[Westsahara] Diego – L'an prochain à Smara

  • ISBN: 978-2-296-027749


    Der Rückentext des schmalen Bändchens spricht nicht von einem Diego, sondern von einem Aziz, der vor den marokkanischen Truppen aus der Westsahara nach Algerien geflüchtet sei, und dort 30 Jahre nach seiner Flucht diese Gedichte verfaßt habe, eins für jedes Jahr.


    Zunächst noch einmal, weil es im Lesenacht-Thread irgendwann untergeht, zum politischen Hintergrund dieser Gedichte und dem thematisierten Konflikt: Die Westsahara war spanische Kolonie, aber die Spanier haben sich 1976 zurückgezogen und die Verwaltung teils Mauretanien und teils Marokko übertragen. Die Unabhängigkeitsbewegung und Befreiungsorganisation Frente Polisario schaffte es sehr schnell, Mauretanien zum Rückzug zu zwingen, Marokko hat inzwischen aber fast das gesamte Gebiet besetzt, mit eigenen Siedlern überflutet und beutet vor allem die umfangreichen Phosphatvorkommen aus. Dabei beruft es sich auf ein historisches Groß-Marokko, ein Anspruch, den der Internationale Gerichtshof in Den Haag schon 1979 zurückgewiesen hat.


    Seit 1988 versucht die UN mit der Friedensmission MINURSO die Stimmberechtigten für ein Referendum über die Unabhängigkeit festzustellen. Basis waren dabei zunächst die Unterlagen der letzten Volkszählung unter spanischer Regie. Da die Marokkaner dieses Referendum aber auf keinen Fall verlieren wollen (sich mittlerweile aber auch Sorgen machen müssen, daß die eigenen Leute für die Unabhängigkeit stimmen könnten) und die Sahraouis die Feststellungen regelmäßig anzweifeln (zumal es bekanntermaßen zu „Identitätstransfers“ gekommen ist, d. h. Marokko hat eigene Siedler unter den Namen verstorbener Sahraouis bei MINURSO registrieren lassen), geht es dort seit Jahren nicht vorwärts. Die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien sind wegen der algerischen Unterstützung für die sahraouischen Flüchtlinge belastet. Ein vergessener Konflikt, den die sog. „internationale Gemeinschaft“ lösen könnte, wenn sie wollte, und wenn sie ihre eigenen Grundsätze, wie sie in der UN-Charta mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker niedergelegt sind, ernst nähme ... Smara ist übrigens die drittgrößte Stadt in der Westsahara, im Norden des Landes gelegen.



    Den Gedichten merkt man diesen Kontext naturgemäß an. Ein- oder zweimal bekamen auch noch die Spanier ihr Fett ab, einmal auch die Franzosen, aber im wesentlichen ist es eine Auseinanderetzung mit Marokko, die – auch das wenig überraschend – recht einseitig ausfällt. Die Marokkaner erscheinen als Invasoren, die jeden, der nicht schnell genug wegläuft, in Gefängnisse werfen oder umbringen, während die Sahraouis nichts tun, als sich dagegen zu wehren. Das ist sicher ein bißchen arg schwarz-weiß gemalt, im Gegensatz zu anderen Konflikten aber vermutlich trotzdem näher an der Wahrheit als man glauben würde. Die Frente Polisario hat nämlich tatsächlich immer sehr darauf geachtet, nur Polizei- und Militäreinheiten zum Ziel zu machen und keine Zivilisten, und das auch einigermaßen erfolgreich, wohingegen Marokko weniger zimperlich war. Trotzdem wird hier in einem Ausmaß Gewalt als Antwort auf Gewalt gerechtfertigt, das mich schlucken ließ.


    Der Autor vergleicht die Lage der Sahraouis mehrfach mit der der Palästinenser, womit er Marokko in einer bestimmten (und angesichts dessen, daß hier zwei islamische Völker gegeneinander kämpfen, ausgesprochen symbolträchtigen) Weise positioniert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Gedichte in Marokko Begeisterungsstürme auslösen würden, wenn sie dort überhaupt bekannt und/oder erhältlich sind.


    Das alles wäre selbst über nur 30 Gedichte hinweg einigermaßen eintönig und langweilig geworden, wenn es nicht diese anderen Zeilen gegeben hätte. Jene, in denen die verlorene Heimat in all ihrer Schönheit beschworen wird, aus denen eine unglaublich tiefe Liebe zu dem Land spricht, und die Hoffnung, eines Tages in einer freien Westsahara nach eigenem Recht und mit der ganzen Familie und den Freunden sicher leben zu können – der alte Traum einer Diaspora-Gemeinschaft: Aus Nächstes Jahr in Jerusalem wird hier eben L'an prochain à Smara.


    3ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen

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