taugt sie ja nichts.

    Ein interessantes Buch zu dem Thema ist "Gegen die Welt, gegen das Leben" von Michel Houellebecq: http://www.perlentaucher.de/buch/11712.html (Herausgeber ist Stephen King)


    Lovecraft hatte keinen regelrechten Rassenhass. Er sympathisierte nicht mit den Nazis und nannte Hitler - den Lovecraft sehr wohl kannte - einen Clown. Vielmehr empfand er eine starke Abneigung gegenüber Schwarze. Ihr Aussehen; ihr Benehmen; ihre laute, rhythmische Musik -- ja, die gesamte Kultur missfiel dem pietätsvollen, zurückhaltenden Gentleman aus New England. Wenn er einem Schwarzen auf der Straße begegnete, war er, so hieß es, wie versteinert und brach in Schweiß aus. Vor allem in seiner kurzen Zeit in New York muss er große Ängste ausgestanden haben. Gerade diese Erfahrungen schlugen sich in seinen Texten nieder: All die fremdartigen, göttergleichen Wesen mit ihren unaussprechlichen Namen (Yog-Sothoth, Cthulhu etc.), neben denen der Mensch (und also er selbst, Lovecraft) verschwindend klein und hoffnungslos verloren ist.


    Die Triebfeder Lovecrafts war niemals Hass, sondern Angst. Es sind ja immer die mittellosen Angelsachsen, die in seinen Erzählungen alles verlieren; die Würde, den Verstand, das Leben. Von einem Triumph der Herrenrasse kann da nicht die Rede sein.


    Ich verehre Lovecraft für seinen präzisen Stil, für die erschütternde Redlichkeit seiner vertexteten Ängste. Wenn man Angst und Abscheu mit Hass verwechseln mag, so muss man Lovecraft für diesen überaus konstruktiven Rassismus danken. Letztlich aber zählt nicht die Überzeugung eines Menschen, sondern seine Taten. Sowohl Lovecrafts literarisches Werk als auch sein uns bekanntes Leben sind durchweg anständig.