5 - Die Gefangene

Es gibt 34 Antworten in diesem Thema, welches 8.777 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Doris.

  • Ich bin jetzt auch an der Stelle angelangt, an der Marcel mit Brichot und Charlus bei den Verdurins eintrifft.


    Bergottes Tod wurde erwähnt, aber Marcel scheint dem einst so vergötterten Schriftsteller tatsächlich jetzt sehr gleichgültig gegenüberzustehen. Wichtig ist ihm in diesem Zusammenhang ja nur, dass er Albertine wieder einmal bei einer Lüge erwischt.
    Swanns Tod hat ihn wohl härter getroffen, zumindest hat ihn die Nachricht davon "zu seiner Zeit sehr aus dem Gleichgewicht gebracht".


    Die Beziehung zwischen Marcel und Albertine ist mir immer noch ein Rätsel. Kann man auf jemanden so rasend eifersüchtig sein, den man nicht liebt? Und dann denkt Marcel aber wieder daran, sich von Albertine zu trennen, weil er wegen ihr auf so manches (Reise nach Venedig, Kennenlernen anderer Frauen/Mädchen) verzichten muss.


    Auf die Dauer kann das nicht gut gehen.


    Das sehe ich genauso!


    Ich muss gestehen, dass ich mich im Moment etwas schwer mit Proust tue. Ich fand die vorherigen Bände frischer und nicht so schwerfällig. Kann aber auch sein dass dieser Eindruck an meiner eigenen, sonnenlosen Stimmung liegt :rollen:

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  • Die Beziehung zwischen Marcel und Albertine ist mir immer noch ein Rätsel. Kann man auf jemanden so rasend eifersüchtig sein, den man nicht liebt? Und dann denkt Marcel aber wieder daran, sich von Albertine zu trennen, weil er wegen ihr auf so manches (Reise nach Venedig, Kennenlernen anderer Frauen/Mädchen) verzichten muss.


    Damit sperrt er sich eigentlich selbst genauso ein wie Albertine. Da Prousts Chauffeur und Sekretär Agostinelli als Vorbild für Albertine zu sehen ist, kann man deshalb Parallelen aus dem Roman zu Prousts Leben ziehen. Proust wusste genau, welche Gefühle er seinem Erzähler durchleben lässt, was noch im Rahmen des Wahrscheinlichen ist, auch wenn es uns rätselhaft erscheint.



    Ich muss gestehen, dass ich mich im Moment etwas schwer mit Proust tue. Ich fand die vorherigen Bände frischer und nicht so schwerfällig. Kann aber auch sein dass dieser Eindruck an meiner eigenen, sonnenlosen Stimmung liegt :rollen:


    Nicht verzweifeln, der nächste Lichtblick steht unmittelbar bevor, wir kommen nämlich in den Genuss eines weiteren Stückes von Vinteuil. Ähnlich wie in den anderen Bänden, als seine Musik beschrieben wurde, wird die Schilderung der Darbietung sehr intensiv. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand ein Musikstück so beschreiben kann, das es richtig plastisch wird. Marcel spürt es förmlich mit jeder Faser seines Körpers und seiner Seele. Ich weiß gar nicht, ob es diesen Vinteuil wirklich gegeben hat, oder falls nicht, wer sein reales Vorbild war.


    Charlus ist auch wieder unübersehbar mitten im Geschehen. Eigentlich ziemlich dreist, noch andere Gäste zu der Einladung bei Madame Verdurin mitzubringen, die noch nicht einmal den Anstand haben, sich bei ihr zu bedanken. Charlus erscheint mir viel offenherziger als in den früheren Bänden. Heutzutage würde man sagen, er lässt seine schwule Veranlagung so richtig raushängen.


  • Ich weiß gar nicht, ob es diesen Vinteuil wirklich gegeben hat, oder falls nicht, wer sein reales Vorbild war.


    Nein, es hat ihn nicht gegeben. Ich zitiere mal einen Beitrag von mir aus dem Klassikerforum:


    ***


    Hallo,


    ich habe nun mal ein wenig recherchiert.


