Herta Müller - Atemschaukel

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    Herta Müller - Atemschaukel


    Rumänien 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Bevölkerung lebt in Angst. "Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15° C." So beginnt ein junger Mann den Bericht über seine Deportation in ein Lager nach Russland. Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. In Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin in einer zutiefst individuellen Geschichte sichtbar zu machen.




    Wahrscheinlich wäre ich durch das eine oder andere Feuilleton früher oder später auf diese Autorin bzw. speziell auf dieses Werk gestoßen, gelesen hätte ich es aber wohl ohne den Nobelpreis in Literatur für Herta Müller bisher nicht, da ich zumeist den Kauf von HCs meide - so konnte ich jedoch am Tag der Bekanntgabe meine Mutter überreden, mir das jährliche Finanzkontingent in Sachen Literaturnobelpreis zur Verfügung zu stellen, was ich dann u. a. in die HC-Ausgabe von Atemschaukel und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet investiert habe.



    Meine Eindrücke:


    Durchgelesen hab ich das Buch, und das ist bzw. war für mich zunächst das Erstaunlichste an diesem Werk, innerhalb von drei Tagen - sowohl aufgrund von Pressestimmen, die davon sprachen, dass, wer es schaffe, dieses Buch zu lesen, es nie vergessen werde und auch aufgrund eines ersten Leseversuches einige Tage zuvor, bei dem ich irgendwie keinen Weg zum Buch fand, befürchtete ich bereits, ein irgendwie ins Metaphysische oder Transzendentale abdriftende Werk, welches, gespickt von unzugänglichen Metaphern und Symbolen und eben einem quasi durch die ganze Handlung mäandernden sprachlichen Ton, der nie wirklich greifbar und somit letztenendes, dem Hintergrund des Buches ganz und gar nicht entsprechend, nicht berührend sein würde.


    Ganz lakonisch ausgedrückt, lag ich mit dieser übereilten Befürchtung falsch. Auch wurde mir alsbald klar, dass die Pressestimme, die das Lesen bzw. Durchlesen dieses Romans explizit als Herausforderung oder Leistung deklariert hatte, sich nicht aufs Sprachliche bzw. die Grammatik, die Syntax oder sonstiges bezog.


    Blieb also nur noch die ohnehin naheliegendere Vermutung, dass die im Buch beschriebenen Zustände, Begebenheiten und Schrecken sich als Steine auf dem Weg zum hinteren Buchdeckel erweisen würden. Was dann auch deutlich eher zutraf, wobei das nicht als Manko, ganz im Gegenteil, des Buches verstanden werden darf.


    Und obwohl natürlich der Aspekt des Enthüllenden, Herausstellenden und Missstände sowie Taten vergangener Verbrecher Anprangernden bei jedem Autor/jeder Autorin, deren Oeuvre sich mit Diktaturen bzw. politischer Verfolgung beschäftigt, nicht fehlt, liegt hier keineswegs ein, aus der Vogelperspektive versuchtes, generelles Pamphlet, adressiert an eben erwähnte, vor - vielmehr beschränkt sich dieser Aspekt bei Herta Müller, wie ich finde, auf die öffentliche Aufmerksamkeit, die Verleihung von Preisen etwa, in ihren Werken, zumindest in der Atemschaukel, findet man hingegen ein aus Froschperspektive verfasstes, empathisches und detailliertes Zeugnis eines Einzelnen, einer Lebensgeschichte, eines Lagerlebens, einer Schuldzuweisung - das des Oskar Pastior in Form des Leopold Auberg, der mit 17 Jahren in ein ukrainisches Arbeitslager interniert wird und mit 22 Jahren wieder frei kommt.


    Die Schrecken dieser Zeit sind im Buch vor allem der omnipräsente Hunger, die desaströse zu verrichtende Arbeit und auch einzelne, wohl in vielen Lagern passierten, Vorfälle, etwa eine Eskalation der Gewalt und Demütigung eines Mitinsassen, der diese deshalb verdiente oder zumindest auf sich zog, weil er als Teil eines von einer übergeordneten Macht, die sich natürlich eigenständig übergeordnet hat, den Russen also, bereits unterdrückten Kollektivs seine individuellen Bedürfnisse, das Essen, bei einer Gelegenheit noch dem gemeinsamen Überleben, den sozialen Konventionen, die in solch einem Lager wohl von besonderer Art und Bedeutung sind, und schlicht der Gerechtigkeit übergeordnet hat und einem Mitinsassen tagelang aufgespartes Essen gestohlen hat.


