Freie Geister - Ursula K. LeGuin
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Le Guin war eine der ganz großen. Leider ist sie Anfang 2018 im Alter von 88 Jahren verstorben. Freie Geister ist eine 2017 herausgebrachte, neue Übersetzung ihres Werkes The Disposessed, das 1974 erschienen ist. Weitere deutsche Übersetzungen findet man unter den Titeln Die Enteigneten und Planet der Habenichtse. Gelesen habe ich das englische Original bereits zweimal und die neue Übersetzung jetzt hat einen wesentlich passenderen Titel, als die vorherigen deutschen Ausgaben.
Diese Rezension läuft im Rahmen des Blogstöckchens Zurück in die Zukunft der Vergangenheit, das von Booknapping und Koreander letztes Jahr gestartet wurde.
Frage 1 habe ich bereits mit allen wichtigen Daten zum Buch beantwortet. Frage 2, wie hoch der Science Fiction-Anteil meiner gelesenen Bücher ist, kann man mit sehr hoch beantworten. 90% locker.
Frage 3, warum ich ausgerechnet dieses Buch gewählt habe? Ganz einfach. Le Guin gehört für mich zu den absolut besten Autorinnen, der letzten Jahrzehnte. The Disposessed habe ich wie gesagt bereits zweimal in Englisch gelesen und die neue Übersetzung interessierte mich. Das Buch musste dann einfach mit, als es mir beim letzten Hugendubelbesuch halb entgegen gefallen kam, weil es keinen besseren Weg gibt, Le Guins Werk zu ehren und ihr einen letzten Tribut zu zollen.
Das Buch ist Science Fiction, es ist eine Utopie, allerdings eine sehr zwiespältige. Dabei spielen die klassischen SF-Elemente wie Raumfahrt und Aliens eher eine untergeordnete Rolle. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Physiker Shevek. Im Buch wechselt jedes Kapitel mit Sheveks Leben und Vergangenheit auf Anarres und seiner Gegenwart auf Urras ab. Anarres und Urras könnten gegensätzlicher nicht sein. Le Guin präsentiert zwei Gesellschaftsformen, die jedem derzeit lebenden Menschen ein Begriff sind. Grob beschrieben herrschen auf Urras klassischer Kapitalismus, Staatenteilung, Diskriminierung von Frauen und Darwins Lehre, dass nur der Stärkere überlebt. Schaut man sich Anarres an, dann wird die Gesellschaft dort als Anarchie beschrieben, erinnert aber eher an klassischen Kommunismus, jedoch ohne eine Regierung in irgendeiner Form. Le Guin präsentiert diese beiden Gesellschaften aus Sheveks Sicht, ohne sie jedoch selbst zu werten, sondern überlässt es dem Leser, seine Meinung zu bilden.
Auf Anarres gibt es jeden Namen nur einmal, somit ist Shevek einfach Shevek ohne einen Nachnamen zu besitzen. Wir folgen ihm von seiner Kindheit, erkennen, dass er anders ist als der Rest aber versucht, der anarchistischen Erziehung und Denkweise gerecht zu werden. Es gibt keine Possessivpronomen, Sheveks Vater ist einfach der Vater, seine Mutter die Mutter. Es gibt keine Ehe, man wird verpartnert. Niemand besitzt irgendwas in irgendeiner Form. Alles wird geteilt. Es gibt Schlafhäuser, in denen man wohnt, aber die auch von anderen bewohnt werden. Die Menschen werden ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechend zur Arbeit eingeteilt, es gibt keine Wochen mit 7 Tagen, sondern Dekaden mit 10. Alle sind gleich. So gleich wie es nur geht. Und was anfangs wie ein Paradies erscheint, zeigt schnell auf, welchen Problemen sich Menschen stellen müssen, wenn die menschliche Natur nicht weiter unterdrückt werden kann.
Wir folgen Shevek und aus dem distanzierten, rationalen jungen Mann wird ein Physiker, der schnell entdeckt, dass die Realität so gar nicht seiner anerzogenen Vorstellung der Gesellschaft entspricht. Es entwickeln sich Dynamiken und Machtstrukturen in dieser freien Gesellschaft, die nichts mit der ursprünglichen Idee der damaligen Gründung zu vereinbaren sind. Anfangs sind die Anzeichen sehr subtil und man möchte Shevek und seine Freunde teilweise mit der Nase drauf stoßen, weil sie dem Leser schnell offenbarer werden, als den Figuren.