    Benutzte Literatur:
    1. Michel-Thiriet: Das Marcel Proust Lexikon (abgekürzt: MPL)
    2. Keller: Marcel Proust Enzyklopädie (abgekürzt: MPE)


    1. Sonate von Vinteuil


    1.1. Proust hat gegenüber Bibesco folgende Vorlagen benannt (MPL S. 371):
    a) Vorspiel 1. Akt Lohengrin von Wagner
    b) Ballade von Fauré (für Klavier und Orchester, op. 19)


    1.2. Proust hat in einer Widmung folgende Vorlagen benannt (MPL S. 371, MPE S. 808f):
    a) Sonate für Violine und Klavier von Saint-Saens
    b) Karfreitagszauber
    c) Sonate von Franck
    d) Vorspiel zu Lohengrin
    e) etwas von Schubert
    f) Klavierstück von Fauré


    2. Septett


    Hier spielt Franck eine große Rolle. Zunächst hier eine Auflistung wichtiger Stücke zur leichteren Identifizierung:


    - Klavierquintett 1878/79
    - Sinfonische Variation 1895
    - Geigensonate 1886 (von Proust am 19.03.1913 gehört)
    - Sinfonie in d-moll 1886/87
    - Streichquartett 1890 (wurde Proust zu Hause vorgespielt)


    2.1 Proust weist selber (in verschiedenen Cahiers) auf folgende Vorlagen hin (MPE S. 791):
    a) Steichquartett von Franck
    b) Sinfonie von Franck
    c) Klavierquintett von Franck
    d) Präludium, Fugen und Variationen für Orgel von Franck


    zahlreiche weitere Modelle werden angenommen:
    Wagner
    Fauré
    Chabrier (Prousts Familie verkehrte mit den Chabriers, MPE S. 153)
    Debussy
    Ravel


    2.2. Im Eintrag "Musik I" in MPE S. 593 wird erwähnt:
    a) La Mer von Debussy (auch nach MPL S. 371: 1. Satz von La Mer für den Anfang des Septetts)
    b) Sinfonie in D-Dur von Franck
    c) "Kinderszenen" von Schumann


    2.3 nach Painter (MPL S. 371) sind folgende Stücke relevant:
    a) Quartett in D-Dur von Franck
    b) Quintett in f-Moll von Franck


    Schöne Grüße,
    Thomas

  • Danke für die ausführliche Antwort, Thomas. Bis auf Wagner, Debussy und Ravel sagen mir die Komponisten allerdings nichts. Eigentlich schade, denn ich hätte mir das Stück zu gerne angehört.

  • Vielen Dank für diesen Exkurs, Thomas :smile:!



    Eigentlich schade, denn ich hätte mir das Stück zu gerne angehört.


    Das wäre wirklich interessant gewesen. So können wir aber zumindest in die Vorbilder reinhören.

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  • Nach einer durch das Wochenende bedingten Zwangspause konnte ich nun wieder weiterlesen. Die Soiree bei Verdurins ist beendet. Charlus hat sich dabei nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Abgesehen davon, dass er fremde Gäste mitbringt, die durch ihr Verhalten die eigentliche Gastgeberin ins Abseits stellen, hat er auch noch mit Morel sozusagen den musikalischen Stargast verpflichtet. Gegen Ende des Abends unterhält er sich sehr angeregt mit Brichot und Marcel über Homosexualtiät und plaudert aus dem Nähtäschen über Swann und seine Frau. Man erfährt einige Neuigkeiten, die in dem langen Abschnitt über die Swanns nicht enthalten waren. Charlus macht eine seltsame Entwicklung durch. Während er mir zu Beginn des Zyklus' noch reserviert und erhaben vorkam, macht er jetzt einen ganz anderen Eindruck, irgendwie schwatzhaft, großspurig und arrogant.


    Von Marcel war auf den letzten Seiten nicht viel zu lesen. Er macht sich nach wie vor Gedanken über Albertine, aber wirklich intensiv wird es nur, wenn er eifersüchtig ist.

  • Nach Beendigung des Stückes von Vinteuil schlägt die Stimmung auf der Soiree um. Morel kommt zu Ohren, dass Charlus sich über seine Herkunft lustig gemacht haben soll, worauf er sehr heftig reagiert. Das könnte das Verhältnis zwischen ihm und nachhaltig Charlus trüben.


    Als Marcel nach Hause zurückkommt, verspürt er ein tiefes Glücksgefühl beim Anblick des erleuchteten Fensters von Albertine. Es wird in den schönsten Farben und Worten beschrieben und drückt seine Empfindungen gut nachvollziehbar aus. Leider gibt es danach eine unschöne Diskussion, die auch das frühere Thema der Lügen wieder aufgreift. Albertine erzählt einiges, wodurch Marcel erkennt, dass sie schon früher unehrlich war. Letztlich kann er nie sicher sein, dass sie nicht mit irgendwelchen Freundinnen intime Beziehungen hatte.


