Beiträge von Anne

    Noch eine letzte Anmerkung: Ich habe das Buch beendet, aber nicht mehr weitergeschrieben. Es hat mich nur wütend gemacht. Trotzdem bereue ich das Lesen nicht.


    Nur noch kurz zusammengefasst: Salli wird zur NVA eingezogen, von dort holte ihn die Stasi ab und er wird inhaftiert. Glücklicherweise nicht körperlich gefoltert. Aber in Verhören musste er mit denen seine Gedichte und Lieder auseinandernehmen. Tag für Tag. Jedes Wort wurde ihm als staatsfeindlich vorgeworfen.
    Man versuchte noch, ihn als IM anzuwerben. Er hat überlegt, aber widerstanden. Danach wollte man ihn wohl loswerden. Durch die Kanzlei Vogel konnte er nach West-Berlin. Dafür wurde ihm die DDR-Staatsbürgerschaft anerkannt. Wenn er das nicht gemacht hätte, müsste er weitere fünf, sechs Jahre ins Gefängnis.
    Salli ist mir sehr sympathisch. Er stellt sich nicht als strahlender Held da, der sich gegen das Regime auflehnt. Er macht Fehler und trifft keine vorschnellen Entscheidungen.

    Kommunalwahl. Da Salli zwei Wohnsitze hatte, bekam er die Unterlagen zu spät und er wollte sich der Stimme enthalten. Keiner der Wahlhelfer konnte oder wollte ihm sagen, wie er zu verfahren hatte. Sie fühlten sich nur in ihrem Ablauf gestört. Ihm wurde vorgeworfen, gegen den Sozialismus zu sein, undankbar zu sein, wo er doch sogar studieren durfte.

    Unverrichteter Dinge verließ Salli das Wahllokal. Nachmittags standen zwei Männer in grauen Anzügen und SED-Parteiabzeichen vor der Tür. Einer trug die Wahlurne. "Warum wollen Sie denn unsere Kandidaten nicht wählen, es sind doch die Kandidaten der Nationalen Front? Andere kriegen Se nicht!"

    Salli blieb "uneinsichtig". Wenn er die Kandidaten nicht kennt, wählt er sie auch nicht.

    "Zurück zum Studium in Leipzig meldete ich mich polizeilich mit Hauptwohnsitz an, um mich besser auf die nächste Kommunalwahl vorbereiten zu können."


    1972, Salli ist 19 und Student der Ingenieurökonomie an der Fachschule für Bauwesen in Leipzig.

    In Halle wird "Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf im Theater aufgeführt. "Die Jugend, das dürfen plötzlich wir sein, mit Lederjacken, in Blue Jeans und Parkas. Mit langen Haaren und Bärten, in Rockerklamotten, so sitzen wir in den Theaterreihen und können nicht fassen, was da auf der Bühne geschieht."


    Wolf Biermann ist seit einigen Jahren verboten. Salli will unbedingt mit ihm reden. Er macht sich per Anhalter auf nach Berlin und sucht ihn. Einziger Anhaltspunkt. Eine Schallplatte soll "Chausseestraße" heißen. Und eine dreistellige Hausnummer, die mit 1 beginnt. Er findet ihn tatsächlich. Und Biermann gibt ihm einen Tipp mit auf den Weg, an wen er sich in Leipzig wenden kann: Pannach (Gerulf, Liedermacher und Texter). Bei dem kann er sich vielleicht was abgucken.


    Salli trägt das Herz auf der Zunge. Das Richtige zu den falschen Leuten zu sagen, bringt ihm den Rausschmiss aus der Ingenieurschule ein. Auch das Auftrittsverbot besteht weiterhin.

    Der Klassenkasper blieb Salli erhalten, auch, als er schon Thälmannpionier war. In Erdkunde zum Beispiel kam der Kasper durch, als der Lehrer "über die verschiedenen Klimazonen der Erde" vorlas und die Ausdehnung der Subtropen erklärte. Verständlicherweise, würden wir die Gegenden doch nie mit eigenen Augen sehen können.


    Salli ist wissbegierig. Er stellt viele Fragen - nach den Juden zum Beispiel. Woran erkennt man sie. Nach dem Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. In den Schulbüchern lesen sie über das kapitalistische Elend. Doch wenn jemand aus der Klasse Westbesuch bekommt, kommt alles Schöne, Bunte, Wohlhabende (Schallplatten, geschmuggelte Bücher, Jeans, Zigaretten, Schokolade). Aber "Made in Germany" sind wir im Osten doch auch.


    Salli ist 14. Als er ein polnisches Mädchen, deren Familie in die DDR kam, weil der Vater Arzt war und viele Ärzte in den Westen gegangen sind, als Judensau beschimpft, gibt es mächtig Ärger. Der Vater kommt in die Schule und Salli muss sich bei ihm entschuldigen. Dabei sieht er, dass dem Mann Tränen in den Augen stehen. Am Nachmittag kommt der Arzt auch zu ihm nach Hause und drückt ihm ein paar Bildbände in die Hand. Bilder, wie die Nazis in Polen gewütet haben. Da kommt Salli dann doch ins Grübeln. In der Clique, wo über die Juden geschimpft wurde, fühlt er sich dann nicht mehr wohl.


    "Die Clique und ich, wir waren auseinander. Die verstanden nicht, dass ich nicht Hitler meinte, wenn ich davon redete, dass es ehrlicher zugehen müsse im Sozialismus. Ich verstand nicht mehr, was das miteinander zu tun haben sollte: der deutsche gescheiterte Nazidiktator als Alternative zu den DDR-Zuständen."


    Im Frühjahr 1968 erlebte Salli die Auswirkungen des Prager Frühlings mit. Er lebte ja nahe der Grenze zur CSSR. Ein 18-jähriger Junge aus seinem Ort wurde denunziert, als er den Namen "Dubček" an eine Wand schrieb. Der war die Leitfigur des Prager Frühlings. Zwei Jahre musste der Junge im Bautzener Zuchthaus absitzen. Als er wieder draußen war, wurde er im Ort von den Leuten geschnitten.

    Und die Quittung folgte in Form eines Briefes auf dem Fuße:


    "Der Chansonclub Leipzig hat aufgrund der Vorkommnisse beim Auftritt vor Parteiveteranen und der folgenden Aussprache beschlossen, nicht mehr mit Salli Sallmann aufzutreten."


    Somit erlosch auch seine Auftrittsgenehmigung als Solist. Er zögerte es so weit wie möglich hinaus, seinen Ausweis zurückzugeben, um noch so viele Auftritte wie möglich machen zu können.


    Die Partei schloss notorische Trinker aus. Sie wusste auch, warum die Menschen im Kapitalismus so viel tranken: Weil es ihnen so schlecht geht.

    Da frage ich mich doch, warum so viele Menschen in der DDR tranken. Denn das war ein großes Problem (weiß ich aus eigener trauriger Familienerfahrung).

    Kennt jemand die Serie "Kiezgeschichten"? Das war noch eine DDR-Serie von 1987. Da geht es um die Bewohner der Griseldastraße 9 in Berlin. An und in den Häusern wurde gebaut und man sah, dass die Schnapsflaschen schon am Vormittag auf dem Tisch standen.


    Salli war eines der Kinder, das auf dem Schulhof verprügelt wurde. Als er einmal laut um Hilfe schrie und dabei die Augen verdrehte, ließen ihn die Jungen lachend los. Und so wurde Salli Klassenkasper. Das verschlechterte zwar seine Betragensnote, aber er gewann, warum auch immer, Freunde.

    Doch auch die Feinde blieben nicht weg. Auf dem Heimweg wurde er immer noch verprügelt. Heute nennt man das Mobbing. Damals hat es kaum jemanden interessiert. Die Eltern wollten es nicht hören und in der Schule was zu sagen, machte die Sache nur noch schlimmer.

    Dann fiel den Jungen auf, dass Salli sein Pioniertuch nicht trug (er hat einfach nicht den entsprechenden Knoten hinbekommen), und sie zwangen ihn, die Pioniergebote auswendig zu lernen:


    "WIR JUNGPIONIERE lieben unsere Deutsche Demokratische Republik. WIR JUNGPIONIERE helfen mit, den Frieden zu schätzen. WIR JUNGPIONIERE lieben unsere Eltern. WIR JUNGPIONIERE halten Freundschaft mit den Kindern aller Länder. WIR JUNGPIONIERE lernen fleißig, treiben Sport und halten unseren Körper sauber. WIR JUNGPIONIERE sagen die Wahrheit. WIR JUNGPIONIERE helfen überall tüchtig mit. WIR JUNGPIONIERE singen, tanzen und spielen gern. WIR JUNGPIONIERE sind gute Freunde und helfen einander. WIR JUNGPIONIERE tragen mit Stolz unser blaues Halstuch."


    Fortsetzung folgt...

