Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker - Sprache ist, was du draus machst!

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    Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker: Sprache ist, was du draus machst! Wie wir Deutsch immer wieder neu erfinden, München 2024, Droemer Knaur GmbH & Co. KG, ISBN 978-3-426-44612-6, Hardcover, 255 Seiten mit s/w-Graphiken, Format: 13,2 x 2,18 x 21 cm, Buch: EUR 21,00 (D), EUR 21,60 (A), Kindle: EUR 17,99, auch als Hörbuch lieferbar.


    „Anstatt aus meiner Position als Sprachwissenschaftler heraus die Regeln für korrektes Deutsch zu verkünden und zum Beispiel normabweichende Schreibungen in Sozialen Medien zu verurteilen, habe ich dafür plädiert, genauer hinzusehen. Es geht darum, nach den Gründen zu fragen, warum eine Sprache so vielfältige Ausprägungen annimmt, aber auch um eine Reflexion, wer sich in welcher Weise und mit welchen Motiven und Argumenten an den Diskussionen um korrektes Deutsch beteiligt.“ (Seite 209)


    Was machen eigentlich Linguisten?


    Auch wenn ich vom Schreiben lebe: Ich habe keine wissenschaftliche Grundlage. Ich mach‘ das intuitiv und hemdsärmelig. Linguistik habe ich mir immer trocken und theoretisch vorgestellt – mit Resultaten, die außerhalb des „Elfenbeinturms“ keinen interessieren. Dann ist mir das Buch von Simon Meier-Vieracker, Professor für Angewandte Linguistik, vor die Füße gelaufen und ich fand das, was er über sein Fachgebiet berichtet, hochinteressant, alltagsrelevant und spannend!


    Der Professor hat Übung darin, seine Erkenntnisse kurz, knackig und volksnah zu präsentieren: Er hat einen TikTok-Kanal (#LinguisTikTok). Sowas wird zwar in Wissenschaftlerkreisen nicht gern gesehen, aber egal. Ohne den Kanal gäb’s dieses Buch nicht. Und das wäre schade.


    Sprache ist flexibel


    Worum geht’s hier also? Um den Sprachwandel, unter anderem. Wenn es von Haus aus verschiedene Arten gibt, Deutsch zu sprechen – Standarddeutsch/Hochdeutsch, Dialekte, Soziolekte, dazu noch verschiedene Register (situationsbezogen formell oder informell) und wir munter zwischen diesen Varianten hin- und herspringen, wieso fühlen sich dann viele Menschen von Veränderungen bedroht? Sprache scheint ja durchaus flexibel zu sein.


    Verlottert unser Deutsch, wenn Begriffe und Formulierungen aus anderen Sprachen einwandern? Zum Beispiel das aus dem Englischen stammende „Sinn machen“. Lässt uns da die Abwehr gegen das Fremde korrigierend eingreifen? Ist das am Ende ein latent fremdenfeindlicher Akt? – Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Kann denn nicht jeder selbst entscheiden, ob er „Sinn machen“ oder „Sinn ergeben“ verwendet? Das eine ist, laut Auskunft des Autors, nicht „richtiger“ als das andere.


    Was ist richtiges Deutsch?


    Überhaupt: „richtiges“ Deutsch! Natürlich gibt es Fehler, die durch nichts zu entschuldigen sind, zum Beispiel die Verwechslung von das/dass oder seit/seid. Doch nicht alles, was vom normierten Standard-Deutsch abweicht, ist automatisch falsch. Manches ist lediglich eine regionale Besonderheit, vor allem bei der Aussprache. Raaaad oder Ratt? Könik, Könich oder gar Könisch? Oder bei Formulierungen wie „ich habe im Zug gesessen“ versus „ich bin im Zug gesessen“.


    Was korrektes Standarddeutsch ist, wurde erst vor ca. 130 Jahren festgelegt, und das recht willkürlich. Wenn man alles, was – vor allem mündlich – davon abweicht, als falsch bezeichnen würde, hieße das, das zwei Drittel der Deutschsprachigen kein richtiges Deutsch könnten. – Klar, man orientiert sich am Standarddeutsch, schon der Verständlichkeit wegen. Dennoch wird es immer Varianten geben, die in einer Region als völlig normal gelten und sich in einer anderen total verkehrt anhören. Kein Grund zum Streiten, einander auszulachen oder auch nur die Nase zu rümpfen!


