Günter Grass bei der Waffen-SS?!

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  • Ich finde die Frage falsch gestellt, wenn die Debatte sich stets darum dreht, ob Grass einen Fehler gemacht oder seine moralische Autorität verspielt hat.


    Der Punkt ist, Grass hat seine Vergangenheit nicht verschwiegen, jedenfalls nicht wirklich. Grass hat seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS bereits 1945, als er in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet, angegeben. In den 60er Jahren erwähnte er es in einem Interview, und in den 80ern sprach er in einer Schriftstellerrunde darüber, wie 2006 im Zuge der Kontroverse um Beim Häuten der Zwiebel herauskam. Das heißt doch nichts anderes, als dass es ganze 60 Jahre gedauert hat, bis sich jemand für Grass' Nazi-Jugend interessiert hat – und vorher war es der Öffentlichkeit jahrzehntelang egal, obwohl man es hätte wissen können. In den 2000ern taugte Grass' »Enthüllung« immerhin für einen PR-Stunt und eine erregte Debatte. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit hätte sie nur ein müdes Achselzucken hervorgerufen. Schließlich waren alle, vom Bundeskanzler bis zum Realschullehrer, entweder in der Waffen-SS oder in anderen Nazi-Organisationen gewesen, und wenn nicht, dann war man beim Vernichtungskrieg der Wehrmacht dabei.


    Grass' moralisches Versagen ist in meinen Augen nichts anderes als das Versagen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, zu einem wirklich kritischen Umgang mit dem Faschismus zu gelangen. Anstelle eines solchen gab es jede Menge Beteuerungen, man sei jetzt desillusioniert, habe dazugelernt und werde der Welt beweisen, dass die Deutschen wieder gut sind. Schenkte man den Beteuerungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration Glauben, müsste man zu dem Schluss gelangen, dass es gerade die Erfahrung von NS-Diktatur und Krieg war, die die ehemaligen Hitlerjungen und Wehrmachtssoldaten zu moralisch besonders wertvollen Individuen machte, dazu prädestiniert, anderen vorzuschreiben, was falsch und was richtig ist – genau das, was Grass in seinen hahnebüchenen Auslassungen zum Nahostkonflikt tut: Der gute Deutsche hat bei der HJ und an der Ostfront mitgemacht, hat bekümmert erkannt, wie falsch das war, und darf deshalb jetzt alle Welt (besonders aber die Juden und die Amis) darüber belehren, wie man den Weltfrieden nicht bedrohen darf.


    Was an Grass deutlich wird, ist nicht ein individuelles moralisches Versagen, sondern das jahrzehntelange Versagen einer ganzen Gesellschaft, sich auf glaubwürdige Weise mit ihrer verbrecherischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Für mich ein Grund, sogenannte moralische Autoritäten ins Museum zu schicken – besonders solche, die im Vor- und Nachkriegsdeutschland sozialisiert wurden. Selber denken ist einfach schöner. :smile:


  • Es geht nicht darum Grass zu richten. Es geht darum, dass jemand, der seine eigene NS Vergangenheit verschwiegen hat, als moralische Instanz versagt hat und
    deshalb ungeeignet ist auf andere mit dem Finger zu zeigen und ihnen Vorhaltungen zu machen.



    Zu Mal es nach wie vor ein Junge von 17 Jahren war und kein Erwachsener der damals im Krieg war, es wird immer so getan als ob er weiß gott was vertuscht hätte, aber er war sehr jung und grade hier kann man sich noch ändern. Und wer seine Romane gelesen hat, wusste sowiso das hier jemand schreibt der nicht einfach so auf seine Themen kam... Ich finde es wird hier in keinem Verhältnis geurteilt.
    Für mich ist Grass aus anderen Gründen kein Vorbild. Er meldet sich immer dann zu Wort wenn eigentlich schon alles gesagt ist und plustert sich gerne als Moralist auf. Immer dann wenn er mal wieder Aufmerksamkeit braucht. Das ist für mich nicht glaubwürdig.


    Eben. Er war 17. Und deshalb hätte ihm auch niemand einen Strick daraus gedreht, wenm er sich geoutet hätte. Aber dieser Makel hätte nicht zu seinem
    ikonenhaften Selbstbild gepasst. Er wäre dann eben auch einer der vielen gewesen, die mit dabei waren und nicht der, der über den Dingen steht.
    Es war doch Grass, der immer wieder die Bewältigung der Vergangenheit eingeklagt hat. Nur er, der Nobelpreisträger, hat selbst dann 60 Jahre zu seinem Geständnis gebraucht.



    In den 60er Jahren erwähnte er es in einem Interview...


    In einem Interview erwähnt? Welches Interview wäre das denn?


    VG Helmut


    Nachtrag:
    Anubis - Du hast recht, leider.
    http://gaebler.info/politik/grass_vergangenheit.htm#22


  • Ich meine, dass die Frankfurter Rundschau* 2006 die Sache etwa so dargestellt hat: Grass gab in den 60ern ein Interview und reichte dazu (wie das so üblich ist) einige biographische Informationen ein. In diesen war seine SS-Mitgliedschaft aufgeführt. Die Interviewer hielten das aber anscheinend nicht für bemerkenswert, so dass die SS-Mitgliedschaft in der publizierten Form des Interviews nicht erwähnt wurde. Mir erscheint das symptomatisch für die Zeit vor 1968: Man brauchte seine NS-Vergangenheit gar nicht aktiv zu verschweigen, denn man konnte sicher sein, dass sich niemand dafür interessierte.


    * Kann auch eine andere Zeitung gewesen sein, im Online-Archiv der FR habe ich den Artikel auf die Schnelle nicht gefunden.


  • * Kann auch eine andere Zeitung gewesen sein, im Online-Archiv der FR habe ich den Artikel auf die Schnelle nicht gefunden.


    Anubis - OK, danke für die Info. Dieses öffentliche Desinteresse daran ist natürlich noch einmal ein ganz anderes Thema. Und auch wenn Grass jetzt nichts aktiv verschwiegen hat (er war wahrscheinlich so schlau zu wissen, dass er das mit den amerikanischen Militärakten gar nicht dauerhaft und zuverlässig konnte), so hat er auch nichts zu aktiver Aufklärung beigetragen. Genau das hat er von anderen aber immer eingefordert. Und genau das ist die Heuchelei. Wie anders wäre doch ein Grass, der gesagt hätte: ja, ich war auch dabei und so ist es gelaufen. Und weil ich nicht will, dass sich so etwas wiederholt stelle ich mich der Diskussion. Chapeau.


    VG Helmut