George Saunders - Lincoln im Bardo/Lincoln in the Bardo

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    Inhalt

    Während der amerikanische Bürgerkrieg tobt, stirbt Präsident Lincolns Sohn Willie. In der Nacht nach der Beerdigung geht der Präsident noch einmal ins Mausoleum, um endgültig Abschied zu nehmen. Während er seinen toten Sohn ein letztes Mal in den Armen hält, beobachten ihn die Toten.


    Meine Meinung

    Zitat

    Bardo (tibetisch für „Zwischenzustand, Einbeziehung, Versetzung, innewohnende Gegebenheit des Geistes“; Sanskrit
    अन्तर्भाव IAST
    antarbhāva) ist die Bezeichnung für die nach der Lehre des Tibetischen Buddhismus möglichen Bewusstseinszustände, im Diesseits wie im Jenseits. Das Tibetische Totenbuch enthält Beschreibungen des Tschikhai-Bardo, Tschönyi-Bardo und Sidpa-Bardo.


    Nicht nur Willie befindet sich im Bardo, sondern auch viele Andere. Alle reden durcheinander und auch wenn unter Aussage der Namen des Redners steht, brauchte es eine gewisse Zeit, bis ich mich an dieses Durcheinander gewöhnt hatte. So viele verschiedene Geschichten wollten erzählt werden, dass ich anfangs nur einzelne Fragmente erkennen konnte. Erst später wurde aus den Teilen eine Geschichte.


    Alle haben eines gemeinsam: sie reden nicht vom Tod oder vom Sarg, sie reden von Krankheit und der Krankenkiste. Erst Willie spricht das Wort offen aus. Viele haben Angst vor dem, was nach dem Bardo kommt. Auch ich fand das, was ich gesehen habe, sehr bedrückend. Es gibt verschiedene Mächte, die um die Menschen im Bardo kämpfen und nicht immer scheinen sie freundlich zu sein.


    Da schien es kein Wunder zu sein, dass die Menschen nicht weitergehen wollten. Je länger sie blieben, desto konkreter wurden ihre Aussagen. Sie schienen sich immer besser zu erinnern oder zumindest sich ihren Erlebnissen stellen zu wollen. Je mehr sie bereit waren, zuzugeben dass sie eben nicht nur krank waren, desto offener wurden sie. Vieles, was sie erlebt hatten, war schlimm und nicht alles konnte man auf den Krieg zurück führen.


    Der Abschied Lincolns von seinem Sohn ist herzzerreißend. Aber er macht den Menschen im Bardo, die diesen Abschied beobachten klar, dass auch sie weitermüssen. Lincoln im Bardo ist eine ungewöhnliche Geschichte um ganz gewöhnliche Dinge: Liebe, Verlust und Trauer. Nicht leicht zu lesen, aber wunderschön.

    5ratten


    Liebe Grüße

    Kirsten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

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    Als der elfjährige Willie an Typhus stirbt, sind seine Eltern, Abraham und Mary Lincoln, am Boden zerstört. Lincoln steht sowieso schon wegen des Bürgerkriegs im Kreuzfeuer der Kritik, und dass der Junge ausgerechnet dann aus dem Leben scheiden musste, während im Weißen Haus eine rauschende Abendgesellschaft stattfand, ist ein gefundenes Fressen für Klatschmäuler.


    Abraham Lincoln sucht auf dem Friedhof die Nähe seines Sohnes, kommt immer wieder in die Gruft, in der sein Sarg steht, versucht zu begreifen, was man nur schwer begreifen kann und ganz sicher nicht begreifen will.


    Auf dem Oak Hill Cemetery ist der trauernde Vater nicht so alleine, wie es den Anschein hat, um ihn herum gibt es Hunderte von Geistern, die es noch nicht geschafft haben, diese Welt gänzlich zu verlassen und in einem Zwischenzustand gefangen sind. Sie machen auch einen Großteil des vielstimmigen Chores aus, der dieses Buch erzählt.


    George Saunders bedient sich hier nämlich nicht einer geradlinigen Erzählweise oder einiger weniger Perspektiven, sondern setzt das Gesamtbild wie ein Mosaik aus zahlreichen Einzelstimmen zusammen. Oft sind die Absätze nur wenige Wörter oder Sätze lang, bevor die nächste Stimme zu Wort kommt. Viele von ihnen sprechen aus dem Jenseits zu uns oder vielmehr aus dem titelgebenden Zwischenzustand ("Bardo" steht im Buddhismus für ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod - interessant auch, dass das Buch 108 Kapitel hat, eine Zahl, die im Buddhismus von Bedeutung ist).


    Andere Kapitel bestehen hingegen aus Zitaten von Zeitzeugen oder Auszügen aus historischen Werken. Hier fand ich die höchst unterschiedliche Wahrnehmung hochinteressant, die einzelne Personen haben; mit jeder Drehung des Kaleidoskops kann ein und dieselbe Szene eine ganz andere Färbung annehmen.


    "Lincoln in the Bardo" dürfte so ziemlich der ungewöhnlichste Roman sein, den ich jemals gelesen habe, und ich kann auch verstehen, wenn man mit dieser experimentellen Form nichts anfangen kann (oft genug gehöre ich auch dazu). Aber mich hat das Buch sehr beeindruckt, auch wenn ich nicht behaupten kann, alles im Detail verstanden zu haben und mir das eine oder andere ein bisschen zu hoch war. Doch Saunders bringt den Schmerz des Vaters über den Verlust des geliebten Kindes auf eine ganz berührende Weise zum Ausdruck und schreibt überhaupt ganz wunderbar über das Werden und Vergehen und das, was hätte sein können. Ab und zu blitzt sogar etwas sarkastischer Humor auf. Auch historische und gesellschaftliche Aspekte wie der US-Bürgerkrieg, Segregation und Vorurteile kommen zum Tragen, und mir gefiel es sehr, wie so viele Einzelschicksale Eingang in das Buch finden, oft komprimiert auf wenige Sätze und doch sehr eindrucksvoll.


    Kein ganz einfaches Buch, aber eins, das sich lohnen kann, wenn man sich darauf einlässt.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen