Sten Nadolny - Weitlings Sommerfrische

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    Inhalt
    Richter Weitling (in Pension) ist bereits im Sommerhäuschen am Chiemsee angekommen, an diesem Tag soll seine Frau folgen. Bevor sie kommt, entschließt sich Weitling dazu, mit seinem kleinen Boot eine Runde zu segeln. Doch das Wetter schlägt um und Weitling kentert.
    Wenige Sekunden später kommt er wieder zu sich ... jedoch fünfzig Jahre früher und an der Seite seines jüngeren Ichs, welches er von nun an als unsichtbarer Geist begleitet. Doch zwischen all den alltäglichen Handlungen fallen ihm schon bald kleine Veränderungen auf: trügt ihn seine Erinnerung oder verläuft sein Leben diesmal anders?


    Meine Meinung
    Ich habe das Buch hauptsächlich gelesen, weil es auf der Longlist für den deutschen Buchpreis steht und ich habe es nicht bereut. Obwohl relativ wenig passiert, hat mich das Buch durch seine Sprache und die Beschreibungen sofort gefangen genommen. Eigentlich bin ich eher ein Freund von Handlungen, in denen es hoch hergeht, aber Nadolnys Werk habe ich richtig genossen.


    Da Weitling in seinem Geisterdasein meist als stille Beobachter fungiert, ist die Handlung nicht actiongeladen. Im Gegenteil: Man begleitet Weitling in seinen Gedanken, man spürt seine Ängste und seine (rar gesäte) Freude. Er hat Angst davor, dass sein jüngeres Ich sich für einen anderen Weg entscheidet und er seine Frau nie wieder sieht. Ich konnte Weitlings Gefühle sehr gut nachempfinden und Nadolny schafft das mit seinem klaren, direkten Schreibstil.


    Amüsiert habe ich mich über Weitlings Kritik an seiner Jugendform: er ist faul, zu übermütig und unbedacht und mit Frauen kann er gar nicht umgehen. Ich glaube, wenn ich mein jüngeres Ich sehen würde, würde ich mir auch die Haare raufen. :breitgrins:


    Weitling denkt sehr viel nach und dringt dabei fast zwangsläufig in philosophische Gefilde vor. Schwer verständlich sind diese Gedanken zu keiner Zeit. Sie beschäftigen sich immer mit Weitlings aktueller Situation (z.B. inwiefern das eigene Leben durch den eigenen Willen geformt wird oder ob doch mehr der Zufall seine Finger im Spiel hat) und laden so zum eigenen Nachdenken ein.


    Ich bin sehr begeistert von diesem Buch und würde Nadolny den Buchpreis wirklich gönnen. Morgen wird ja die Shortlist bekannt gegeben ... mal schauen, ob er da noch dabei ist.
    5ratten

    "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." (Jean Paul)

    Einmal editiert, zuletzt von mondy ()

  • Danke für die Rezi, ich schleiche nämlich schon länger um das Buch herum, und die Kauflust ist jetzt beträchtlich gestiegen nach deiner guten Bewertung.


    Wie siehts denn mit dem Lokalkolorit aus, mondy? Spielt der Chiemsee nur eine beiläufige Rolle oder doch mehr?

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Schade, das Buch hat es leider nicht auf die Shortlist geschafft. :sauer:


    Miramis:
    Der Chiemsee spielt meiner Meinung nach schon eine größere Rolle. Das Leben an seinem Ufer, der Umgang mit seiner Unberechenbarkeit und das Segeln werden immer wieder aufgegriffen. Auch das bayerische Familienleben kommt zur Geltung ... obwohl ich da nicht wirklich sagen kann, ob ich das einfach nur so deutlich erkannt habe, weil ich selbst in Bayern (und mit dessen Geschichte und "Charakteren") aufgewachsen bin. :winken:

    "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." (Jean Paul)

  • Moin, Moin!


    Ich habe das Buch sehr genossen. Dem Thema Zeitreise bin ich sowieso verfallen. Nadolny schafft es, seiner Geschichte so einen Hauch Realismus zu verleihen, daß man sich am Ende wundern würde, wenn man im Altern nicht auch Besuch bekommen würde.

  • Es hat zwar ein bisschen gedauert, aber nun hab ich das Buch auch gelesen - und zwar direkt vor Ort, in Chieming am Chiemsee. Ich denke, es liegt auf der Hand, dass eine Lektüre um so mehr wirkt, wenn man die Schauplätze des Buches direkt vor der Nase hat und beim Blick über den Buchrand hinaus genau das sieht, was der Autor gerade beschreibt. So ging es mir mit "Weitlings Sommerfrische" und insofern hatte der Roman von vornherein gute Karten. Ich genoss es sehr, die Beschreibung des Sees und der Uferlinie auf mich wirken zu lassen und kann bestätigen, dass Herr Nadolny sich hier wirklich sehr gut auskennt, schließlich wohnt er in Chieming.


    Das ist aber noch nicht alles an Gemeinsamkeiten zwischen ihm und seinem Protagonisten Weitling. Wenn ich auch anfangs dachte, der pensionierte Richter Weitling wäre eine gute Maskerade, um nicht all zu auffällig an den Schriftsteller Nadolny zu erinnern, so musste ich spätestens am Ende meine Meinung korrigieren. Für mich hat das Buch einen extrem autobiographischen Charakter und ich gehe sogar soweit, dass Nadolny hier seine Autobiographie auf raffinierteste Art und Weise verkappt vorgelegt hat. Sehr genial gemacht!


    Wer das Buch zur Hand nimmt, darf sich auf eine Zeitreise der besonderen Art einlassen. Keinesfalls eine Zeitreise, wie sie in der Science-Fiction-Literatur oder in der Fantasy vorkommen würde; nein, eher so eine Reise ins eigene Ich; ein Beleuchten der Jugendzeit, allerdings mit dem Wissen des Alters. Zweifel an der eigenen Erinnerung kommen auf - war das so? Oder war es anders? Und warum fehlt die Narbe an der linken Hand? Sehr schnell wird klar, dass sich Weitlings Lebenslinie während seiner "Sommerfrische" - das ist sein Begriff für diese Zeitreise in die eigene Vergangenheit - verändert. Und was kommt heraus, wenn ein pensionierter Richter sich auf Sommerfrische begibt und nach langem Ringen wieder zurück in sein nun verändertes Leben schlüpt? Richtig -

    Meine Lieblingsszene ist die, als Weitling sich nach seiner Rückkehr plötzlich einer anderen, ihm völlig unbekannten Frau Weitling gegenüber sieht - was es damit auf sich hat - lest am besten selbst.


    Mir hat diese Art der intelligenten Unterhaltung jedenfalls sehr gut gefallen, ich habe das Buch am Originalschauplatz gelesen und am Ende höchst zufrieden zugeklappt, mit ein paar wirklich interessanten Denkanstößen zum Diskutieren und gedanklichen Weiterspinnen - was kann ein Buch noch besseres bieten?


    5ratten

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Die zweite 5-Ratten Bewertung und die schöne Rezension hat das Buch etwas weiter nach oben auf den Stapel der zu lesenden Bücher geschubbst.
    Ich kenne von Nadolny nur "Die Entdeckung der Langsamkeit" und dieses Buch hat mich sehr beeindruckt.