Heidrun Hannusch - Todesstrafe für die Selbstmörderin

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    Herbst 1941. In London geht die Angst vor einer Invasion der Deutschen um. Schriftsteller wie Stefan Zweig und Virginia Woolf sind bereits geflohen oder haben den Freitod gewählt. Am 11. Oktober beschließen auch die jüdischen Flüchtlinge Irene Coffee und ihre Mutter Margarete Brann, gemeinsam aus dem Leben zu gehen. Die 30-jährige Tochter überlebt den Selbstmordpakt und wird aufgrund eines absurden Gesetzes, das in abgeschwächter Form noch heute existiert, zum Tode verurteilt. Heidrun Hannusch erzählt einfühlsam dieses hoch spannende Kapitel Zeitgeschichte und zeigt, dass es manchmal nur einige wenige, scheinbar belanglose Umstände sind, die über Glück oder Unglück, Leben oder Tod entscheiden.



    Dieses Buch befasst sich mit dem historischen Kriminalfall Irene Coffee. In relativ kurzen Kapitel zeichnet die Autorin diesen Fall nach. Dem Ganzen sind zahlreiche Fotografien beigefügt.


    Im ersten Kapitel erzählt die Autorin, wie man bis etwa vor 200 Jahren in England Selbstmörder begraben wurden. Ich muss der Autorin recht geben, es liest sich wirklich wie eine Vampirgeschichte.


    Im nächsten Kapitel wird das Ende des Prozesses gegen Irene Coffee geschildert. Man lernt Travis Humphreys, den Richter kennen, der bei dem Prozess gegen Oscar Wilde Mitarbeiter des Verteidigers war. Irene Coffee wird angeklagt wegen heimtückischen Mordes an ihrer Mutter und wegen versuchten Selbstmord. Die Rechtslage war damals noch so, dass ein Überlebender eines Selbstmordpaktes automatisch wegen Mord oder Anstiftung zum Selbstmord angeklagt wurde, abgesehen davon, dass er oder sie wegen des eigenen versuchten Selbstmordes schon ins Gefängnis kamen.


    Anschließend werden die Fakten über die Tage zwischen dem letzten Telefonats von Irene Coffee und dem Eintreffen von Polizei und Krankenwagen zusammengetragen. Irene, die tagelang neben der Leiche ihrer Mutter lag und verzweifelt versuchte zu vollenden, was ihrer Mutter bereits gelungen war, hat letztendlich selbst veranlasst, dass der Hausarzt in die Wohnung eilte.


    Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit einem ähnlich gelagerten Fall aus dem Jahre 1823, den Richter Humphreys als Präzedenzfall aufführte und den Geschworenen nahe legte. Hier wird auch davon geschrieben, dass man England in Europa die höchste Suizidrate zugeschrieben hatte. Aufgrund dieser angeblichen Tatsache wären die Gesetze, die Irene Coffee verurteilen sollten, erlassen worden. Ob man in Frankreich Suizid wirklich mit dem Ausdruck "Englische Krankheit" nannte? Ich kenne ihn nur als Synonym für Rachitis.

    Einmal editiert, zuletzt von yanni ()

  • In den nachfolgenden Kapiteln rollt die Autorin den Fall Irene Coffee so gut wie möglich nochmals auf. Von der Ausreise Irene Branns nach England, ihre erste Zeit, die Scheinehe, das Nachholen der Mutter. Später erfährt man von dem gestörten Verhältnis zu ihrer einzigen Schwester, der Rolle der Mutter innerhalb der Familie. Man gewinnt den Eindruck einer sehr dominanten Frau, die ihre jüngste Tochter eng an sich gebunden hat. Einer Frau, die sich vom Jüdisch-Sein distanziert hat, die mit dem gesellschaftlichen Abstieg als deutscher Flüchtling in England hadert. Irene dagegen scheint sich gut in die Gesellschaft eingefügt zu haben, was sicher auch an ihrer englischen Staatsbürgerschaft liegt. Allerdings ist der stets abwesende Ehemann ein Problem. Daher kommt es zu keiner engeren Bindung an andere, denn wie sollte dieser Umstand erklärt werden, ohne dabei die Scheinehe aufzudecken. Auch so ist das Misstrauen gegenüber Deutschen schon groß genug. Geschürt auch durch die Medien.


    Deutsche werden klassifiziert. A, B oder C, der Buchstabe belegt, ob man sie als vertrauenswürdig einstuft. Margarete Brann gilt als unbedenklich, doch dies ist jederzeit änderbar, ein Aufenthalt im Internierungslager stets möglich. Neben diesen täglichen Ängsten lauert immer auch die Angst vor einem Einfall der Deutschen. Die Nachrichten aus Russland sind beängstigend. Die unsicheren Zeiten, die große Angst vor den Nazis treiben, wie es schient, viele in den Selbstmord. So auch Irene Coffee und Margarete Brann. Alles wird vorher geregelt. Irene Coffee gilt als eine sehr zuverlässige, korrekte und umsichtige junge Frau. Briefe werden geschrieben, der Nachlass geregelt.


