Dostojewskij und der implizite Geschlechtsverkehr ;-)

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  • Hallo zusammen


    Obwohl der Sex (zensuriertes Literaturforum??) in seinen Romanen keine geringe Rolle spielt, kann sich Dostojewskij anscheinend fast nie zu einer expliziten Feststellung durchringen, dass Herr und Frau Romanfigur nun tatsächlich miteinander geschlafen haben, und überlässt es dem aufmerksamen Leser, dies aus seinen vagen Andeutungen oder einfach aus dem Zusammenhang der Geschichte zu folgern. Mitunter bin ich dabei etwas überfordert, da mir die damaligen Gepflogenheiten im russischen Adel nicht besonders geläufig sind :)


    Darum ein paar Fragen (ich beziehe mich auf die Neuübersetzungen von Swetlana Geier):


    Die Brüder Karamasow:
    - Dmitrij macht der Schwester von Katerina Iwanowna das Angebot, dass er ihre Familie finanziell unterstützen könnte - sie müssten nur die Schwester zu ihm schicken, sollten sie sein Geld brauchen. Ich nehme an, Katerina sollte Dmitrij nicht nur besuchen, sondern für das Geld mit ihm schlafen, was auch der Grund wäre für die wütende Reaktion ihrer Schwester (und nicht nur sein Angebot, die Familie finanziell zu unterstützen, was damals ja an sich schon eine Beleidigung gewesen wäre). Soweit richtig?
    - Schliefen Katerina und Dmitrij nun miteinander, als sie ihn besuchte und die viertausend Rubel bekam? Ich glaube nicht, auf jeden Fall konnte ich in dieser Szene keine Anspielung darauf entdecken. Dmitrij könnte sie zwar haben, ist sich aber bewusst, dass er am nächsten Tag keine Chance hätte mit einem Heiratsantrag. Er gibt ihr das Geld, ohne eine Gegenleistung zu verlangen; sie ist völlig überrascht, wirft sich vor ihm zu Boden und geht.


    Der Idiot (ich bin erst auf Seite 88, wo Myschkin die Schwestern Jepantschina kennenlernt, und beziehe mich hier auf die Vorgeschichte):
    - Schliefen Tozkij und Nastassja Filippowna miteinander? Beim Lesen hatte ich eher das Gefühl, dass Tozkij zwar die Absicht hatte, das Mädchen Nastassja später zu seiner Geliebten zu nehmen, dies aber nach ihrer "Wandlung" zur zynischen Erpresserin aufgab. Falls er aber schon vor Nastassjas Umzug nach Petersburg, also während seinen Besuchen auf dem Landhaus, mit ihr schlief (oder sie vergewaltigte), so fehlen mir dafür wirklich die Hinweise oder Anspielungen Dostojewskijs. Ebenso weist eine Bemerkung auf Seite 67 eher in Richtung Keuschheit: "Ihre Schönheit wurde allgemein gerühmt, aber das war auch alles; niemand durfte sich mit einem Erfolg brüsten, niemand ihr etwas nachsagen."
    - Andererseits, wenn er sie "nicht angetastet hat", so frage ich mich, warum auf Seite 72, als die Rede ist von den 80'000 Rubeln, die Tozkij ihr bot, steht: "... wenn sie jetzt das Kapital annähme, so keineswegs als Preis für den Verlust ihrer Mädchenehre, woran sie keine Schuld treffe, sondern als eine Entschädigung für ihr zerstörtes Leben."
    - Ich nehme an, die Bemerkung auf Seite 72: "Immerhin gestattete sie ihm, sie zu lieben, und liess sich seine Liebe gefallen, ...", ist eine der wenigen wirklich expliziten ;) Beschreibungen Dostojewskijs einer Affäre.


    Noch ein paar allgemeine Fragen, vielleicht weiss jemand dazu ja Genaueres: Im damaligen russischen Adel war eine Frau, die unverheiratet Affären hatte, eine "gefallene Frau". Galt das auch für Verlobte, noch-nicht-Verheiratete? Und für Männer? Wie verhielt es sich mit geschiedenen Ehepaaren?


    Im Voraus vielen Dank dafür, dass ihr mich aufklärt, und noch einen schönen Abend wünscht :)
    Jonas

  • Vielleicht kann ich keine ausgedehnten, fundierten Auskuenfte ueber die Gepflogenheiten der damaligen Zeit geben, doch mir fiel Folgendes zu Deinen Gedanken ein:
    Vielleicht ist es fuer unser heutiges ausgesprochen explizites Schreiben ueber S.e.x. (oder auch Gewalt) schwer verstaendlich, warum Dostojevski manches nicht klarer sagt. Ich sehe darin auch etwas durchaus Gesundes: der Leser mag seinem Verstehen entsprechend die Dinge interpretieren, es gibt einen Freiraum! Und vielleicht ist so eine Freiheit gegeben, die D. so wichtig war.
    So entsteht vielleicht jene Vielschichtigkeit seines Werkes?
    Da die meisten Romane von D. meines Wissens nach zunaechst in Zeitschriften veroeffentlicht worden sind, kann es auch sein, dass er in manchen Ausdruecken Ruecksicht nehmen musste? Unter den Zaren herrschte teils eine strenge Zensur.
    Man kann dann aber das, was heute "beim Namen" genannt wird, andeuten, umschreiben...