    Um wirklich nichts vorwegzunehmen und jeden, der das Buch lesen möchte, nicht der, meiner Meinung nach, umwerfenden Erfahrung berauben will, die Metaphorik und Symbolik dieses Romans selbst zu erleben, will ich jetzt, z. B. bezüglich der Schilderung des täglichen, nie zu besiegenden und auch lange, lange nach dem Lagerleben noch omnipräsenten und -potenten Hungers, keine solchen wiedergeben, zu diesem Beispiel sei lediglich gesagt, dass der Hunger wirklich durchgehend auf eine so sprachlich eigentlich banale, aber doch profunde und bildreiche Weise geschildert hat, dass man das Gefühl hat, diese Lage in der möglichen Authentizität vorgeführt zu bekommen und gleichzeitig meint, die Autorin wisse wie der Leser ebenfalls, dass letzterer nicht glauben müsse, das Ganze wirklich nachvollziehen zu können.


    Gefühle und Situationen, die der Leser mehrheitlich also nie oder zumindest nie in entsprechender Intensität erlebt hat, so zu schildern, dass er dennoch ein Gefühl dafür zu erlangen vermag und gleichzeitig nie auch nur annähernd ins Pathetische, Theatralische abzurutschen oder zwanghaft hyperbolisch zu formulieren ist somit sicherlich eine der Stärken Herta Müllers.


    Auch in sonstiger Hinsicht weiss die Metaphorik der Autorin stets zu überzeugen, zu ergreifen und nachvollziehbar zu machen, was man ansonsten mit so vielen Worten doch nicht zu erklären vermöchte.


    Insgesamt also jedenfalls keineswegs ein einfach nur herunterziehender, depressiv machender Lage(r)bericht dieser Schrecken des 20. Jahrhunderts, sondern eine nach allem doch erstaunlich leicht zu lesende, inhaltliche Zentnerlast von einem Roman, der einem, wie in der Literatur doch wünschenswert, das Gefühl hinterlässt, in Bereiche der meschlichen Existenz, der politischen und gesellschaftlichen Umstände und auch der psychischen Stärke vorgedrungen zu sein, die man - in diesem Falle natürlich glücklicherweise - reell nicht miterlebt hat.

    Einmal editiert, zuletzt von Hildegunst ()

  • dass der Hunger wirklich durchgehend auf eine so sprachlich eigentlich banale, aber doch profunde und bildreiche Weise geschildert hat, dass man das Gefühl hat, diese Lage in der möglichen Authentizität vorgeführt zu bekommen und gleichzeitig meint, die Autorin wisse wie der Leser ebenfalls, dass letzterer nicht glauben müsse, das Ganze wirklich nachvollziehen zu können.


    Gefühle und Situationen, die der Leser mehrheitlich also nie oder zumindest nie in entsprechender Intensität erlebt hat, so zu schildern, dass er dennoch ein Gefühl dafür zu erlangen vermag und gleichzeitig nie auch nur annähernd ins Pathetische, Theatralische abzurutschen oder zwanghaft hyperbolisch zu formulieren ist somit sicherlich eine der Stärken Herta Müllers.


    Auch in sonstiger Hinsicht weiss die Metaphorik der Autorin stets zu überzeugen, zu ergreifen und nachvollziehbar zu machen, was man ansonsten mit so vielen Worten doch nicht zu erklären vermöchte.


    Ich denke, das ist auch die Essenz, wie ich Herta Müller kenne. Souverän mit Bildern und Metaphern umgehen. Einfache Worte treffsicher einsetzen, ohne banal zu wirken.


    Das Buch ist auf jedenfall was für mich.


