Hildegard E. Keller - Was wir scheinen

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    Hildegard Keller ist eine Schweizer Literaturprofessorin,- kritikerin, - übersetzerin. Bekannt war sie als jahrelange Jurorin des Ingeborg-Bachmann-Preises und auch als Kritikerin im Literaturclub des SRF.


    Im Buch Was wir scheinen widmet sie sich dem Leben und Werk Hannah Arendts.

    Sie hat es in einem wunderbar flüssigen Stil geschrieben. Obwohl die Fakten sehr gut recherchiert sind und aus den Werken und Briefen Hannah Arendts zitiert wird, hat sie einen eigenen Kosmos geschaffen, eine eigene fiktive Welt, die durch historische Fakten inspiriert wurden. Somit handelt es sich um einen Roman und keine Biographie.


    Hannah Arendt hat ihren letzten Sommer 1975 in Tegna, in der Nähe von Locarno am Lago Maggiore verbracht, wie sie es schon seit Jahren zu tun gepflegt hatte.

    Sie war verwitwet, herzkrank und dennoch geistig mitten im Leben. Trotz ihrer Beschwerden umgab sie sich mit jungen Menschen, Zufallsbekanntschaften, um mit ihnen zu sprechen, sie verstehen zu lernen, ihnen auch mit Rat zur Seite zu stehen.


    Zwischen den einzelnen Passagen, wird auf das Leben der Philosophin zurückgeblickt, viele Schlüsselmomente und auch Freundschaften und Auseinandersetzungen werden beleuchtet. Das Who-is-who der Philosophie der Zeit kommt in dem Roman vor: Martin Heidegger, Karl Jaspers, Walter Benjamin, Broch, Brecht und Ingeborg Bachmann.


    H. Keller geht Hannah As' Ambivalenz zu Deutschland, aus dem sie flüchten musste, die Jahre auf der Flucht bis sie dann in New York angekommen ist, das Leben in einer fremden Kultur, mit einer fremden Sprache, auf die Spur. Sie schrieb dann nur noch auf Englisch, weil sie in dieser Sprache mehr Distanz aufbauen konnte.


    Besonders widmet sich das Buch auch dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, wo Hannah Arendt als Journalistin dabei war und worüber sie ein Buch geschrieben hat - Eichmann in Jerusalem. Dieses Werk schlug sehr hohe Wellen, weil sie die Banalität des Bösen definiert, und Eichmann als eigtl. dummen Menschen entlarvt, der nur in den ihm vorgegebenen Strukturen gehandelt hat ohne selbst zu denken. In heutige Zeit würde das einen riesigen Shitstorm auslösen, damals waren es sehr viele Briefe, auch organisierte Diffamierungen in Printmedien und Fernsehen.


    Es werden auch viele persönliche Momente und Freundschaften beschrieben. Ich mochte das Gespräch zwischen Hannah Arendt und Ingeborg Bachmann und den nachfolgenden Briefwechsel. Inwiefern das so stattgefunden hat, kann ich nicht sagen, H. Keller hat sich aber mit beiden Damen intensiv philologisch auseinandergesetzt und ich folge ihrer Phantasie gerne. Zum Schluss bekommt Hannah A. einen Gedichtband zum Lesen, von der argentinischen Autorin Alfonsia Storni, die auch ein bewegtes Leben hatte und zur argentinischen Avantgarde zählt. (H. Keller hat die Bücher ins dt. übersetzt und arbeitet derzeit an einer Biographie). Keller bringt somit auch ihre eigenen literarischen Forschungen mit ein.


    Ich bin beim Lesen in eine spezielle Welt eingetaucht und fühlte mich sehr wohl in dieser Sphäre. Das Lesen hat mich inspiriert mir gleich ein paar Werke von Hannah Arendt zu bestellen, politische Schriften - das Totalitarimus Buch, Eichmann Buch und auch die Biographie von Rahel Varnhagen, der literarischen Salonière aus der Romantik.


    Ich fands auch sehr befremdlich zu lesen, wo Hannah Arendt überall geraucht hat. In den Vorlesungen, im Flugzeug, im Zug, .. kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Manchmal dachte ich mir, rauch nicht soviel, das tut deinem Herz besser.


    Was ich mir gewünscht hätte, wären ein paar Fußnoten. Wenn von den Freunden Hannah Arendts die Rede ist, werden oft nur Vornamen genannt, die aber nicht näher erläutert. Gäbe es Fußnoten müsste die wohlbekannte Internetsuchmaschine nicht so oft in Anspruch genommen werden, und das Buch würde einen in sich geschlossenen Raum haben.


    Dieses Lesevergnügen wird sicher noch einige Zeit bei mir nachwirken. Es ist so ein Buch, das ich bewusst langsam gelesen habe, weil ich die Atmosphäre länger genießen wollte. Ich fühlte mich sehr wohl mit Hannah Arendt.