Luise wohnte in der Nähe der Herrenhäuser Gärten direkt in Hannover. Da die Verkehrsanbindung vom Flughafen zu wünschen übrig ließ, gönnten sie sich ein Taxi.
„Ich hoffe, Luise ist da“, meinte Charlotte, als der Taxifahrer sie kurz nach drei vor Luises Tür absetzte.
„Falls nicht, kehren wir irgendwo ein und versuchen es später noch mal.“
Luises Wohnung lag in einem eleganten Altbau, der nach dem Krieg renoviert und modernisiert worden war. Als sie an ihrer Tür im ersten Stock klingelten, dauerte es einen Moment, bis sie Schritte auf der Diele hörten. Dann wurde die Tür geöffnet.
„Charlotte!“, rief Luise. „Das ist ja eine Überraschung! Was führt dich denn nach Hannover?“
„Deine Reputation als Journalistin“, erwiderte Charlotte lächelnd. „Darf ich dir Thomas Mitchell vorstellen?“ Sie wies auf ihren Begleiter. „Thomas ist ein guter Freund aus London, der deine Hilfe gebrauchen könnte. Thomas, das ist Luise Janssen, die Frau, die mit ihrer spitzen Feder Existenzen auslöschen kann.“
Luise lachte nur, dann reichte sie Thomas die Hand.
„Na, dann kommt mal rein und erzählt mir, welchen Bösewicht ich mit meiner giftigen Feder zur Strecke bringen soll.“
Luises Wohnung war ausgesprochen modern eingerichtet. Ihre Möbel strahlten den Lebensstil der aufstrebenden Elite der Fünfzigerjahre aus. Die Sessel waren nicht massiv, sondern erinnerten an Stühle mit dicken Sesselpolstern. Tisch und Schränke waren aus hellem Holz. Natürlich verfügte Luise auch über ein Fernsehgerät, das in einer raffinierten Schrankkombination gemeinsam mit einem Radio und einem Plattenspieler untergebracht war. An den Wänden hingen keine alten Meister, sondern Glasrahmen mit modernen Kunstdrucken und ausgefallenen Reiseplakaten. Zudem gab es ein großes Regal, auf dem zahlreiche Souvenirs aus aller Herren Länder lagen, von der afrikanischen Maske bis zum chinesischen Fächer.
„Du hast eine sehr schöne Wohnung“, sagte Charlotte, während sie sich in einen der Sessel setzte.
„Vielen Dank“, erwiderte Luise. „Ich werde eben mal Wasser für den Kaffee aufsetzen. Und dann verratet ihr mir, worum es geht.“
Kaum hatte Luise das Wohnzimmer verlassen, raunte Thomas Charlotte zu: „Du sagtest, sie wäre schon über fünfzig. Ich hätte sie für deutlich jünger gehalten.“
„Vermutlich halten Reisen jung“, flüsterte Charlotte zurück. „Luise war schon immer eine bemerkenswerte Frau. Als junges Mädchen ist sie mit einer Bande von Jungen herumgestreift und geriet dabei in einige Schwierigkeiten, weshalb ihre Eltern sie zu uns nach Gut Mohlenberg brachten. Meine Mutter machte sie später mit meiner Großtante Vera Herzberg bekannt, die als kulturelle Instanz in Hannover galt, aber zugleich eine Frau voller Innovationen war. Die ist schon in den Zwanzigerjahren mit ihrem eigenen Auto durch ganz Europa gereist. Tante Vera hat Luise dann dabei geholfen, sich als Journalistin einen Namen zu machen und sie auf einigen ihrer Auslandsreisen mitgenommen. Das hat Luise geprägt.“
Wenig später kehrte Luise mit einem Tablett zurück, auf dem drei Tassen, eine Kanne Kaffee sowie ein Milchkännchen und eine Zuckerdose standen.
„Also, worum geht es?“, fragte sie noch einmal, nachdem alle versorgt waren.
Charlotte sah Thomas an. „Möchtest du es erzählen oder soll ich?“
„Es geht um einen Erbschleicher“, sagte Thomas, „den wir gern in seine Schranken weisen würden.“ Und dann erzählte er von Charles Mitchell und dessen Versuchen, ihm sein Erbe streitig zu machen, ohne dabei zu verraten, dass seine Eltern sich tatsächlich der Bigamie schuldig gemacht hatten.
„Er ist ein notorischer Spieler und versucht nun, schmutzige Geschichten auszugraben, um seinen Lebensstil von anderen finanzieren zu lassen“, fügte Charlotte hinzu. „Und da ich weiß, dass du solche Machenschaften hasst, dachte ich mir, du könntest ihn vielleicht unter einem Vorwand interviewen, aber zugleich als den notorischen Spieler darstellen, der er ist. Sozusagen ein Psychogramm.“
„Hmm.“ Luise neigte nachdenklich den Kopf. „Das könnte Ärger geben, wenn man es nicht richtig anpackt.“
„Wenn es dir zu riskant ist, ist das in Ordnung“, sagte Charlotte hastig. „Fühl dich bitte zu nichts verpflichtet.“
„Du hast mich missverstanden, Charlotte. Ich meinte, dass es eine Herausforderung ist, den Artikel so zu verfassen, dass er genau das aussagt, was ihr braucht, ohne Charles Mitchell eine rechtliche Handhabe zu geben. Keine Sorge, ich kann das. Ich habe schon mal so einen Artikel über die NSDAP verfasst.“
„Deshalb musstest du das Land verlassen“, bemerkte Charlotte.
„Ja, aber nur, weil die SA mich mit unschönen Mitteln zum Schweigen bringen wollte, da man mir auf juristischem Wege nicht an den Karren fahren konnte. In Großbritannien sieht es zum Glück anders aus. Da genießen Journalisten viel mehr Freiheiten.“
„Dann wirst du es tun?“
„Du weißt doch, dass ich Herausforderungen liebe.“ Dann sah sie Thomas an. „Ich brauche noch ein paar Informationen über Ihren Großcousin.“
„Was wollen Sie wissen?“
Luise holte ein Notizbuch hervor. „Alles, was es über ihn zu wissen gibt. Eine gute Journalistin macht stets ihre Hausaufgaben.“
Die nächste Stunde verging damit, dass Thomas Luise alles über Charles verriet, was er wusste, angefangen von der Kindheit, über den Tod des Vaters bis hin zu seinen regelmäßigen Besuchen in Monte-Carlo.
„Monte-Carlo, das trifft sich gut. Ich habe einen Freund in Monaco, der jeden mit Rang und Namen kennt und mir regelmäßig seine Wohnung zur Verfügung stellt, wenn ich dort zu tun habe.“ Luise lächelte versonnen, sodass Charlotte zu dem Schluss kam, dass dieser Freund ein sehr intimer Freund sein musste. „Ich werde ihm morgen telegrafieren. Am besten wäre es, wenn ich Charles nicht in London aufsuche, sondern die Gelegenheit finde, ihn in Monte-Carlo zu treffen. Ich denke, das wird eine sehr interessante Geschichte werden und ich habe endlich mal wieder einen Grund, Monte-Carlo zu besuchen.“