Seit gestern abend habe ich mir das Buch noch durch den Kopf gehen lassen und versuche mich mal an einem Fazit, das ich aber ausdrücklich als vorläufig deklarieren möchte, weil dieser Roman sicher noch eine Weile nachwirken wird.
Wir haben in dieser Leserunde keine Spoilermarkierungen gesetzt, ich halte das aber in diesem Fall auch nicht für problematisch, da die Kenntnis all dessen vor dem Lesen den Reiz der Erzählung eigentlich nicht mindern kann. Wer aber trotzdem lieber die ein oder andere kleinere Überraschung erleben möchte, sollte sich von den übrigen Postings zunächst fernhalten
Salichs Roman hat mich sehr beeindruckt. Obwohl es sich um ein relativ schmales Bändchen handelt, ist es von einer ungeheuren Tiefe und Vielschichtigkeit. Als zentrales Thema muß wohl die Frage nach Identität und Identifikation gesehen werden. Dabei macht es sich Salich aber nicht so leicht, daß er Orient gegen Okzident oder auch männliche und weibliche Rollenzuschreibungen einfach gegeneinander ausspielt. Insbesondere der erste Gegensatz läßt sich aus der Geschichte meiner Meinung nach nicht herauskonstruieren, auch wenn er angesichts von sudanesischen Heimkehrern aus der europäisch und akademisch geprägten Welt naheliegend wäre. Vielmehr gelingt es Salich, die unterschiedlichen Werte und Moralvorstellungen einerseits miteinander zu verflechten und ineinander zu spiegeln und andererseits in den Personen Mustafa Saîd und dem Erzähler auch zu brechen. Der Umgang dieser beiden mit den daraus resultierenden Identifikationsproblemen und die Konsequenzen, die sie daraus ziehen, unterscheiden sich aber erheblich voneinander, so daß letztlich nicht nur einfach eine Tragödie übrigbleibt, sondern auch ein Hoffnungsschimmer.
Salichs Sprache unterstützt dieses Anliegen sehr gut. Die „europäischen“ Teile kommen in einer sehr klaren und präzisen Formulierung daher, sehr direkt und passend zu einer rational ausgerichteten Welt. Dagegen verströmen die „sudanesischen“ Abschnitte eine gewisse Unbestimmtheit, eine Trägheit, die dem dahinfließenden Nil und der sonnenglühenden Umwelt angemessen ist. Alles in allem war dieses Buch für mich ein echtes Leseerlebnis, das ich sicherlich noch einmal wiederholen werde und das Salich auf meine Liste favorisierter Autoren katapultiert.
Schönen Gruß,
Aldawen