    Herzlichen Dank für die Rezension.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Ich habe dieses Buch vor einigen Wochen gelesen und dies, wider meinen Erwartungen, innerhalb von sehr kurzer Zeit. Aufgrund der vielen Stimmen, welche die Lektüre als eher schwer zu lesen bezeichneten, bin ich davon ausgegangen, dass ich mit dem Buch meine Mühe haben werde. Jedoch war das Gegenteil der Fall. Bisher habe ich kaum ein Buch gelesen, welches Erfahrungen, die ich persönlich (zum Glück) nicht gemacht habe, so klar und eindrücklich schildert. Die Sprache von Herta Müller ist ungewöhnlich und zu Beginn gewöhnungsbedürftig, aber ausserordentlich treffend. Die zum Teil sehr kurzen Kapitel ermöglichen einen, immer wieder kurze Pausen einzulegen, ohne den Faden zu verlieren. Das Buch hat mich sehr berührt und tief beeindruckt. Ich kann nur jedem empfehlen es zu lesen, allein wegen der besonderen Sprache, die ein Kunstwerk für sich ist!


    5ratten

    :leserin: <br />Joyce Carol Oates - Du fehlst

  • Aufgrund der Rezi von Meli kaufe ich mir diesen Titel jetzt endlich. Muss ohnehin noch mein Büchergilde-Kauf in diesem Quartal tätigen.


    Gruß, Thomas

  • Thomas
    Das freut mich aber! Ich wünsche dir eindrucksvolle Lesestunden und hoffe du bereust den Kauf genauso wenig wie ich.

    :leserin: <br />Joyce Carol Oates - Du fehlst

  • Da es explizit angefordert wurde, hier kurz meine Meinung zu Atemschaukel:


    Auch ich finde dieses Buch lesenswert. Es war das erste Buch, das ich von Herta Müller gelesen habe. Ihre Sprache war also neu für mich und beeindruckend. In dieser stark bildhaften Sprache hat sie eine ganz eigene Variante, sich dem Thema Zwangslager und Zwangsarbeit zu nähern. Allerdings weiß ich zuwenig, um trennen zu können, was hiervon Oskar Pastiors Wahrnehmung ist und was Herta Müllers.


    Erstaunlicherweise hat auch mich dieses Buch nicht, wie ich angesichts des Themas erwartet habe, zutiefst deprimiert. Es ist sehr gut lesbar. Man kann sich an der Sprache und den Bildern regelrecht festhalten und durch die Kapitel hangeln.


    In der veränderten Wahrnehmung von Zuständen und Geschehnissen, die aus dem Realen ins Irreale abdriftet, und den Personifizierungen bestimmter Dinge (des Hungers usw.) erkenne ich einen Mechanismus wieder, der unerträglichen Realität in solch einer Zwangslage durch "Macken" und bestimmte Rituale zu begegnen und auf diese Weise eine Distanz aufzubauen, die das Überleben erst möglich macht. Zwar sind meine eigenen Erfahrungen keinesfalls vergleichbar mit einem Zwangsarbeitslager, aber in Situationen denen ich nicht entkommen konnte, habe ich in Ansätzen schon genau dieselben Mechanismen erlebt. Dann entsteht auch eine ganz eigene Gruppendynamik.

    Allerdings entsteht bei mir der Eindruck, Herta Müller hat sich mit diesem Buch dem Thema Zwangslager nicht ganz genähert. Es bleibt immer noch eine Distanz und ein Gefühl, an bestimmte Dinge nicht rühren zu wollen - was verständlich wird, wenn man weiß, daß Herta Müllers Mutter selbst etliche Jahre in solch einem Lager verbracht hat, dies (bzw. dessen Vermeidung) also ganz sicher ein wesentliches Familienthema ist.


    Gut finde ich, daß das Buch nicht mit der Heimkehr Leopold Aubergs aus dem Lager endet. Es wird sehr nachvollziehbar beschrieben, wie die Lagerinsassen praktisch nie wieder in ihrem vorherigen Leben, oder überhaupt in einem normalen Leben ankommen.


    Kritikpunkte meinerseits: Insgesamt war mir das Buch etwas zu episodisch und unzusammenhängend, einiges wiederholte sich zu oft, und angesichts dessen, daß das Buch von einer Nobelpreisträgerin geschrieben wurde, hat es mich doch ein klein wenig enttäuscht: irgendwie erwartet man da doch etwas Bedeutenderes, etwas mehr Tiefe...


