[Sudan] Tajjib Salich - Zeit der Nordwanderung

Es gibt 27 Antworten in diesem Thema, welches 12.926 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Aldawen.

  • Seit gestern abend habe ich mir das Buch noch durch den Kopf gehen lassen und versuche mich mal an einem Fazit, das ich aber ausdrücklich als vorläufig deklarieren möchte, weil dieser Roman sicher noch eine Weile nachwirken wird.


    Wir haben in dieser Leserunde keine Spoilermarkierungen gesetzt, ich halte das aber in diesem Fall auch nicht für problematisch, da die Kenntnis all dessen vor dem Lesen den Reiz der Erzählung eigentlich nicht mindern kann. Wer aber trotzdem lieber die ein oder andere kleinere Überraschung erleben möchte, sollte sich von den übrigen Postings zunächst fernhalten :zwinker:


    Salichs Roman hat mich sehr beeindruckt. Obwohl es sich um ein relativ schmales Bändchen handelt, ist es von einer ungeheuren Tiefe und Vielschichtigkeit. Als zentrales Thema muß wohl die Frage nach Identität und Identifikation gesehen werden. Dabei macht es sich Salich aber nicht so leicht, daß er Orient gegen Okzident oder auch männliche und weibliche Rollenzuschreibungen einfach gegeneinander ausspielt. Insbesondere der erste Gegensatz läßt sich aus der Geschichte meiner Meinung nach nicht herauskonstruieren, auch wenn er angesichts von sudanesischen Heimkehrern aus der europäisch und akademisch geprägten Welt naheliegend wäre. Vielmehr gelingt es Salich, die unterschiedlichen Werte und Moralvorstellungen einerseits miteinander zu verflechten und ineinander zu spiegeln und andererseits in den Personen Mustafa Saîd und dem Erzähler auch zu brechen. Der Umgang dieser beiden mit den daraus resultierenden Identifikationsproblemen und die Konsequenzen, die sie daraus ziehen, unterscheiden sich aber erheblich voneinander, so daß letztlich nicht nur einfach eine Tragödie übrigbleibt, sondern auch ein Hoffnungsschimmer.


    Salichs Sprache unterstützt dieses Anliegen sehr gut. Die „europäischen“ Teile kommen in einer sehr klaren und präzisen Formulierung daher, sehr direkt und passend zu einer rational ausgerichteten Welt. Dagegen verströmen die „sudanesischen“ Abschnitte eine gewisse Unbestimmtheit, eine Trägheit, die dem dahinfließenden Nil und der sonnenglühenden Umwelt angemessen ist. Alles in allem war dieses Buch für mich ein echtes Leseerlebnis, das ich sicherlich noch einmal wiederholen werde und das Salich auf meine Liste favorisierter Autoren katapultiert.


    5ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Huhu, Saltanah und nikki :winken:


    Da ich ein furchtbar neugieriger Mensch bin, wüßte ich doch gerne noch, wie Euer abschließendes Urteil über dieses Buch ausfällt. Damit durch seid doch wohl schon (von Saltanah weiß ich's ja sogar :zwinker:) ...


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo Aldawen!


    Ich habe das Buch auch schon gelesen. Nur leider fand ich in den letzten Tagen keine Ruhe, meine Gedanken niederzuschreiben. Ab heute habe ich Urlaub :klatschen: und wollte das Wochenende u.a. dazu nutzen, meinen abschließenden Kommentar zu schreiben. Ich hoffe, Du kannst Dich bis Montag gedulden :smile: Übers Wochende bin ich offline.



    Und was haltet Ihr von dem Ende in Kapitel 10? Ist es der Versuch, sich aus dem Leben und der Verantwortung zu stehlen, bevor er dann endlich einmal bewußt eine Entscheidung trifft? Ich schätze diese Entscheidung sehr, weil sie für den Erzähler sicher der schwierigere Weg ist, der ihm mehr abverlangt, deshalb bekommt er meinen Respekt. Aber wie er zu dieser Wahl gelangt, das entzieht sich meinem Verständnis. Mußte es der Nil sein wegen Mustafas Abgang?


