Menachem Kaiser - Kajzer: Mein Familienerbe und das Abenteuer der Erinnerung

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    In seinem Memoir "Kajzer: Mein Familienerbe und das Abenteuer der Erinnerung" schildert Menachem Kaiser, Enkel eines Holocaustüberlebenden, seine Erfahrungen mit dem Versuch, ein Mietshaus in Polen, das einst seinem Urgroßvater gehörte, für die Familie zurückzuerhalten, und seine in diesem Zusammenhang erlebten Einblicke in die Familiengeschichte. Dabei hinterfragt der Autor auch immer wieder seine eigenen Motive, die Suche nach Informationen und das Gerichtsverfahren rund um das Haus voranzutreiben, und setzt sich dabei nicht nur mit der Geschichte seiner Familien, sondern auch allgemein mit dem Umgang mit dem Holocaust und dessen Folgen auseinander.

    Zitat

    [...] im Kern ging es ja nie wirklich darum, ob es mir gelingen würde oder nicht, Familienbesitz zurückzubekommen; solche Einsätze sind bedeutungslos. [...] Ich kann nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, dass es das gewesen wäre, was mein Großvater gewollt hätte. Vielleicht wäre es ihm ja viel lieber gewesen, keiner seiner Nachfahren wäre je nach Polen zurückgekehrt, als der Besitz seiner Vaters wäre zurückgewonnen worden. [...] Es geht weniger um das Gebäude als um das, wofür das Gebäude steht, und wiederum darum, wofür die Rückforderung steht; das sind offene Fragen. Was hier bedeutsam ist, ist weniger der Name auf einer Besitzurkunde als der Versuch und das Misslingen und der neuerliche Versuch zu verstehen, was es bedeutet, zu verlieren, zu nehmen, zurückzuholen, einzudringen, zu erben, sein Vermächtnis zu definieren, sein Vermächtnis zu deklarieren, sein Vermächtnis aufzubürden, sein Vermächtnis misszuverstehen, etwas einen Wert - historisch, materiell, sentimental - zuzuschreiben und dann diesen Wert umgehend anzuzweifeln, die Rolle des Protagonisten in einer Geschichte zu übernehmen, die nicht die deine ist und die du nicht verstehen kannst, die Moralgeschichte von jemand anderem neuerlich in Gang zu setzen, die ouroborische Spirale von Fragen zu Familie, Geschichte, Gerechtigkeit, Geld, Religion, Ego, Objekt, Erinnerung, Bedeutung wieder in Bewegung zu setzen. (S. 298 f.)

    Die Ambivalenz gegenüber dem Erbe des Großvaters und der Familiengeschichte, die hier ebenso angedeutet wird wie die vielen unterschiedlichen Facetten, die die Auseinandersetzung mit diese Themen für den Autor hat, ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Obwohl durch dieses ständige Hinterfragen auch viele Denkansätze offen bleiben, hat sich der Autor bewusst für die Form des erzählenden Sachbuchs anstelle eines Romans entschieden, obwohl er diesen hätte abschließen können, was so nicht gelingt. Gerade das hat mir an Menachem Kaisers Buch gut gefallen, weil er damit auch seinen LeserInnen Denkanstöße für das eigene Geschichtsbewusstsein mitgibt.


    Der englische Originaltitel "Plunder. A Memoir of Family Property and Nazi Treasure." ist wesentlich treffender als der deutsche Titel, weil ein großer Teil des Buches in der Schilderung der Reisen des Autors durch Schlesien, die Gegend, aus der sein Großvater stammt, besteht, bei denen er unter anderem immer wieder mit Schatzsuchern auf der Suche nach vermeintlichen Nazi-Schätzen zusammentrifft. Das hängt damit zusammen, dass ein Holocaust-Überlebender namens Abraham Kajzer, von dem sich herausstellt, dass er ein Cousin von Menachems Großvater war, ein Buch über seine Haft in verschiedenen Lagern und seine Mitarbeit beim Bau geheimer Anlagen geschrieben hat, das unter Schatzsuchern in Polen bis heute Kultstatus genießt. Die Begegnungen mit diesen Schatzjägern sind manchmal skuril, manchmal auch wirklich unterhaltsam. Gerade in diesem Kontext wird deutlich, dass der Autor auch versucht, die polnische Perspektive auf die Geschichte und den Umgang mit ihr zu verstehen.


    Am Ende steht die Erkenntnis, dass Menachem Kaiser mehr über diesen Abraham herausgefunden hat als über den eigenen Großvater, auch die Wiedererlangung des Gebäudebesitzes ist noch ungewiss, ebenso ob diese letztlich ein Gewinn oder doch eher eine "Plünderung" der heutigen BewohnerInnen wäre, die von der Geschichte des Hauses und der damit verbundenen Familie Kaiser wahrscheinlich gar nichts ahnen. Und dabei ist der Autor erstaunlich offen, er kann für sich selbst die Frage nicht beantworten, ob der materielle Wert die entscheidende Rolle spielt, oder sentimentale Aspekte mit hineinspielen, obwohl (oder vielleicht auch gerade weil) er über seinen Großvater letztendlich nicht mehr erfahren hat, als er zu Beginn seiner Suche wusste.


    Letztendlich ist "Kajzer" ein komplexes Sachbuch, das zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichtsbewusstsein herausfordert, und dabei natürlich die Folgen des Holocaust in den Fokus stellt. Die angenehme Sprachgestaltung und Erzählweise machen das Buch gut lesbar, ich hatte einige unterhaltsame Stunden damit.


    5ratten