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    Die verschwiegene Bibliothek in der Edition Büchergilde; herausgegeben von Ines Geipel und Joachim Walther - https://www.buechergilde.de/shop/produkte/162067-badetag


    Inhalt

    Warum hast du nur ,Badetag' gesungen? Jetzt heißt es, der Chansonclub Leipzig verbreitet feindlich negative Texte", wird Salli Sallmann nach einem seiner Auftritte vorgeworfen. Das ist der Anfang vom Ende des Liedermachers in der DDR. Tatsächlich geht es in dem Lied nur um eine zu enge Küche und um Liebe in der Badewanne. Salli Sallmanns autobiografische Berichte, Balladen und Gedichte zeigen den authentischen DDR-Alltag, erzählen vom Eigensinn in einem repressiven System und von den möglichen Folgen, benennen, was die Menschen bewegte, was sie fröhlich stimmte oder verzweifeln ließ. Ein zeitgeschichtliches Dokument von besonderer Relevanz und Eindringlichkeit.


    Buchbeginn

    Menschen, die in der DDR Gitarre spielten, eigene Melodien und eigene Texte verfassten und auch noch der Meinung waren, mit ihren musikalischen Produkten auftreten zu müssen, benötigten eine ordentliche staatliche Erlaubnis, da die DDR-Behörden meinten, in der DDR müsse es ordentlich zugehen und da könne nicht jeder einfach so singen, was er will.



    Aus dem Lesetagebuch


    DDR, 1970er-Jahre. Der Liedermacher Salli Sallmann trat während seiner Studienzeit bei allen Möglichkeiten auf, die sich ihm boten. Bis man ihm mitteilte, dass er damit strafbare Handlungen beging. Um auftreten zu dürfen, brauchte er eine Auftrittserlaubnis und zusätzlich musste er sich einem Ensemble angliedern. Die Aufnahmeprüfung hatte er nur geschafft, weil er seine Liebesballaden, aber keine politischen Songs zum Besten gab.

    Er wurde vom Chansonclub Leipzig aufgenommen, den Ortwin Quartz leitete. Dieser Club sang das Repertoire des "Oktoberklub", wie zum Beispiel "Brüder zur Sonne zur Freiheit", "Sag mir, wo du stehst" - "und alle gängigen Freiheitslieder der Befreiungsbewegungen sowie sowjetische Solidaritäts- und Militärlieder.

    Salli Sallmann erhielt aber gleich zu Beginn die Order, keine politischen Texte zu singen:


    ",Da ist nur eine Sache', sagte Ortwin Quartz nach einem Auftritt im Maschinenbau-Klubhaus ,Roter Oktober'. ,Manche deiner Songs passen nicht besonders zu unserem Programm. Sing doch bei uns lieber deine schönen traurigen Liebeslieder und lass die politischen Sachen weg. Wir pflegen hier das Chanson, und wir wollen doch Erfolg haben, aufsteigen, auch mit dir zusammen! Da musst du uns auch ein bisschen entgegenkommen!'"


    Doch schon beim nächsten Auftritt trickste Salli und sang als letztes die "Bahnhofsballade", die davon erzählte, wie er wegen seiner "langen Haare von der Transportpolizei verprügelt worden war".


    Nach dem vorprogrammierten Ärger gelobte er Besserung. Aber nicht für lange. Während eines Auftritts im Leipziger Klubhaus der SED-Parteiveteranen sangen sie "Bella Ciao", "Partisanen vom Amur", "We shall overcom", "Wem gehören die Fabriken?" und "Die ganze Erde uns und kein Stück unseren Feinden". Während dieses Auftritts brach die Solistin zusammen.

    In heller Aufruhr meinte Ortwin Quartz, Salli solle weitermachen. Doch der konnte mit den politischen Texten nichts anfangen. Dann eben dein Zeug, meinte Quartz und Salli nahm ihn natürlich beim Wort. Und so sang er mit seiner Gitarre vor zweihundert Veteranen der SED sein "Spielzeuglied" (gegen den Verkauf von Kriegsspielzeug in DDR-Kaufhäusern), "Badetag", "in dem auf miese Wohnverhältnisse in der DDR angespielt wurde, und einen Song über das Trampen in der DDR. Hier geht es darum, dass man den "Zwängen der Zeit" "den Zahn ziehen sollte", und sei es durch Flucht. Der Beifall hielt sich in Grenzen.


    Fortsetzung folgt...

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    Mir fiel es noch nie so schwer, ein Buch zu beenden. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre oder nicht interessant genug. Ganz im Gegenteil. Aber so geballt zu lesen, wie Frauen herabgewürdigt werden, sie nur nach Äußerlichkeiten beurteilt werden und nicht nach ihren Werken. Was müssen viele der Männer dieser Gruppe für Angsthasen gewesen sein.