Shevek reist nach Urras um einen Preis in Empfang zu nehmen und auf Urras seine Arbeit fortzuführen. Dabei stellt er schnell fest, dass er ein Gefangener ist. Ein Gefangener in einem goldenen Käfig. Ein Instrument für das Spiel der Mächtigen, die seine Arbeit und seine Forschung für ihre Machterweiterung missbrauchen wollen. Auf Urras gibt es keine Gleichberechtigung. Frauen haben keine Rechte. Sie studieren nicht an Universitäten. Le Guin hat hier sehr deutlich gemacht, welchen Stand Frauen lange Zeit hatten und leider heute, über 40 Jahre später, vielerorts immer noch haben. Es ist sehr erschreckend, wenn man zurückblickt, wie wenig sich eigentlich wirklich geändert hat. Frauen können zwar studieren, aber leider brauchen wir noch immer geregelte Frauenquoten, um Frauen in Führungspositionen zu bringen. Frauen werden auch heute noch dazu erzogen, dass hübsch sein einen höheren Stellenwert hat, als alles andere. Wenn man sich die Entwicklung teilweise anschaut, dann hat man das Gefühl, wir gehen wieder rückwärts.
Frage 5, welche Elemente galten zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung als Zukunftsmusik? Nun, bei Sheveks Treffen mit einer Repräsentantin unseres Planeten erfahren wir, dass es auf der Erde 9 Milliarden Menschen gab. Le Guin hatte hier wohl einen guten Riecher, was die kommenden Jahrzehnte an Zuwachs auf unserem Planeten bringen werden. Aktuell laufen ja Schätzungen, dass die 9 Milliarden-Marke 2050 geknackt wird. Andere Punkte sind mir allerdings nicht aufgefallen, allerdings denke ich, dass es daran liegt, dass der Roman weniger mit technologischen Ideen spielt als mit Gedanken über Gesellschaftsmodelle.
Auch bei Frage 6, ob man Parallelen erkennt zu anderen Werken, muss ich gestehen, dass mir nur politische Werke einfallen würden, allein aus der Tatsache heraus, dass es in dem Buch um Gesellschaft geht. Eingebettet in die Gedankenspielereien dieser möglichen Gesellschaftsstrukturen sind allerdings auch Freundschaften, persönliche Entwicklungen und eine große Liebe, die allen Widrigkeiten zum Trotz fortbesteht.
Die Gesellschaft auf Anarres wurde auf den Ideen einer Frau namens Odo gegründet. Ihre Gedanken und Ideen sind das unterliegende Regelwerk dieser Gesellschaft, die eigentlich keine wirklichen Regeln hat. Man wird als Leser immer wieder mit dem Gedanken konfrontiert, was wahre Freiheit bedeutet und ob es wahre Freiheit wirklich gibt bzw. geben kann.
Besonders letzteres wird immer wieder deutlich, wenn man sieht, welche Probleme Shevek teilweise hat. Ganz hervorragend ist hier auch seine Entwicklung zu sehen vom überzeugten Anhänger der Gesellschaft zum echten Anarchisten.
Ein ganz besonderer Satz bleibt da in Erinnerung:
ZitatWas taugt eine anarchistische Gesellschaft, die Angst vor Anarchisten hat?
Für mich persönlich ist das ganze Thema extrem interessant. Lustigerweise war es nicht mein erstes Lesen des Buches, das mich darüber nachdenken ließ. Ich weiß noch, dass ich das Buch interessant fand, aber das wahre Verständnis fehlte mir mit 20 irgendwie. Heute sehe ich viele Dinge ganz anders. Und vielleicht ist mir Shevek genau deswegen so sympathisch, weil er und ich einen ähnlichen Erfahrungsweg gegangen sind. Shevek ist ja mein Alter. Und die wichtigen Stationen in seinem Leben ähneln den meinen auf erschreckende Weise von ihren Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung her.
Fazit
Freie Geister ist eine tolle Übersetzung eines genialen Werkes. Es ist kein Scifi mit vielen Aliens und wilden Raumschlachten, sondern eine Utopie, die nicht unbedingt utopisch ist, aber welche ist das schon? Der Ton des Buches wirkt aus Sheveks Perspektive sehr emotionslos und distanziert, was sich aber meiner Meinung nach hervorragend mit Sheveks Persönlichkeit deckt. Es gibt keine echte Spannung. Keine ausufernde Action. Es ist ein ruhiges Buch, das tief geht und einen Eindruck hinterlässt, dem man sich auch bei jedem erneuten Lesen nicht entziehen kann. Eine klare Leseempfehlung an alle, die in Science Fiction gern auch den gesellschaftlichen Aspekt beleuchtet sehen.
ZitatWahres Reisen ist Wiederkehr.