Marcel Beyer: Kaltenburg. Suhrkamp, 395 Seiten.
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Platz 1 der SWR-Bestenliste im April, famose Besprechungen in der FAZ, NZZ und im Deutschlandradio - das ist natürlich eine "Visitenkarte", die mich auf dieses Buch und diesen Schriftsteller neugierig gemacht hat.
Der Ich-Erzähler Hermann Funk ist genauso wie sein Lehrer Prof. Kaltenburg Ornithologe. Die Handlung beginnt mit der Kindheit des Protagonisten zur Zeit des Dritten Reiches und endet in der Moderne. Funk erzählt dabei seine persönliches Leben aus der Rückschau einer Dolmetscherin, die von ihm vogelkundliche Details wissen will. Dabei gerät man ins Plaudern und so erzählt Funk, wie er Kaltenburg als kleiner Junge kennengelernt hat. Ganz nebenbei werden Ereignisse aus der deutschen Geschichte eingebaut, so beispielsweise die Bombardierung Dresdens. Der Autor erschafft hier ganz großartige 100 Seiten mit so manchem überraschendem Knalleffekt. Auch sprachlich finde ich ihn überzeugend, er hat seinen eigenen Ton. Auch Beyers Einleitung habe ich so noch bei keinem anderen Schriftsteller gelesen.
Nur leider folgen dann noch fast 300 Seiten und das Pulver scheint verschossen. Auf Seite 300 ist man dann gelangweilt, kurz davor abzubrechen. So werden auf den Seiten 100ff. weitere Figuren eingeführt, die alle jedoch sehr blass bleiben und den Leser nicht in Empathie versetzen. Sehr viel wird über Vogelkunde geschrieben, der Autor hat seine Hausaufgaben gemacht, aber man hat das Gefühl, er wolle wie ein Streber sein gesamtes Wissen im Buch unterbringen. Das wirkt nicht locker und da haben wir wieder den angestrengt klingenden Ton der deutschen Literatur. Leider. Weniger wäre hier mehr gewesen.
Die ZEIT hat als einziges mir bekanntes Blatt dieses Werk heftig kritisiert (meines Erachtens zu heftig), wobei sie die oben angebrachte Kritik in den Mittelpunkt stellt. Nun stehen 100 sehr gute Seiten 200 recht mäßigen gegenüber.
Fast 100 Seiten hat man noch vor sich. Auf den letzten 40 Seiten gelingt es dem Autor tatsächlich wieder, eine grandiose Szenerie hervorzuzaubern, er bringt eine Proust-Leserin und eine sehr lesenswerte Interpretation seines Werkes in das Buch ein. Doch ob das einen Nicht-Proust-Kenner ebenso begeistern wird? Ich glaube es kaum, aber diese Proust-Szene ist nicht nur akademische Künstlichkeit, ein Motiv in Beyers Werk ist die Erinnerung an die Geschichte.
Der Autor hat Potential, das ganz große Werk ist ihm meines Erachtens nicht gelungen. Eine Gesamtwertung fällt schwer (halbe Punkte vergebe ich grundsätzlich nicht), bei mir fällt das Pendel zugunsten des Autors. Daher
Gruß, Thomas
EDIT
Huhu, ich habe den Betreff etwas angepasst. LG Seychella