    Der Nil zieht sich durch die ganze Erzählung durch und hat sicher eine zentrale Stelle im Leben der Menschen. Der Fluss ist gleichzeitig der Lebensspender und Zerstörer. Auch der Ich-Erzähler spürt das. Bis zum Schluss war mir nicht klar, ob er sich umbringen wird oder nicht. Dann trifft er eine Entscheidung: "All my life I had not chosen, had not decided. Now I am making a decision. I choose life. I shall live because there are a few people I want to stay with for the longest possible time and because I have duties to discharge. It is not my concer whether or not life has meaning." Es gibt Menschen, soziale Bindungen, die ihm etwas bedeuten und für die möchte er am Leben bleiben. Daraufhin ruft er um Hilfe. Aber hat er überlebt? Keine Ahnung.


    Wie gesagt, am Montag kommt mein Fazit. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass es ein wirklich tolles Buch ist.


    Liebe Grüße
    nikki


    edit: Tippfehler ausgebessert

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

    Einmal editiert, zuletzt von nikki ()

  • So, endlich bin ich mal wieder einigermaßen wach. Die gesamte Woche war ich ständig todmüde und fühlte mich nicht imstande, einen Kommentar zu schreiben, der etwas mehr Nachdenken erfordert.


    Das 9. Kap. hat es mir nicht einfach gemacht. Mustafas Verhältnis zu den verschiedenen Frauen und vor allem seiner Gattin kann ich so gar nicht nachvollziehen. Was bringt Menschen dazu, eine so zerstörerische Beziehung einzugehen? Ich weiß es nicht.
    Der geheime Raum Mustafas gibt meiner Meinung nach auch Antwort auf die Frage, was an Mustafas Leben denn eine Lüge sei: sein Leben als "einfacher Bauer" am Nil. Er ist eben kein durchschnittlicher Sudanese wie die anderen Dorfbewohner, sondern hat ganz andere Erfahrungen gemacht. Sein Versuch, diese zu ignorieren, ist ihm missglückt. Zu viel hielt er sich - wie seine Frau dem Erzähler berichtete - in diesem Raum auf, zu sehr beschäftigte ihn seine Vergangenheit (er murmelte (im Schlaf?) den Namen seiner englischen Frau).
    Diesen geheimen Raum könnte man, wie eigentlich das meiste in diesem Roman, auch symbolisch deuten, als Bild verdrängter Anteile in Mustafas Persönlichkeit.


    Wieso der Erzähler ausgerechnet im Nil zu einer Entscheidung kommt, fragt Aldawen.
    Ich finde das sehr passend, ganz abgesehen davon, dass Mustafa im Nil verschwunden ist. Der Nil zieht sich ja, wie Nikki auch schrieb, durch das gesamte Buch. Das kommt nicht von ungefähr: gerade im Wüstenkapitel wird deutlich, wie wichtig der Nil für den gesamten Sudan ist. Er spendet (und nimmt manchmal auch) Leben, macht dieses erst wirklich für größere Menschengruppen möglich. Was liegt da näher als der Nil, wenn man sein Leben (bewusst oder unbewusst) beenden oder verändern will?
    Auch hier bietet sich eine symbolische Deutung an: Mitten im Fluss, gleich weit vom Nord- wie vom Südufer entfernt (also halbwegs zwischen Afrika und Europa) findet der Erzähler endlich zu sich selbst. Bisher hatte er einen verändernden Einfluss seines Studiums in Europa ja verleugnet; erst durch Husnas brutalen Tod merkt er, dass er sich von seinen Landsleuten unterscheidet. Es gilt, die beiden Teile seines Lebens zu integrieren oder zu sterben. Mustafa gelang eine Integration des westlichen mit dem afrikanischen Anteil nicht und auch der Erzähler befindet sich in der Gefahr, an dem Gegensatz zugrunde zu gehen. Er wählt schließlich das Leben und damit, so unterstelle ich es Salich, die einzig mögliche Zukunft nicht nur für sich, sondern auch für den Sudan. Keine Verwestlichung, aber auch kein starres Festhalten an unmenschlichen Traditionen. Wad Rayyes musste sterben, um dem Erzähler Platz zu machen. (Einfacher wäre diese Deutung natürlich, wenn Husna überlebt und den Erzähler geheiratet hätte, aber sooo einfach ist der Fortschritt nicht.)
    Ob dem Erzähler (und dem Sudan) dies gelingen wird, lässt Salich unklar. Vielleicht ertrinkt der Erzähler, vielleicht schafft es der Sudan nicht, seinen Bewohnern ein gutes Leben zu ermöglichen. Vieles liegt in der neuen Nation auch nach der Selbständigkeit im Argen und es gilt für das Land, dieses zu verändern.