    Schreiben in den Sozialen Medien


    Manchmal pfeifen selbst gebildete Menschen auf die korrekte Schreib- und Ausdrucksweise. Dann nämlich, wenn sie in einem Chat interaktionsorientiert schreiben. Das sind keine Texte für die Allgemeinheit oder gar für die Ewigkeit. Es ist nur wichtig, dass es schnell geht und der Dialogpartner einen versteht. Da schreibt man schon mal: „wadde ma gucke ma kurz im internet“. Das bedeutet nicht, dass Leute, die das tun, nicht in der Lage sind, in anderen Situationen formal korrekte Texte zu verfassen. Diese „schludrige“ Chat-Schreibweise ist lediglich eine Anpassung an die Erfordernisse des Mediums. Eine Erweiterung der Sprache, nicht deren Untergang.


    „Als Sprachwissenschaftler schaue ich […] entspannt und häufiger noch mit detektivischer Begeisterung darauf, wie im Netz immer wieder neue Schreibweisen jenseits der schriftsprachlichen Norm entstehen.“ (Seite 74)


    „Euch allen noch nh schönen Tag“


    Hochinteressant finde ich die Ausführungen zu der Verwendung von ne bzw. nh anstelle unbestimmter Artikel. Wenn diese Kurzform inzwischen von der mündlichen Aussprache entkoppelt und zu einer rein schriftlichen Form geworden ist, wird mir einiges klar. Und ich kann auch bei Formulierungen wie „Euch allen noch nh schönen Tag“ gelassen bleiben. Es gibt keinen empirischen Beleg dafür, dass sowas in die formal korrekte Schriftsprache einsickert. Es ist wohl wirklich nur ein weiteres Register.


    Sternchen sehen: Warum gendern?


    Ein Reizthema, an dem man als Sprachwissenschaftler wohl nicht vorbeikommt, ist das Gendern. Wir erfahren hier unter anderem, wenn wer es nicht ohnehin schon wussten, dass das generische Maskulinum gar nicht so neutral ist, wie es immer tut. 😉 Ein Blick in die Vergangenheit zeigt:


    „Ob mit ‚Ärzten‘, ‚Professoren‘, ‚Bürgermeistern‘ oder ‚Wählern‘ auch Frauen gemeint sein können, diese Frage stellte sich oft gar nicht, da ohnehin nur Männer diese Berufe und Ehrenämter ausüben durften oder das Wahlrecht hatten.(Seite 103/104)


    Unsere Sprache bildet heute die Wirklichkeit also gar nicht mehr ab. Das Gendern ist der Versuch, der Ungleichbehandlung der Geschlechter mit der Sprache entgegenzuwirken. Wer die entsprechenden sprachlichen Konstruktionen unschön findet, kann das Gendern auch bleiben lassen. Es zwingt einen niemand. Der Autor rät zur Gelassenheit und dazu, abzuwarten, ob sich das überhaupt durchsetzt.


    Wie sich Sprache verändert


    Ach ja: Wie sprachliche Veränderungen entstehen und sich verbreiten, („Trampelpfad“), wie man sie misst und wie man feststellt, was sie beim Rezipienten bewirken, das erfahren wir hier auch. Die Graphiken machen das recht anschaulich.


    Wie man uns zu manipulieren versucht


    Faszinierend ist das Kapitel MIT SPRACHE POLITIK MACHEN: DIE MACHT DER WÖRTER. „Framing“ war mir ein Begriff und was gezielt ausgewählte Metaphern auslösen können, war mir auch nicht neu. Doch was man mit unscheinbaren Wörtchen wie „statt“ und „wieder“ anzurichten vermag, ist so perfide, dass ich regelrecht schockiert war. Den Fachbegriff „Präsupposition“ werde ich sicher schnell wieder vergessen, den Mechanismus nicht!


