Margaret Atwood: The heart goes last

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  • Margaret Atwood: The heart goes last


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    Inhalt:


    Stan und Charmaine leben nach dem Verlust ihrer Jobs in ihrem Gebrauchtwagen. Nachts müssen sie schnell mal weiterfahren, wenn Horden von Menschen, die nicht mal ein Auto haben, Besoffene, Zugekiffte oder Gangs es auf das Auto oder vielleicht auch Charmaine abgesehen haben.
    Charmaine hat einen Halbtagsjob, der sie davon abhält, die Stadt zu verlassen, um nicht ganz ohne Geld dazustehen.
    Eines Tages wird Charmaine durch einen Werbespot auf ein Angebot aufmerksam: Das Positronprojekt, das Menschen wie ihnen einen Job in sicherer Umgebung und ein Haus anbietet. Zunächst erfahren sie nicht mehr.
    Als sie unter vielen Verzweifelten ausgewählt werden, an dem Projekt teilzunehmen, erfahren sie, dass sie einen Monat im komfortablen Haus wohnen werden, den anderen aber im Gefängnis des Stadt Consilience, in der sie wohnen werden. Auch das schreckt sie nicht weiter ab, trotz einer Warnung von Stans Bruder Connor....und obwohl der Vertrag lebenslang gültig bleibt.


    Meine Meinung:


    Erster Eindruck:
    Als ich den Klappentext las, glaubte ich zu wissen, worauf das hinausläuft: Psychische Probleme durch das Gefängnisleben, drangsaliert von Wärtern und vielleicht bedroht durch andere Häftlinge - und keine Zeit, sich zu Hause davon zu erholen. Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit, und wenn man im Gefängnis gemobbt, bedroht, vielleicht vergewaltigt würde oder schlimmeres, würde ein Monat zur Erholung reichen?


    Das Buch
    überraschte dann allerdings immer wieder, denn so etwas kam gar nicht vor. Tatsächlich erinnerte mich das Buch oft am "WOOL" von Hugh Howey, denn immer, wenn man sich auf sicherem Boden glaubt, ändert sich wieder die Perspektive durch eine neue Info. Was anfangs böse klingt, ist im Rückblick doch ganz gut gewesen, wem man anfangs vertrauen konnte, entpuppt sich bald als falsche Schlange, aber später kann man ihm evtl. auch wieder vertrauen. Immer wenn man glaubt, jetzt zu wissen, was Sache ist, kommt eine für den Leser und die Protagonisten neue Information, die diese Einschätzung total ändert. Das wird bis zum Schluss durchgehalten.


    Trotzdem hat das Buch ein paar Längen, die teilweise wohl gewollt sind, teilweise etwas nerven (besonders am Anfang) und mMn ein paar Logiklöcher bzw. Aspekte, die nicht mehr aufgegriffen werden (besonders am Schluss).


    Überraschend war auch, dass nach all dem Vorgeplänkel nicht der erste Monat im Gefängnis beschrieben wird, sondern die erste Handlung im Gefängnis ein Jahr nach der Ankunft in der Stadt Consilience spielt. Ebenso überraschend war für mich - und damit verrate ich nicht zu viel - dass das Leben im Gefängnis erst mal überhaupt nicht schlimm ist, es ist eher wie das Leben von Berufstätgigen, die etwa auf Montage gehen und einige Zeit halt nicht zu Hause leben. Das Gefängnis an sich ist erst mal überhaupt nicht erschreckend, das Essen ist erklassig, die Arbeitsbedigungen gut, es mangelt an nichts, es gibt keine Bedrohung, nichts, was den Gefängnisalltag erschreckend oder traumatisierend machen würde.
    Alleridngs wundert man sich als Leser schon über Charmaine, die im Gefängnis"krankenhaus" eine ganz besondere Aufgabe hat, die sie für den Leser sehr zynisch und kaltblütig, sogar gehässig ausübt, auch wenn sie selbst das genau gegenteilig sieht. Die Person Charmaine wird dagegen nicht als kaltblütig oder gehässig hingestellt. Allerdings ist sie etwas seltsam - und hier bin ich unsicher, ob das gewollt ist oder nur mit so vorkommt - sie wirkt übertrieben naiv, empathielos, sorglos. Um mal eine Analogie zu nennen: Wie eine Mutter, die nebenbei bemerken würde "oh, mein Kind ist hingefallen und hat sich schwer verletzt und jetzt weint es!" - man würde sie fragen, warum sie nicht besorgt ist, das Kind nicht tröstet etc. Deshalb fällt es teilweise schwer, mit Charmaine mitzufühlen, die im Laufe der Geschichte diverse Probleme lösen und auch beängstigende und bedrohliche Situationen meistern muss.
    Anfangs folgen wir Charmaine und Stan, später beiden getrennt - ihre Wege trennen sich streckenweise auch räumlich.
    An verschiedenen Punkten des Romans - und hier weiß ich wieder nicht, wie gewollt das ist - kann man die Entscheidungen und Gefühle beider Protagonisten nicht nachvollziehen, sie scheinen auch teilweise ihre Ziele aus den Augen verloren zu haben (vor allem Stan).