    Mein Fazit:
    Für ein wirkliches Fazit müsste ich das Buch sicher noch ein paar mal lesen, gerne in weiteren Übersetzungen oder am besten im Original. Ich habe immer noch den Eindruck, nur an der Oberfläche des Buches gekratzt zu haben. In ihm verbirgt sich noch vieles, das wir nicht angesprochen haben.
    Eines kann ich aber guten Gewissens sagen:
    5ratten + :tipp:
    (Dass ich auf der Suche nach weiteren Büchern von Salich bin, versteht sich wohl von selbst.)

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Der geheime Raum Mustafas gibt meiner Meinung nach auch Antwort auf die Frage, was an Mustafas Leben denn eine Lüge sei: sein Leben als "einfacher Bauer" am Nil. (...)
    Diesen geheimen Raum könnte man, wie eigentlich das meiste in diesem Roman, auch symbolisch deuten, als Bild verdrängter Anteile in Mustafas Persönlichkeit.


    Ich habe eine Weile darüber nachgedacht und kann Dir da zustimmen. Andere Aspekte seines Lebens mögen für Mustafa auch nicht ideal gewesen sein, aber er war mit dem akademischen Leben in England vermutlich an dem Ort, an dem er sich „rechtmäßigerweise“ (was immer das in diesem Zusammenhang für einen Menschen bedeuten mag) aufhielt, während sein Dorfleben eigentlich eine Maskerade ist. Der geheime Raum ist dafür dann die Rückzugsmöglichkeit.



    Zum Nil: Ja, so wird es wohl sein. Der Fluß ist als Lebensspender aber auch als Gefahr immer präsent, nötig, geliebt, aber manchmal eben auch gefürchtet. Das Leben kreist um den Nil. Allerdings halte ich Saltanahs geographische Interpretation angesichts der allgemeinen Fließrichtung des Nils und der Tatsache, daß zwischen dem Sudan und Europa außer dem Mittelmeer ja auch noch Ägypten liegt, für etwas gewagt :zwinker:





    Bisher hatte er einen verändernden Einfluss seines Studiums in Europa ja verleugnet; erst durch Husnas brutalen Tod merkt er, dass er sich von seinen Landsleuten unterscheidet.


    Merken tut er es vorher schon, aber er weigert sich lange, daraus Konsequenzen zu ziehen. Sonst hätte er spätestens bei der Begegnung mit den Polizisten im siebten Kapitel, die zu einem ganz ähnlich gelagerten Fall unterwegs sind, umgedreht. Aber in dieser Duplizität der Handlungen äußert sich möglicherweise wirklich der von Saltanah angesprochene Konflikt zwischen Tradition und Modernisierung. Husnas Handlung ist eben kein völlig singuläres Ereignis, das sich mit einem: „Die muß verrückt geworden sein“ abtun läßt, sondern verweist auf grundlegende Probleme, die im Rahmen der bestehenden Verhältnisse – zumindest aus Sicht der betroffenen Frauen – nicht anders als gewaltsam gelöst werden können.


    Für eine Wieholek stehe ich bei Gelegenheit auf jeden Fall zur Verfügung, und mein Buchregal wird sich hoffentlich in den nächsten Tagen, sobald die Bestellung von booklooker eintrifft, noch um zwei weitere Bücher von Salich (Bandarschâh und Die Hochzeit des Sain) erweitern.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo!


    Mein Fazit ist auch von vorübergehender Natur. Ich dachte, ich werde am Wochenende Zeit haben, war aber leider nicht so. Ich und mein Schatzi fliegen morgen nach Peru und die letzten Tage waren ganz den Vorbereitungen gewidmet.