    Gruß, tom leo<br /><br />Lese gerade: <br />Léonid Andreïev - Le gouffre<br />Franz Kafka - Brief an den Vater<br />Ludmila Ulitzkaja - Sonjetschka

  • Hi Tom


    Danke für deine Antwort. Du hast in allem recht, ausser bei der Vielschichtigkeit von Dostojewskijs Werk, denn diese besteht natürlich aus viel mehr als nur aus Ambiguitäten. Im Gegenteil, ich halte es für unmöglich, dass Dostojewskij diese Handlungsteile wirklich zweideutig formulieren wollte - der Grund liegt wohl eher im damaligen Stil und der Macht der Zensurbehörden. Natürlich gibt es grossen Interpretationsspielraum, dieser ist aber psychischer und philosophischer Natur und betrifft die Charaktere und deren Motive (und vieles mehr), aber nicht die derart wichtige (und eigentlich banale) Frage, ob Dmitrij Karamasow von Katerina Iwanowna für die fünftausend Rubel nun Sex verlangte oder nicht.


    Bin sehr dankbar für weitere Antworten, insbesondere von Dostojewskij-Kennern.


    Gruss Jonas

  • Hallo yoopidoo,


    zum Idioten:


    Er hat sie angetastet. Ich zitiere mich selbst aus der Leserunde zu "Der Idiot":


    "Erstes Buch, Kap.IV


    Tozkij

    Zitat

    ...gestand offenherzig, er könne sein anfängliches Verhalten ihr gegenüber nicht bereuen, denn er sei ein eingefleischter Lüstling und somit nicht Herr seiner selbst,....


    Erstes Buch, Kap XVI


    Natassja zum Fürst Myschkin:


    Zitat

    Und du wirst dich nicht schämen, wenn man dir später sagt, daß deine Frau Tozkijs Mätresse war?

    "


    Liebe Grüße
    mombour

  • Moin! Gerade deshalb lese ich eigentlich tiefgründige Klassiker weil ich froh drum bin nicht im Detail oder auch Ansatzweise irgendwelche intimen Szenen oder sonstiges zu lesen...dafür gibt es doch solche NAckenbeißer(Liebesromane)...ich bin froh darum...wenn Dostojewski auf soetwas eingehen würde empfände ich ihn weniger Tiefgründig und irgendwie mit Sicherheit nicht mehr so Großartig wie er für mich durch sein Schaffen eben gerade durch den Verzicht auf solche Themen ist.


  • Moin! Gerade deshalb lese ich eigentlich tiefgründige Klassiker weil ich froh drum bin nicht im Detail oder auch Ansatzweise irgendwelche intimen Szenen oder sonstiges zu lesen...dafür gibt es doch solche NAckenbeißer(Liebesromane)...ich bin froh darum...wenn Dostojewski auf soetwas eingehen würde empfände ich ihn weniger Tiefgründig und irgendwie mit Sicherheit nicht mehr so Großartig wie er für mich durch sein Schaffen eben gerade durch den Verzicht auf solche Themen ist.


    na gut, deine Meinung.
    Meine Meinung:
    Sexszenen in Romanen kommen nicht nur in Nackenbeißern vor, sondern auch in Weltliteratur: Man lese Philip Roth, Henry Miller, Georges Bataille u.v.a. - durchaus tiefsinnig.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Erinnert mich irgendwie an Effi the Briest :breitgrins: Da rätselt doch auch alles... hatte sie was mit Crampas oder nicht? Und viele, die das Buch lesen, merken es nicht mal, dass da überhaupt etwas angedeutet wird...


    Ich muss mombour zustimmen, genauere Beschreibungen solcherlei Aktivitäten werten einen Klassiker nicht ab, im Gegenteil, der Autor muss es eben nur verstehen, das entsprechend zu beschreiben.

  • Danke für eure Antworten, insbesondere mombour.


    Klar, Dostojewskij wäre nicht Dostojewskij, wenn in seinen Romanen Sexszenen bis ins Detail beschrieben würden. Aber um das geht's hier nicht, ich fragte doch nur ob ich seine versteckten Andeutungen richtig verstanden hatte.


    Die Behauptung, dass da eine wirkliche Ambiguität vorläge, also dass Dostojewskij es bewusst im Unbestimmten lassen wollte, ob Katerina Iwanowna nun von Dmitrij Karamasow zur Hure gemacht wurde, das halte ich für komplett unmöglich. Ich bin mittlerweile ziemlich davon überzeugt, dass diese Szene nur dann Sinn macht, wenn Dmitrij seiner zukünftigen Frau das Geld ohne Gegenleistung überlässt.


    Nicht alles in einem Buch gehört zum hochgelobten Interpretationsspielraum - gewisse Dinge kann man auch wirklich falsch verstehen.


    Und, wie kommst du darauf, dass Dostojewskij auf "solche Themen" verzichtet? :)


    Liebe Grüsse
    Jonas