    Am Ende des Romans gibt es einige große Fragezeichen, die innerhalb der Handlung als logisch verkauft werden, es aber selbst innerhalb der Handlung nicht sind. Etwas wird als großes Übel dargestellt und wäre es nach unserer Moral auch, dann aber angewandt und das Ergebnis als zufriedenstellend verkauft. An einer Stelle wird dieses Ergebnis als gut angesehen, an anderer Stelle später hinterfragt.


    Es fehlt auch eine Sichtweise komplett:



    Auch auf das Problem vom Anfang des Romans wird mMn am Ende gar nicht mehr eingegangen.



    Was ist mit Jocelyn?



    Themen:
    Das Buch greift eine Reihe aktueller Themen auf und einige davon werden in gewohnter Atwoodmanier "konsequent" zu Ende gedacht.
    Arbeitslosigkeit und deren Folgen.
    Fogen von Wirtschaftskrisen.
    Werte von "menschlichem Kapital".
    Firmenpolitiken, die nicht das Wohl der Mitarbeiter im Sinne haben.
    Ausbeutung von Menschen.
    Organspenden im weitesten Sinne bzw. Medizinethik.
    Überwachung.
    Ethik im Angesicht der Ausweglosigkeit.
    Gefängnisse als Wirtschaftsunternehmen (dieses Thema wird allerdings nicht in realistischer Weise behandelt).
    Den Wert einzelner Menschen abhängig von ihrem Job oder Einkommen/ Vermögen.
    Naivität angesichts von Firmeninteressen großer Firmen oder von "Firmengeschenken".
    Vertrauen der Menschen untereinander bzw. Verhalten in Verhalten in Situationen, in denen man nicht weiß, wem man trauen kann.
    Arbeitnehmer, die nur ihre Pflicht tun/ ethische Verantwortung von Arbeitnehmern im Angesicht der eigenen Arbeits- und Ausweglosigkeit.


    Andere Themen werden überhaupt nicht aufgegriffen, obwohl sie sich anbieten, ganz zu Anfang des Romans z.B. das Thema "Timesharing" - fremde Menschen in MEINER Wohnung. Das hätte ich mir etwas ausführlicher gewünscht. Nicht jeder könnte wohl problemlos mit dem Gedanken leben, das Schlafzimmer mit Unbekannten zu teilen....Zwar ist das Teilen mit Fremden ein wichtiger Aspekt der Handlung, aber auch hier fehlen mMn Emotionen. Die Menschen verhalten sich so, als ob sie keine Bindung zu einem Haus aufbauen würden, in dem sie wohnen und kein Interesse hätten, es individuell zu gestalten. Es wäre doch sicher eine große Belastung für viele, zu wissen, dass morgen jemand Unbekanntes in meinem Bett liegt, meine Küchenschränke umräumt (oder die Frage: warum tut er das nicht?), vielleicht Sex auf meinem Esstisch hat... :gruebel:


    Auch andere Themen werden in dieser Weise nebenbei abgehandelt, Situationen bei denen man sich fragt, ob Menschen sie wirklich so problemlos hinnehmen könnten.


    Bewertung:
    Fällt schwer.


    Ich sage mal so:
    Idee: 5ratten


    Spannung/ Überraschung: 5ratten


    Umsetzung: 4ratten


    Logik: 3ratten bis 2ratten (einige Logiklöcher)


    Stringenz (Themen, die weiter ausgebaut oder wieder aufgenommen werden müssten, Reaktioen von Außenstehenden und Protagonisten etc.): 2ratten


    Behandlung und Weiterdenken aktueller Themen und Probleme: 5ratten


    Sprache: 3ratten Nicht auffällig, guter Lesefluss, ein paar lustige oder bemerkenswerte Sätze, ansonsten "normal".

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

    Einmal editiert, zuletzt von Keshia ()

  • Meine Meinung

    Stan und Charmaines Leben ist eine Sackgasse. Vielleicht denken sie deshalb über das Positronprojekt nicht wirklich nach, sondern nehmen das Angebot trotz anfänglicher Zweifel an. Als Außenstehende habe ich schon beim Werbespot an eine Sekte denken müssen und je weiter ich gelesen habe, desto mehr hat sich mein Eindruck bestätigt. Auch dass ausgerechnet Stans Bruder ihn warnt, fand ich schon bezeichnend.


    Charmaine geht in ihrem neuen Leben vollkommen auf. Ich frage mich, ob sie bewusst die Augen vor allem, was nicht schön ist, verschließt oder vielleicht bereitwillig mitspielt? Stan ist da schon kritischer.


    Je mehr ich über das Positronprojekt erfahren habe, desto schlimmer fand ich es. Ich hatte den Eindruck, als ob mehr Menschen von den Hintergründen wussten und ihren Profit aus diesem Wissen schlugen.

    Es fehlt auch eine Sichtweise komplett:


    Das hätte mich auch interessiert.


    Alles in allem war es für mich eine verstörende Geschichte, die mir aber auch einige Denkanstöße gegeben hat.

    4ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.