    Wieder ist er sehr bewegt. Man kann nicht sagen, dass Albertine die einzig Gefangene ist. Auch Marcel ist ein Gefangener. Er steckt in dieser Beziehung, in der er nicht wirklich glücklich ist, schafft es aber nicht, sich zu lösen oder mit den Gegebenheiten abzufinden, dass Albertine vor der gemeinsamen Zeit ihr Leben lebte. Ich sehe da auch noch andere Gefangene, z. B. Charlus und Morel in ihrer Beziehung, die nicht nur durch gegenseitige Gefühle geprägt wird, sondern auch ein Abhängigkeitverhältnis.


    Wenn ich unsere Pläne für das Wochenende ansehe, weiß ich jetzt schon, dass ich erst am Montag weiterlesen werde. Dabei ist es im Moment richtig spannend.


  • Wenn ich unsere Pläne für das Wochenende ansehe, weiß ich jetzt schon, dass ich erst am Montag weiterlesen werde. Dabei ist es im Moment richtig spannend.


    Da ich im Gegensatz ein fast gänzlich unverplantes Wochenende hinter mir habe, konnte ich endlich aufschließen, zumindest für den Moment :zwinker:


    Die Beschreibung des Stückes von Vinteuil war tatsächlich wieder ein Erlebnis, es ist schon faszinierend, wie Proust hier Musik in Worte umwandelt. Marcel taucht ja förmlich in die Musik ein. War Proust selbst Musikliebhaber? Sonst könnte er sicher nicht so schreiben.


    Die Verwandlung von Charlus verblüfft mich immer wieder; die ältliche, lächerliche und schwatzhafte "Frau", wie Marcel ihn ja schon an einigen Stellen nennt, hat ja rein gar nichts mehr mit der Person aus den ersten Bänden zu tun. Den Verdurins gegenüber verhalten er und seine Gäste sich unverschämt, er wird aber auch durch die Intrige von Madame Verdurin dementsprechend bestraft. Dass Morel nicht wirklich gefühlsmäßig an seinem Geldgeber hängt, war klar, aber dass er sich so leicht dazu bringen lässt, sich gegen ihn zu stellen, hat mich dann doch überrascht. Es wurde ja an einer Stelle angedeutet, dass es mit Charlus kein gutes Ende nimmt, vielleicht ist diese Episode der Anfang zu seinem Abstieg?



    Man kann nicht sagen, dass Albertine die einzig Gefangene ist. Auch Marcel ist ein Gefangener.


    Ich würde fast sagen, Marcel ist mehr in dieser "Beziehung" gefangen als Albertine, die sicherlich nach einer Trennung von Marcel schnell eine neue Bleibe und auch ein Auskommen finden würde, denn sie scheint für ihr junges Alter schon viele Erfahrungen gesammelt und Bekanntschaften geknüpft zu haben, egal ob mit Männern oder lesbischen Frauen (von denen es in diesem Band unglaublich viele gibt; ja es kommt fast keine Frau vor, die nicht zumindest nebenbei auch Beziehungen zu anderen Frauen hat. Oder sieht Marcel in seiner Eifersucht nur noch lesbische Frauen?).
    Als Marcel Albertine auf einige ihrer Lügen anspricht, wird deutlich, wie eingeengt sie sich doch fühlt. Marcel will wieder einmal dagegen wirken, indem er vorgibt, sich von ihr trennen zu wollen. Er erkennt selbst, dass er bei Gilberte das nachlassende Interesse an ihm tatsächlich mit einem klaren Schnitt beenden wollte während er Albertine nur noch mehr einsperren will.


    Im Moment ist es tatsächlich spannend, zu erfahren, ob und wie Marcel Albertine noch länger an sich binden kann. Wieder einmal verrät der Titel des nächsten Bands schon einiges.

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  • War Proust selbst Musikliebhaber? Sonst könnte er sicher nicht so schreiben.


    Ich denke schon. Er hat eine Ader für Kunst und sowas beschränkt sich meist nicht nur auf eine Richtung. Solche Soirees wie bei Verdurins mit musikalischen Darbietungen waren sicher keine Erfindung für den Roman. Damals gab es nicht die Vielfalt und Überfluss an Veranstaltungen, wie sie unsereins kennt. Konzerte hatten einen anderen Stellenwert und wurden auch anders wahrgenommen, nicht so gedankenlos konsumiert.