    Dies ist nicht das erste Buch dieser Art, das ich gelesen habe. Ich erinnere an "Zensiert, verschwiegen, vergessen" von Ines Geipel und "Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben" von Iris Schürmann-Mock. Nach diesen Leseerfahrungen möchte ich mich fast den Ärzten anschließen: "Männer sind Schweine". Und ich habe immer weniger Lust, das Buch eines Autoren in die Hand zu nehmen.


    Inhalt

    Nicole Seifert erzählt die Geschichte der Gruppe 47 aus einer neuen Perspektive: der der Frauen. Ihr Ergebnis kommt einer Sensation gleich. »Einige Herren sagten etwas dazu« macht es zwingend, die deutsche Gegenwartsliteratur neu zu denken, die literarische Landschaft neu zu ordnen.

    Es waren viel mehr Autorinnen bei den berühmt-berüchtigten Treffen der Gruppe 47 als Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, aber sie sind in Vergessenheit geraten, sie fielen aus der Geschichte heraus – wie sich nun herausstellt, hatte man ihnen oftmals gar nicht erst Zutritt gewährt. Und wurden sie miterzählt, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte, sondern als begehrenswerte Körper oder als tragische Wesen. Nicole Seifert erzählt von den Erfahrungen der Autorinnen bei der Gruppe 47, von ihrem Leben in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der BRD und von ihren Werken.

    Ein kluges, augenöffnendes Buch, das sofort große Lektürelust entfacht. Schriftstellerinnen wie Gisela Elsner und Gabriele Wohmann müssen neu gelesen, Schriftstellerinnen wie Ruth Rehmann, Helga M. Novak und Barbara König neu entdeckt werden. Ein ganz neuer Blick auf die Gruppe 47 und die Nachkriegsliteratur, der uns bis in die Gegenwart führt.


    "Die Geschichte einer Frau umzuschreiben, erfordert zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den männlichen Vorgaben, die sie zuvor definiert haben. Um gegen eine Ideologie zu argumentieren, muss man sie anerkennen und artikulieren. Im Zuge dieses Prozesses mag man seiner Opposition unabsichtlich Gehör verschaffen."


    Jia Tolentino, "Trick Mirror"


    Die Frauen der Gruppe 47 in diesem Buch


    Ruth Rehmann

    Ingrid Bachér

    Ilse Schneider-Lengyel

    Ilse Aichinger

    Ingeborg Bachmann

    Ingeborg Drewitz

    Barbara König

    Gabriele Wohmann

    Gisela Elsner

    Christine Koschel, Christa Reinig

    Griseldis L. Fleming

    Helga M. Novak

    Elisabeth Borchers

    Elisabeth Plessen

    Barbara Frischmuth

    Renate Rasp


    Zitate


    Es gab so viele Stellen in diesem Buch, die es wert wären, herausgeschrieben zu werden. Aber ihr sollt, falls ich euch neugierig gemacht habe, das Buch ja noch lesen und so belasse ich es bei diesen beiden:



    "Ilse Schneider-Lengyel ist die erste einer Reihe von Autorinnen, bei denen die Diskrepanz zwischen ihrem Leben und Wirken und dem Bild, das später von ihnen gezeichnet wurde, gigantisch ist. Ihr Beispiel macht deutlich: Um die Autorinnen der Gruppe 47 überhaupt sehen und beurteilen zu können, müssen sie zunächst einmal von den Geschichten befreit werden, die um sie herum gesponnen wurden, seien sie abfällig oder Stoff für Legenden. Denn wenn die Frauen ,nicht' aus der Geschichte der Gruppe 47 herausfielen, sondern miterzählt wurden, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte. Die männliche Rede über das Weibliche hat sich nicht nur im Fall von Ilse Schneider-Lengyel vor ihr Werk gestellt, Ähnliches geschah auch bei Ilse Aichinger."



    "Mir fehlt in der Debatte um weibliche Kunst und Weiblichkeit im Öffentlichen immer ein einziges Wort: Verachtung. Seltsamerweise spricht es nie jemand aus, nicht einmal Feministinnen, vielleicht weil sie es sich nicht eingestehen wollen, doch es ist bezeichnend für das, was die Frau für ihre Arbeit bekommt, auch wenn das eben nie ausgesprochen wird. Die Verachtung des weiblichen Werks."


    Elfriede Jelinek


    5ratten