    Ich schließe mich aber Euren Bewertungen vollkommen an. Gefallen hat mir vor allem, dass Tayeb keine schwarz-weiß Malerei betreibt und keine der "Seiten" weder romantisiert noch dämonisiert wird.


    5ratten


    Liebe Grüße
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg


  • Allerdings halte ich Saltanahs geographische Interpretation angesichts der allgemeinen Fließrichtung des Nils und der Tatsache, daß zwischen dem Sudan und Europa außer dem Mittelmeer ja auch noch Ägypten liegt, für etwas gewagt :zwinker:


    So betrachtet klingt meine Interpretation wirklich "gewagt". Aber sie hat Stütze im Text selbst. Ich beziehe mich auf drei Stellen im 10. Kapitel. In der ersten heißt es I began swimming to the northern shore. (Das Dorf liegt ja am Knick des Nils, da wo er kurzfristig die Fließrichtung ändert und in ost-westlicher Richtung fließt.) Und etwas später I continued swimming and swimming, resolved to make the northern shore. Als ihm dann die Kräfte ausgehen, stellt er fest, dass er sich (in meiner Übersetzung der schwedischen Übersetzung) auf halbem Wege zwischen den Stränden befindet. Die englische Übersetzung ist noch deutlicher: I found I was half-way between north and south. An dieser Stelle fiel bei mir der Groschen.
    Erst jetzt fällt mir auf, wie sehr seine "Hauptrichtung" betont wird. Er will nach Norden, schafft das aber nicht, ebenso wenig wie Mustafa es geschafft hat (immerhin kehrt der in den Süden zurück). Jetzt befindet sich der Erzähler in Lebensgefahr - wörtlich ebenso wie im übertragenen Sinne - er ist dabei zu ertrinken (so wie auch Mustafa ertrunken, am Konflikt zwischen seinen Welten zugrunde gegangen ist), und ruft um Hilfe. Bisher hatte ich das Ende mit der Entscheidung des Erzählers "das Leben zu wählen", positiv gedeutet, aber gerade frage ich mich, wie er denn überleben soll? Aus eigener Kraft schafft er es weder ans eine noch ans andere Ufer, und wer soll ihm denn zu Hilfe kommen?



    mein Buchregal wird sich hoffentlich in den nächsten Tagen, sobald die Bestellung von booklooker eintrifft, noch um zwei weitere Bücher von Salich (Bandarschâh und Die Hochzeit des Sain) erweitern.


    Ich beneide dich darum. Meine Suche war bisher noch erfolglos, ich werde wohl doch - obwohl ich das gar nicht mag - eine Bestellung aufgeben müssen.


    nikki:
    Alles Gute in Peru!

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Du hast natürlich recht, daß der Nil bei diesem Dorf eine Biegung macht und deshalb seine primäre Fließrichtung ändert. Da ich das Buch inzwischen schon weitergeschickt habe, kann ich im Moment nur nicht mehr nachschauen, ob auch an allen Stellen in der deutschen Übersetzung vom Nordufer die Rede war, erinnere mich aber, daß es zumindest vorkam. In der übertragenen Interpretation mag der Fluß dann aber durchaus als eine Grenze zwischen Afrika und Europa, zwischen Tradition und Moderne herhalten.



    Bisher hatte ich das Ende mit der Entscheidung des Erzählers "das Leben zu wählen", positiv gedeutet, aber gerade frage ich mich, wie er denn überleben soll? Aus eigener Kraft schafft er es weder ans eine noch ans andere Ufer, und wer soll ihm denn zu Hilfe kommen?


    Hm, gute Frage. Und was läßt ihn hoffen, Rettung vorausgesetzt, daß er am „Südufer“, zu dem er ja zurück will, besser klarkommt als Mustafa? Sicher ist es auch eine Frage der Geisteshaltung. Da unterscheidet er sich wesentlich von Mustafa, der sich emotional nie von England gelöst hat, während der Erzähler feststellt, daß es durchaus Menschen gibt, die ihm so wichtig sind, daß er um ihretwillen den Konflikt auf sich nehmen will. Daher ist seine grundsätzliche Entscheidung durchaus positiv zu sehen, nur: Kommt diese Entscheidung noch rechtzeitig? Das läßt Salich offen.


    Schönen Gruß,
    Aldawen