    Daher meine Wertung:


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Grüße, kaluma

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

  • Ich habe das Werk von Herta Müller sowohl als Buch als auch als Hörbuch erhalten und habe es nun erst einmal « gehört » durch die Stimme von Ulrich Matthes. Und bin ziemlich beeindruckt. Man kann sich fragen, ob der Sprachstil dem Thema angemessen ist. Ich nahm beim Hören natürlich nicht solche Fragen wie Orthographie wahr und war trotz der Komplexität des Buches beeindruckt von der Sprache UND dem Inhalt. Mag sein, dass diese Art künstlerischer oder gar gekünstelter wirkender Sprache die Distanz aufkommen lassen will, die jemand manchmal aufbaut, der Schreckliches erlebt hat? Mag auch sein, dass beim Ich-Erzähler etwas definitiv gebrochen ist, so dass auch fehlende Satzzeichen, gewisse sprachliche Distanzierungen sozusagen das Erlebte spiegeln.


    Aber es stimmt, dass es etwas Verwirrendes an sich hat (haben kann), wenn man in solch künstlerisch ausgefeilten Sprache über solch ein raues, rohes Thema spricht...?!


    Auf jeden Fall beschreibt Müllers Sprache manche Einzelheiten grauenvoll gut: Man hat Gerüche in der Nase, sieht Bilder vor sich. Die „Schönheit“ der Sprache versteckt diese Grausamkeiten ja nicht. Einige Grundthemen, wie vor allem der Hunger und die damit verwandten Themen des Brotes, des Klaus etc. werden so präzise, kreisend geschildert, dass man sich in das Leben eines Häftlings hineinversetzen kann. Das gilt ebenso für Passagen über die Arbeit, das Neben- und Miteinanderleben...
    Beim Hören fragte ich mich manchmal: Woher weiß die Frau Müller das? Das ist ja unglaublich prägnant! Dann verstand ich durch Kommentare besser, dass sie also im direkten Kontakt mit Betroffenen stand. Das erkennt man mit diesem Wissen dann sofort.


    Das Leben „danach“ wird geprägt vom Lager: man kann es nicht einfach abschütteln und hinter sich lassen. Der Ich-Erzähler schleppt Manches mit sich herum. Insofern gehören das Davor und Danach zum Lager selbst...


    Ich habe einige Bücher der so genannten „Lagerliteratur“ verschiedenster Totalitarismen gelesen. Dieses reiht sich – auf seine Art – doch da hinein.


    Später werde ich mir das Werk dann auch lesend gönnen. Und vielleicht die ein oder anderen Einzelheiten noch besser einordnen können.


    Eine ausdrückliche Empfehlung für den „vorgewarnten“ Leser.

    Gruß, tom leo<br /><br />Lese gerade: <br />Léonid Andreïev - Le gouffre<br />Franz Kafka - Brief an den Vater<br />Ludmila Ulitzkaja - Sonjetschka

  • Ich habe vorhin eher spontan zu Atemschaukel von Herta Müller gegriffen, zum einen weil ich seit ein paar Tagen ständig ein neues Buch anfange, aber auch weil es mich in dem Moment als ich es im Regal gesehen habe gereizt hat. Spontane Leseentscheidungen sind ja oft die besten - finde ich ;)


    Ich bin von dieser ganz eigenen Poetik die der Roman hier entwickelt sehr angetan und da ich diese besondere Melancholie darin mag gefällt es mir bisher auch. Es liest sich erstaunlich gut, zu Mal ich von allen Seiten immer nur zu hören bekam wie schwer Lesbar Herta Müller sei. Aber vielleicht bildet "Atemschaukel" da ja auch eine Ausnahme. Von der Thematik her finde ich es schon sehr schwierig weil es zwar ein Lager beschreibt aber eben kein KZ der Nationalsozialisten sondern sich eben bewusst einem Lager der Sowjetunion widmet. Aus historischer Sicht also auch eine literarische Aufarbeitung die meiner Meinung nach genauso wichtig ist.