Keith Lowe - Der wilde Kontinent

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    Keith Lowes hervorragendes Sachbuch "Der wilde Kontinent" trägt den Untertitel "Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950" und umschreibt damit den Kontext genauer, denn Lowe räumt in seinem Buch mit der allgemeinen Vorstellung auf, dass mit der Kapitulation des Deutschen Reiches am 08.05.1945 der Zweite Weltkrieg in Europa auf einen Schlag beendet war. Vielmehr verdeutlicht er, inwiefern die nationalsozialistische Herrschaft über weite Teile Europas den gesamten Kontinent destabilisierte, und wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Siegermächte im Schatten des heraufziehenden Kalten Krieges die bestehenden Konflikte für ihre Zwecke instrumentalisierten.


    Das Buch besteht aus vier Teilen, die "Das Erbe des Krieges", "Rache", "Ethnische Säuberung" und "Bürgerkrieg" überschrieben sind. Im ersten Teil werden zunächst relativ konkrete Folgen des Krieges thematisiert, wie etwa die materiellen Zerstörungen, aber auch schon Aspekte wie die Vertreibung bestimmter Gruppen angesprochen, die in den weiteren Kapiteln vertieft werden. Dabei finde ich die Blickrichtung Lowes besonders wichtig, der eben nicht nur die (häufig vertretene) Sicht auf Deutschland hat, sondern im Kapitel "Rache" beispielsweise auf den Umgang mit Kollaborateuren in verschiedenen europäischen Ländern eingeht und damit auch verdeutlicht, dass kein Land auf dem Kontinent unbeschadet aus dem Krieg herausgegangen ist und insbesondere innenpolitische Schwierigkeiten oft noch lange nach Kriegsende anhielten.

    Dies hatte durchaus auch mit der Art des Zweiten Weltkrieges zu tun, die alte Konflikte massiv befeuerte und neue Konflikte durch die Umwälzung Europas schuf:

    Zitat

    Der Zweite Weltkrieg war [...] nicht nur ein traditioneller Konflikt um Territorien: Er war gleichzeitig ein Krieg zwischen ethnischen Gruppen und Völkern (war of race) und ein Krieg der Ideologien, und er war mit einem halben Dutzend Bürgerkriegen verflochten, die rein innerstaatliche Gründe hatten. (S. 444)

    Diese Bürgerkriege werden ebenso wie die durch den übersteigerten Nationalismus, der in vielen Ländern aus den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft resultierte, herbeigeführten ethnischen Säuberungen an verschiedenen Beispielen verdeutlicht, deren Relevanz zum Verständnis unserer Gegenwart der Autor immer wieder thematisiert. Und gerade hier ist der Blick in die "Randbereiche" Europas besonders gewinnbringend, beispielsweise bei der Beschäftigung mit den Bürgerkriegen in Griechenland und Jugoslawien. Und mit dem Ausblick auf den Kalten Krieg schließt sich hier der Kreis sinnvollerweise, da Lowe sich auch jeweils mit der Frage beschäftigt, welche Interessen die Supermächte bezogen auf die jeweiligen Konflikte hatten, die häufig von linken (kommunistischen) wie rechten (teils postfaschistischen) Gruppen angeheizt wurden. So erklärt sich auch die teilweise lange Dauer dieser Konflikte über den Zweiten Weltkrieg hinaus mit dem Abstecken der jeweiligen Interessensphären und der Klärung der Frage, wieviel Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten als sinnvoll erachtet wurde.


    Keith Lowe hat mit "Der wilde Kontinent" eine gut lesbare, wissenschaftlich fundierte und toll aufgebaute Darstellung Europas "in den Jahren der Anarchie" verfasst, die ich allen Geschichtsinteressierten nur empfehlen kann.


    5ratten