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Inhalt: Azaro ist ein abiku, ein Geisterkind. Ein abiku wird seinen menschlichen Eltern geboren, stirbt aber früh, nur um den gleichen Eltern immer wieder geboren zu werden. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, werden diese Kinder, wenn sie von ihren Eltern als abiku erkannt werden, oft nach ihrem Tod durch Schnitte gekennzeichnet, die sich als narbenähnliche Zeichen bei der Wiedergeburt zeigen. Ein Geisterkind kann aber auch beschließen oder durch Gewöhnung nach mehreren Geburten dazu gebracht werden, in der Menschenwelt zu bleiben. Die Verbindungen zur Geisterwelt bleiben aber bestehen, und so lebt auch Azaro nicht nur in der nicht näher bezeichneten, aber offensichtlich nigerianischen Stadt, kurz vor der Unabhängigkeit des Landes, sondern er lebt genauso in der Geisterwelt, in die seine dortigen Spielkameraden ihn zurücklocken wollen.
Azaros Eltern sind arme Leute, der Vater arbeitet als Lastenträger, die Mutter betätigt sich als Kleinhändlerin, aber die Verdienste reichen kaum zum Leben und Zeremonien wie jene nach Azaros Gesundung, nachdem er schon für tot gehalten wurde, drohen die Familie zu ruinieren. In einem steten Wechsel zwischen den kleinen Ereignissen des Viertels und den großen der Politik, die sich dort bemerkbar machen sowie den Eingriffen der Geisterwelt in Azaros Leben spielt sich die Erzählung ab. In der realen Welt werfen die politischen Veränderungen ihre Schatten voraus: Parteien ziehen durch das Viertel, machen Wahlversprechen und verteilen Geschenke, aber das Milchpulver z. B. ist verdorben und das Viertel wird von einer kollektiven Erkrankung heimgesucht. Madama Koto ist wie alle anderen daran interessiert, ihr Leben komfortabler zu gestalten und nutzt dafür ihre Bar, in der schon bald politische Versammlungen abgehalten werden. Die Geisterwelt dagegen entsendet zunehmend mächtigere Geschöpfe, um Azaro zurückzuholen, und Azaro erkennt diese Sendboten nicht nur in manchen Besuchern der Bar, sondern auch in Gegnern seines Vaters beim Boxkampf. Schließlich versucht sich der Vater auch noch als Politiker, aber außer einem Haufen Bettler zieht er niemanden an.
Meine Meinung: Der Roman hat trotz seines beträchtlichen Umfangs kaum nacherzählbare Handlung. Vielmehr oszilliert er zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsebenen Azaros, dessen Perspektive, da er der Ich-Erzähler ist, konsequent beibehalten wird. Man könnte versucht sein, etliche seine Wahrnehmungen als Halluzinationen abzutun oder sie darauf zu schieben, daß er – obwohl noch ein Kind – zuviel Palmwein in Madama Kotos Bar bekommt, aber das trägt nicht durch den ganzen Roman und würde Okris Ansatz auch nicht gerecht. Man muß sich auf das Konzept der Geisterkinder schon einlassen, um zwischen den mythischen, folkoristischen, spirituellen und ähnlichen Elementen einen roten Faden auszumachen. Fixpunkte, zu denen Azaro immer wieder zurückkehrt, bilden einige wenige Örtlichkeiten, neben der elterlichen Wohnung ist das vor allem Madame Kotos Bar, sowie einige „Dinge“, das sind nicht unbedingt und ausschließlich Gegenstände des täglichen Lebens, sondern auch Madame Kotos Pfefferschotensuppe und die Besuche des Photographen, der von der Regierung wegen seiner Bilder und dem, was darauf festgehalten ist, nicht gerade geschätzt wird.
Der gesamte Grundton der Erzählung ist ziemlich düster gehalten und damit dem realen Lebensumfeld der Familie durchaus angemessen. Zwar gibt es immer wieder auch humorvolle Szenen, aber sie fallen gerade wegen ihrer Singularität besonders auf. Dafür bekommt man ein wunderbares Spektrum an Personen dieses Slums präsentiert, die sehr verschiedene Strategien haben, sich in ihrem Leben einzurichten und nach Verbesserungen zu streben. Azaros Blick auf diese Menschen, geprägt von seiner eigenen Geistererfahrung, ist dabei durchaus eigenwillig zu nennen. Die Struktur der Erzählung selbst ist zyklisch angelegt, sie verläuft in immer weiter werdenden Kreisen und mit immer gruseliger werdenden Dämonen aus der Geisterwelt, die Azaro „überzeugen“ wollen. Diese Erzählform ist sicher für viele eher ungewohnt und erleichtert den Zugang vermutlich nicht gerade, daher würde ich den Roman – trotz der Auszeichnung mit dem Booker Prize 1991 – auch nicht als Einstieg in die Welt der afrikanischen Literatur empfehlen. Es kommt vermutlich auch nicht von ungefähr, daß die Folgebände um Azaro (Songs of Enchantment und Infinite Riches) gar nicht mehr ins Deutsche übersetzt wurden.
Schönen Gruß,
Aldawen