    Es wurde ja an einer Stelle angedeutet, dass es mit Charlus kein gutes Ende nimmt, vielleicht ist diese Episode der Anfang zu seinem Abstieg?


    Das ist gut möglich. Im Vergleich zu den ersten Bänden wird er immer dreister. Auf die Dauer kann das nicht gutgehen, denn irgendwann stößt er auf jemanden, der seine Unhöflichkeit nicht einfach so wegsteckt, auch wenn vielleicht wie im Fall von Madame Verdurin die Rache im Hintergrund stattfindet.



    Oder sieht Marcel in seiner Eifersucht nur noch lesbische Frauen?


    Ähnlich wie Charlus einen hohen Anteil an schwulen Männern in der Gesellschaft vermutet, wie er in dem Gespräch mit Marcel und Brichot erzählt. Da lässt Proust bestimmt eigene Erfahrungen einfließen. Wenn man sich in diesen Kreisen bewegt, kennt man natürlich Gleichgesinnte. Ich weiß leider nicht, ob es zu Prousts Zeiten verpönt war, sich zur Homosexualität zu bekennen, aber den Eindruck habe ich nicht. Da ist es gut möglich, dass einem Eifersüchtigen die falsche Franktion verstärkt auffällt.

  • Nach einer längeren Zwangspause hatte ich heute wieder etwas mehr Ruhe zum Lesen.


    Es ist eine spannende Phase in der Beziehung der beiden. Nach langem Zaudern und Zweifeln hat Marcel nämlich beschlossen, zum Schein mit Albertine Schluss zu machen, um der Partnerschaft neuen Glanz zu geben. Er will ihr vor Augen halten, was sie mit ihren Liebschaften zu Frauen aufs Spiel setzt. Seltsam, dass er einerseits so eifersüchtig ist und in jeder Frau eine Bedrohung sieht, andererseits aber davon ausgeht, dass Albertine, nachdem er die Trennung rückgängig gemacht hat, bereit ist, bei ihm zu bleiben. Eigentlich zeugt das von großem Selbstbewusstsein, aber genau das kommt ihm völlig abhanden, sobald er auch nur befürchtet, Albertine könne an eine andere Frau denken. Was für ein Widerspruch. Wie es scheint, ist ihm das Risiko, das er eingeht, gar nicht bewusst. Er ist davon überzeugt, dass sie dankbar bei ihm bleiben wird. Ich an seiner Stelle würde mir Gedanken machen, wie viel eine Beziehung wert ist, die solcher Täuschungsmanöver bedarf.


    Proust hat sich darüber wirklich viele Gedanken gemacht. Ich sehe ihn richtig vor mir, wie er in seinem verdunkelten Zimmer sitzt und schreibt, bis der Bleistift glüht, und dabei seine eigenen Beziehungen aufarbeitet.

  • Bei dem intensiven Gespräch zwischen Marcel und Albertine wird es sehr emotional, sowohl gedanklich als auch während des Sprechens. Das betrifft aber nicht nur die Beziehung. Eine Weile spricht er sehr emotional über Bücher und erweist sich als sehr belesen. Das erinnert mich zum wiederholten Mal daran, dass er eigentlich selbst schreiben wollte, aber über den Versuch aus dem ersten Band nicht hinausgekommen ist. Vielleicht hat er diesen Gedanken nun aufgegeben.


    Ähnlich wie die Bücher charakterisiert er Albertine sehr treffend, zumindest aus dem Blickwinkel, wie er (und der Leser) sie sieht. Gleichzeitig behauptet er, sie nicht zu kennen. Auch ich habe den Eindruck, dass man von ihr nicht wirklich viel weiß. Über das Lügen wurde schon viel gesprochen, und Marcel hat sie schon des öfteren dabei ertappt, daher denke ich, dass man die echte Albertine gar nicht kennen kann. Mir würde ein Einschub à la Swann über ihre Sichtweise gefallen.

  • Ich habe diesen Band nun heute beendet.