    Dies ist ein Sachbuch und kein Roman. Die Distanz zu den Personen bleibt gewahrt. Fakten werden aufgeführt, auch wenn der menschliche Aspekt des öfteren durchschimmert. So auch bei Richter Travers Humphreys, der den Geschworenen nahelegt sich an die Gesetze zu halten, unterschwellig jedoch die Bitte um Gnade bereits in die Wege leitete, die er später selbst noch an den Innenminister richten wird.


    Heidrun Hannusch flicht des öfteren historische Fakten ein, die interessant zu lesen sind. Manchmal jedoch hatte ich den Eindruck, es wird zu weitschweifig oder wiederhole sich. 170 Seiten, auch wenn mit zahlreichen Fotografien versehen, müssen gefüllt werden. Daher lässt sie berühmtere Zeitgenossen zu Wort kommen, wohl um dem Leser die Gültigkeit der Ängste vor Augen zu führen, die nicht nur die "normalen" Personen betrafen. Wer als erstes in der Todeszelle von Irene Coffee saß, wofür die Person verurteilt wurde, empfand ich als unnötig. Aber das mögen andere anders empfinden.


    Des öfteren erging sich die Autorin in "was wäre wenn gewesen"-Geschichten. Dabei dachte ich oft, ja, was wäre gewesen, wenn sie nicht so eine dominante Mutter gehabt hätte. Denn wie man unschwer aus den Zeilen herauslesen konnte, war dieser Selbstmordpakt aus ihrer übergroßen Angst hervorgegangen. Der große Einfluss, den sie auf ihre Tochter hatte, die der Mutter keinen Wunsch abschlagen zu können schien, erweckt in mir den Eindruck, dass Irene Coffee ohne ihre Mutter mit ihrer Situation relativ gut zurecht gekommen wäre. Oder unterliege ich hier dem Einfluss der Autorin?
    Irreführend fand ich einen Satz über Oscar Wilde, in dem steht, dass dieser wie sie Travers Humphreys im Gerichtssaal begegnete, ein paar Monate in Holloway saß und es letztlich nicht überlebte. Jemand, der mit dem Tod Oscar Wildes nicht vertraut ist, kann daraus den Schluss ziehen, dass dieser dort verstorben wäre.


    Wie absurd die Gesetze manchmal sein können, unter welchen Ängsten Verfolgte leiden, aber auch wie man die Einstellung zu ihnen schüren kann, dabei keinesfalls außer Acht lassen sollte, dass die Ängste der englischen Bevölkerung genauso berechtigt waren, ist in diesem dünnen Buch enthalten.

    Einmal editiert, zuletzt von yanni ()


  • Dies ist ein Sachbuch und kein Roman. [...]
    Des öfteren erging sich die Autorin in "was wäre wenn gewesen"-Geschichten. [...]Oder unterliege ich hier dem Einfluss der Autorin?


    Ich habe mit Interesse deine Beschreibung von diesem Buch gelesen, da es in mein Beuteschema passen könnte. Nach deinen Eindrücken lasse ich aber die Finger davon. In einem Sachbuch, haben meiner Meinung nach "was wäre wenn-Geschichten" nichts verloren und sollte auf keinen Fall im Leser das Gefühl aufkommen lassen, in den eigenen Gedanken vom Autor beeinflusst worden zu sein.


  • In einem Sachbuch, haben meiner Meinung nach "was wäre wenn-Geschichten" nichts verloren und sollte auf keinen Fall im Leser das Gefühl aufkommen lassen, in den eigenen Gedanken vom Autor beeinflusst worden zu sein.


    Sie hat es nicht übertrieben ausgeführt, mich störte halt, dass sie solche Überlegungen überhaupt einbaute. Wie konnte sie annehmen, dass eine Begegnung mit dieser oder jener Person mehr Einfluss auf Irene Coffee ausüben hätte können als ihre als treibende Kraft wirkende Mutter.


    Die Autorin scheint sich viel Mühe mit den Recherchen gemacht zu haben, da sie auch Kontakt zum späteren Ehemann, der Tochter ihrer Vermieterin und der Familie der Schwester aufnahm. Doch trotz all dem hatte ich nie das Gefühl die Beweggründe dieser Frau nachvollziehen zu können.


    Eine Stelle, die mir nicht sonderlich gefiel, war diese.


    Das entspricht den Tatsachen, aber ich empfinde es als eine unnötige Bemerkung, besonders da man einige Seiten vorher lesen konnte, dass andere während des Krieges bereits dorthin auswanderten. Fortgelaufen ist Irene Coffee aus Deutschland. England war nie ihre Heimat. Es war das Land, in dem man sie zum Tode verurteile, auf Grund eines Gesetzes, das man damals schon als widersinnig erachtete.
    Welche tiefer Bedeutung soll diese Formulierung haben?