Wibke Bruhns
Meines Vaters Land
Ullstein, 387 S.
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Wibke Bruhns ist 40 Jahre alt und eine bekannte Fernsehmoderatorin (die erste Frau, die die „heute“-Nachrichten präsentierte) und Journalistin als sie 1979 eher zufällig zum ersten Mal Filmaufnahmen ihres Vaters sieht: Hans Georg Klamroth wurde als Mitwisser des Hitlerattentats vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Wie Millionen Kinder nach dem Krieg vaterlos aufgewachsen, war der -nie bewusst erlebte- Vater für die jüngste Tochter kein Thema. Bis diese Bilder sie aufrütteln und sie beschließt: „Ich kümmere mich um dich“.
Jahrelang hat die Autorin für dieses Buch recherchiert, wobei es ihr zu Gute kam, das die Familie eine umfangreiche Erinnerungskultur gepflegt hat. Von Fotos, Briefen und Tagebüchern bis hin zu Gästebüchern, Geschenklisten und Speisekarten für Familienessen nebst den dazugehörigen Einkaufslisten ist umfangreiches Material vorhanden, wenn auch manches von der Gestapo nach der Verhaftung des Vaters beschlagnahmt wurde und wieder anderes von der Mutter aus persönlichen Gründen vernichtet wurde. Herausgekommen ist ein einzigartiges Buch, eine Mischung aus Biografie, Familiengeschichte und Geschichtsbuch.
Neugierig ohne indiskret, mitfühlend ohne sentimental zu sein, um Vorurteilsfreiheit und Distanz bemüht spürt Wibke Bruhns dem Leben ihres Vaters, den sie für sich HG nennt, nach. Es entwickelt sich das Portrait eines widerspruchsvollen Mannes. Aufgewachsen im wohlhabenden Bürgertum beendet der 1. Weltkrieg jäh sein Schullaufbahn. Körperlich weitestgehend unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt ist die Kaufmannslaufbahn familiär vorbestimmt. Nach der Heirat mit seiner ebenfalls aus dem Großbürgertum stammenden Frau Else und aufgrund der wirtschaftlichen Sicherheit durch die väterliche Firma könnte alles in geordneten Bahnen verlaufen. Doch nicht nur die politisch unruhigen Zeiten der 20er und frühen 30er Jahre verursachen Turbulenzen. Eigentlich ein brillanter Mann mit großer persönlicher Ausstrahlung und vielen Fähigkeiten führen tiefsitzende persönliche Ängste und Unsicherheiten von Hans Georg Klamroth fast zu einem Scheitern der Ehe. Beide Eltern sind zunächst begeisterte Anhänger des Nationalsozialismus. Fassungslos vermerkt die Autorin, dass die Eltern bei all den umfassenden schriftlichen Zeugnissen kein Wort über die Bücherverbrennungen verlieren, obwohl sie viele der Autoren sehr geschätzt haben, kein Wort darüber, dass die Juden immer mehr ausgegrenzt, diskriminiert und schließlich deportiert werden. Die Annäherung, an den Vater, die in vielen Bereichen gelingt, findet hier ihre Grenzen. Auch die Motive, die Hans Georg Klamroth vom Anhänger der Nazis und hohen Abwehroffizier schließlich zum Mitwisser des Hitlerattentats werden lassen, bleiben weitestgehend im Dunkeln. Um seine Familie zu schützen hat er vieles nicht schriftlich dokumentiert, manches Material wurde vernichtet.
Es muss Wibke Bruhns viel Kraft gekostet haben, dieses Buch zu schreiben. Es wird nicht nur das Leben des Vaters nacherzählt. Es ist auch die Dokumentation einer Auseinandersetzung einer Tochter mit ihren Eltern, die Geschichte einer Familie und eine anschauliche Illustration deutscher Geschichte vom Kaiserreich bis zum Ende des 2. Weltkriegs.
Ich habe sehr lange an dem Buch gelesen, weil ich es immer wieder weglegen und dem gelesenen nach-denken und nach-spüren musste. Mein bestes Leseerlebnis bislang in diesem Jahr.
Viele Grüße
christie