    Dieses Ende war absehbar, die Beziehung basierte ja von Anfang an nicht auf Vertrauen und Ehrlichkeit, auch ist Albertine wohl in Wahrheit zu vergnügungssüchtig, um wirklich bei und mit Marcel glücklich zu werden. Wobei es fraglich ist, ob eine andere Frau mit Marcel und seiner in Albertines Fall zwar berechtigten, trotzdem schon krankhaften Eifersucht leben könnte. Oder wäre Marcel nicht so eifersüchtig, wenn er eine Frau kennenlernen würde, die ehrlich und aufrichtig ihm gegenüber ist?


    Auch ich habe den Eindruck, dass man von ihr nicht wirklich viel weiß. Über das Lügen wurde schon viel gesprochen, und Marcel hat sie schon des öfteren dabei ertappt, daher denke ich, dass man die echte Albertine gar nicht kennen kann. Mir würde ein Einschub à la Swann über ihre Sichtweise gefallen.


    Die "echte" Albertine kennt man sicherlich als Leser nicht, da Marcel ja eigentlich auch nichts von ihr weiß und uns nur seine Sichtweise zur Verfügung steht. Sie ist eine notorische Lügnerin, das steht auf jeden Fall fest. Ihre eigene Gedankenwelt wäre sicherlich interessant. Lässt sie sich von Marcel nur aushalten, bis sich eine andere Gelegenheit für sie ergibt? War sie doch auch einmal in ihn verliebt und fühlte sie sich nur eingeengt? Und wie sieht es nun wirklich mit ihrer Liebe zu Frauen aus?


    Was mir schon bei der Episode mit Gilberte aufgefallen ist und was auch ein Hauptthema dieses Bandes ist, ist Marcels und damit wohl auch Prousts Ansicht, dass es Liebe nur in einem Ungleichgewicht geben kann. Solange der Mann die Frau erobern muss, liebt er sie und nur sie. Sobald er sie für sich gewonnen hat, verliert er das Interesse. Ab diesem Moment liebt ihn dann die Frau und kann ihn erst wieder gewinnen, indem sie ihn eifersüchtig macht. Momente der Entspannung, in dem das Paar sich einig ist in seiner Liebe zueinander, scheint es nicht zu geben. Wie anstrengend das sein muss! Und wie traurig...

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    Einmal editiert, zuletzt von knödelchen ()

  • Danke für deine Vorsichtsmaßnahme, aber ich bin heute auch fertig geworden und wusste daher schon, wie es endet. Wobei das ja kein allgemeines Ende ist, sondern nur diesen Band betrifft. Normalerweise würde ich über solche Cliffhanger die Nase rümpfen, aber bei Proust war ja vorher schon klar, dass es nicht das Ende der Geschichte ist.


    Oder wäre Marcel nicht so eifersüchtig, wenn er eine Frau kennenlernen würde, die ehrlich und aufrichtig ihm gegenüber ist?


    Eifersüchtig wäre er dann sicher nicht, so lange sie ihm keinen Anlass gibt. Er scheint mir doch sehr harmoniebedürftig zu sein. Ich würde nur befürchten, dass eine Brave ihn auf die Dauer langweilen würde. Er hat sich gerne mit Charlus abgegeben, der alles andere als ein anständiges Leben führt, und dafür bringt man Verständnis auf, wenn man selbst eine Neigung dazu hat. Marcel selbst ist auch nicht ehrlich und aufrichtig.


    Lässt sie sich von Marcel nur aushalten, bis sich eine andere Gelegenheit für sie ergibt? War sie doch auch einmal in ihn verliebt und fühlte sie sich nur eingeengt? Und wie sieht es nun wirklich mit ihrer Liebe zu Frauen aus?


    Nun, als junge Frau ohne Familienanschluss und eigene Mittel wird ihr kaum etwas anderes übrig bleiben als jemanden zu finden, der ihr Sicherheiten bieten kann. Trotzdem muss man doch mehr als nur Sympathie empfinden, um mit jemandem zusammenzuleben. Schließlich halten die zwei nicht nur Händchen.
    So viel Ehrgefühl wird sie haben, dass sie sich nicht prostituiert, nur um einen zahlungskräftigen Mann an ihrer Seite zu wissen. Ob das wirklich einmal Liebe war, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht Verliebtheit, die sich mit der Zeit wieder legt, wenn sich die rosaroten Wolken erst einmal verzogen haben.