    Phrasen auf‘m Rasen


    Zum Kapitel PHRASEN AUF’M RASEN – DIE SPRACHE DES FUSSBALLS kann ich nicht viel sagen. Von dem Thema habe ich schlicht keine Ahnung. Hängen geblieben ist: Weil alles schnell gehen muss und weil die Leser:innen und Hörer:innen es inzwischen sogar erwarten, bedient man sich der immergleichen Formulierungen. Das scheint übrigens kein spezifisch deutsches Phänomen zu sein.


    Wie denkt die KI?


    Da inzwischen nicht nur Menschen reden und schreiben, sondern auch die künstliche Intelligenz, ist auch ihr ein Kapitel gewidmet. Jetzt weiß ich ungefähr, wie Chat GPT lernt, selbst wenn ich den Vorgang nicht im Detail erklären könnte. Der Autor macht sich auch interessante Gedanken darüber, was wir von künstlich generierten Texten erwarten können und dürfen.


    „So wie die Erfindung der Fotografie die Malerei nicht ersetzt, sondern verändert hat, ist davon auszugehen, dass sich auch menschliches Schreiben verändern wird. Es wird aber immer Bereiche geben, in denen wir künstlich generierte Sprache nicht nutzen können oder nicht nutzen wollen.“  (Seite 207/208)


    Er räumt jedoch ein, dass sich die Entwicklung rasant verändert und sein Beitrag zu dem Thema nur eine Momentaufnahme sein kann.


    Ein kleines bisschen schlauer …


    Nachdem ich dieses Buch gelesen habe, fühle ich mich tatsächlich ein winziges bisschen schlauer. Sprachwissenschaftler machen ja gar nicht nur abgehobenes Zeug! Sie helfen uns, unsere Gesellschaft und aktuell geführte Debatten besser verstehen und einordnen zu können. Einiges sehe ich jetzt anders, klarer oder auch gelassener. Und für so manche manipulative Sprach-Schweinerei hat mir der Autor erst die Augen geöffnet. Da werde ich künftig genauer hinsehen, hinhören und auf der Hut sein!


    Der Autor


    Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker ist Inhaber der Professur für Angewandte Linguistik an der TU Dresden. Er forscht u. a. zu den Zusammenhängen von Sprache und Politik, Fußball und Fußballfankulturen sowie Sprache und Medizin. Für seinen TikTok-Kanal zur Linguistik wurde er 2023 mit dem Preis “Die Goldenen Blogger“ ausgezeichnet.

  • Wissenschaftler, auch Linguisten, beobachten und interpretieren/ sortieren ja nur, sie bewerten in der Regel nicht. Insofern ist ja für Linguisten Sprachwandel und Sprachdiskussion erst mal aus beruflicher Sicht interessant, selbst wenn so etwas aus privater Sicht schon stört.


    Bei Korrekturen (Sinn machen/ Sinn ergeben) geht es mMn meist darum, dass LEHRER ihren Schülern die Sprache beibringen, die formal aktuell richtig ist, manchmal auch die Sprache, die sie in der Schule selbst als richtig gelernt haben.

    Das betrachte ich nicht als Mangel.

    Die Schüler können und werden in der Freizeit von der Standardsprache abweichen und bspw. "Digga" mehrfach in ihre Sätze einbauen - aber es wäre mMn nicht sinnvoll, wenn deshalb der Deutschlehrer sagen würde, dass sie das auch folgenlos für die Note in ihren Aufsätzen machen dürfen/ sollen. Eine kleine Richtlinie sollte es schon geben.

    Wir sehen doch, dass bspw. die Jugendsprache der 70er heute fast ausgestorben ist, was damals als modern galt, fühlt sich heute skurril an.


    Beim Gendern stört mich tatsächlich das Zeichen in der Mitte, völlig unabhängig davon, ob es ein Doppelpunkt der Sternchen ist und diese Idee, dass eine winzige Minderheit der Menschen bedacht werden muss, die sich weder als Mann noch als Frau definiert, und man daher nicht "Bürgermeister und Bürgermeisterinnen" sagen "darf", sondern ein Konstrukt wählen soll, das nicht durch natürlichen Sprachwandel gewachsen und sperrig ist. Und bei mir zumindest immer die Idee auslöst, dass wahlweise nur Frauen gemeint wären oder es um Gebäude geht (man hört "(Pause) innen" - und die Assoziation ist erst mal "drinnen, im Gebäude", bevor man aktiv korrigiert - "oh, sie meinen Frauen, Männer und Nichtbinäre").