    Was mir schon bei der Episode mit Gilberte aufgefallen ist und was auch ein Hauptthema dieses Bandes ist, ist Marcels und damit wohl auch Prousts Ansicht, dass es Liebe nur in einem Ungleichgewicht geben kann. Solange der Mann die Frau erobern muss, liebt er sie und nur sie. Sobald er sie für sich gewonnen hat, verliert er das Interesse. Ab diesem Moment liebt ihn dann die Frau und kann ihn erst wieder gewinnen, indem sie ihn eifersüchtig macht. Momente der Entspannung, in dem das Paar sich einig ist in seiner Liebe zueinander, scheint es nicht zu geben. Wie anstrengend das sein muss! Und wie traurig...


    Ich denke, so ein Ungleichgewicht geht immer mit einer gewissen Unehrlichkeit einher. Dann muss man Gefühle vortäuschen, der eine Interesse, der andere Desinteresse, um eine bestimmte Reaktion hervorzurufen. Für mich wäre das nichts. Ich würde Proust nicht recht geben, dass jede Liebe so unausgewogen ist, aber solche Fälle gibt es. Vielleicht hat er es ja überwiegend so erlebt.


  • Danke für deine Vorsichtsmaßnahme, aber ich bin heute auch fertig geworden und wusste daher schon, wie es endet.


    Dass wir nun tatsächlich gleichzeitig fertig geworden sind, ist schon ein Zufall :zwinker:. So haben die verschieden (Zwangs)Lesepausen zum selben "Ergebnis" geführt.



    Ich würde nur befürchten, dass eine Brave ihn auf die Dauer langweilen würde.


    Höchstwahrscheinlich würde ein braves Mädchen ihn langweilen. Marcel scheint schon einen Reiz zu brauchen, um für eine Frau zu entflammen, sei es dass sie unerreichbar für ihn ist oder zumindest am Anfang scheint oder dass er nicht der einzige Mann (oder in Albertines Fall der einzige Mensch, egal welchen Geschlechts) in ihrem Leben ist.



    Er hat sich gerne mit Charlus abgegeben, der alles andere als ein anständiges Leben führt, und dafür bringt man Verständnis auf, wenn man selbst eine Neigung dazu hat. Marcel selbst ist auch nicht ehrlich und aufrichtig.


    Das stimmt wohl, er träumt ja auch ständig von erotischen Abenteuern mit anderen Frauen, die am besten aus einer unter seiner stehenden Gesellschaftsschicht stammen (Milchmädchen, Verkäuferinnen). Hier gleicht er Charlus, der ja ein Faible für Männer aus niedrigeren Schichten hat.



    Ich denke, so ein Ungleichgewicht geht immer mit einer gewissen Unehrlichkeit einher. Dann muss man Gefühle vortäuschen, der eine Interesse, der andere Desinteresse, um eine bestimmte Reaktion hervorzurufen. Für mich wäre das nichts. Ich würde Proust nicht recht geben, dass jede Liebe so unausgewogen ist, aber solche Fälle gibt es. Vielleicht hat er es ja überwiegend so erlebt.


    Ich kann Prousts Meinung zur Liebe (glücklicherweise :smile:) auch nicht bestätigen, zumindest nicht in dieser arg einseitigen Ausrichtung. Natürlich kann die Liebe nicht immer 50 : 50 ausgewogen sein, aber bei Proust gibt es ja immer nur 100 : 0 oder eben 0 : 100...


    Durch diesen "Cliffhanger" am Ende dieses Bandes bin ich nun wirklich gespannt, wie Marcel mit der neuen Situation umgeht. Um die Form zu wahren, werde ich nicht hier, sondern im allgemeinen Recherche-Thread gleich mal die Frage nach dem nächsten Termin stellen :breitgrins:

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  • Das stimmt wohl, er träumt ja auch ständig von erotischen Abenteuern mit anderen Frauen, die am besten aus einer unter seiner stehenden Gesellschaftsschicht stammen (Milchmädchen, Verkäuferinnen).


    Aus dem Grund hätte es mit Gilberte auch nie etwas werden können. Sie war ihm gesellschaftlich ziemlich gleichgestellt und wäre außerdem viel zu unproblematisch gewesen. Das hätte ihn schon bald gelangweilt. Die anderen Frauen, für die er geschwärmt hat, waren ja doch extravagant - die Schauspielerin, deren Namen ich schon vergessen habe, oder die Herzogin von Guermantes. Sie stehen zwar gesellschaftlich nicht unter ihm, sind aber doch anziehend.