    Gelassenheit kann man natürlich problemlos propagieren, wenn man als Linguist nur Beobachter ist, aber weniger problemlos annehmen, wenn man das Gefühl hat, es würde einem eine künstliche Sprache aufgezwungen, die ein geringer Teil der Bevölkerung eventuell begrüßt, aber eben noch nicht mal (vermutlich) alle Nichtbinären. Denn für die dürfte es zumindest zum Teil auch einen Unterschied geben zwischen dem Gefühl über die eigenen Identität und dem Annehmen einer künstlich aufgezwungenen Sprache.

    Warum sollte ein Nichtbinärer "Ärzt-innen" als Wort begrüßen, warum sollte ausgerechnet er (generisch gemeint - der Mensch!) sich von dem Wort "Ärzten" ausgeschlossen fühlen? Wie ist das, wenn dieser Mensch gar kein Arzt, sondern Patient ist? Würde er sich dann auch von dem Wort "Ärzte" ausgeschlossen fühlen, obwohl es ihn selbst gar nicht betrifft?


    Aus meiner Sicht wurde da von einer Minderheit an Aktivisten ein Problem geschaffen, das vorher bei den meisten Menschen gar nicht existierte.

    Es wird das Geschlecht massiv in den Vordergrund gerückt in Situationen, in denen es um die Funktion geht (es sind bspw. Ärzte im Flugzeug, die in Notfällen helfen können. Oder man hat freie Arztwahl und muss nicht die nächstbeste Praxis ansteuern. Da ist die Information doch das Wort "Wahl" und es geht nicht darum, ob der Arzt ein Mann ist, ob es sich um eine Ärztin handelt oder gar, ob der Arzt nichtbinär ist. Das interessiert doch meist den Patienten auch gar nicht, der möchte den Arzt in seiner Funktion als "Fachmann". "Fachfrau"? Fachmenschen? Fachpersonal? Es geht also um das Wissen des Menschen, nicht um sein Geschlecht.

    In einigen Bereichen wurde das gut gelöst, bspw. "Pflegende" statt "Pfleger", in anderen Bereichen rückt das Geschlecht so in den Vordergrund, dass man die Funktion fast überhört.

    Mir wäre ein "Ärzte und Ärztinnen" oder meinetwegen auch "Ärztinnen und Ärzte" viel lieber und ich wäre begeistert von einer Studie, die mal belegt, wie viele der Menschen, die sich nicht unter Mann oder Frau wiederfinden denn WIRKLICH für das Gendern mit dieser Sprechpause oder gar diesen Sonderzeichen sind!

    Wie viele Menschen "identifizieren" sich quasi mit Sprechpause und Sonderzeichen? Und wie vielen davon wurde es durch die Diskussionen der letzten Jahre eingeredet? Wie viele haben GELERNT "wenn man Schüler und Schülerin sagt, bist DU nicht gemeint, weil du dich anders identifizierst" - und wie viele von denen hätte das vor der Diskussion gar nicht gestört, wie viele hätten von diesen Worten gar nicht auf ihre Identität und Eingebundenheit geschlossen?


    Es ist jedenfalls immer ein Unterschied, ob ich als Wissenschaftler ein Phänomen beschreibe, beobachte, einordnet, interpretiere und ggf. benenne - oder ich als Wissenschaftler als Privatperson betroffen bin.

    Der Onkologe mag fasziniert von verschiedenen Krebsformen und Heilungsansätzen sein - aber wenn er selbst eine Krebsdiagnose bekommt, ändert sich seine Sichtweise.


    Es wäre interessant zu wissen, wie es da dem Linguisten als Privatperson geht.


    Wenn dich das Thema weitergehend interessiert - also, Linguistik, nicht Gendern! ;) - dann kannst du mal verschiedene Linguistikblogs recherchieren und lesen.


    Hier wäre eine Liste englischer Linguistikblogs.

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.