Als sie Richard und Paula erzählte, dass Charlotte mit Thomas im Kino war und deshalb nicht am Abendessen teilnehmen würde, meinte Paula nur: „Nun, ich denke, Thomas wird Kavalier genug sein, sie im Anschluss noch zum Essen einzuladen, sodass wir nicht auf sie warten müssen.“
„Macht er das regelmäßig?“ Friederike runzelte die Stirn.
Paula sah sie irritiert an. „Was meinen Sie?“
„Damen ins Kino und anschließend zum Essen ausführen.“
„Nun, so oft ist er nicht in Hamburg, dass ich darüber Buch geführt hätte“, erwiderte Paula.
„Hätte es sich denn gelohnt, gleich Buch darüber zu führen?“
Beim Anblick von Friederikes Gesichtsausdruck brach Richard in schallendes Gelächter aus. „Friederike, bitte verzeihen Sie mir, aber könnte es sein, dass Sie sich Gedanken um Ihre Tochter machen und deshalb sehr genau durchleuchten, mit wem die gestandene Anwältin unterwegs ist?“
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Friederike hastig, merkte aber, dass ihre Wangen heiß wurden. Verdammt, wirkte sie wirklich wie eine Glucke? Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Wohnungstür.
„Ich geh schon.“ Paula stand auf.
„Erwarten Sie noch Besuch?“, fragte Friederike Richard, froh, dass sie das peinliche Thema wechseln konnte.
„Nein, eigentlich nicht. Und Fritz und seine Familie wären durch die Terrassentür gekommen, wenn es etwas gäbe. Außerdem hat Fritz heute wieder eine von diesen größeren Operationen, da ist er nie vor neun zu Hause.“
„Ich weiß, Emilia hat mir erzählt, dass sie assistieren darf und später kommt.
Kurz darauf kam Paula in Begleitung eines Mannes ins Wohnzimmer. Er trug einen beigefarbenen Sommeranzug, war schlank und wirkte allein durch die Art, wie er sich bewegte, sehr sportlich. Es fiel Friederike schwer, sein Alter einzuschätzen. Seine grauen Schläfen sprachen für ein Alter jenseits der Vierzig, aber seine Augen blitzten ausgesprochen lebendig, auch wenn der Blick sehr ernst war. Ein Freundschaftsbesuch war das mit Sicherheit nicht, dafür stand er zu achtungsgebietend im Raum. Friederike musste sich eingestehen, dass sie selten einem Menschen begegnet war, der allein durch die Art, wie er sich bewegte, Respekt einflößte, ohne dass es irgendwie gewollt aussah.
„Richard, das ist Hauptkommissar Studt vom Hamburger Morddezernat“, stellte Paula ihn vor. „Er würde gern mit dir sprechen.“
Friederike hörte das unsichere Vibrieren in Paulas Stimme.
Richard stand auf und hielt dem Kommissar die Hand entgegen. „Guten Abend, Herr Studt. Was kann ich für Sie tun?“
Friederike bewunderte die Art, wie Richard sofort einen Kontakt auf Augenhöhe herstellte, indem er den Ankömmling mit seinem Namen und nicht mit seinem Titel begrüßte.
Studt ergriff die Hand. „Guten Abend, Herr Hellmer.“ Ah, Studt konterte, indem er auf die Anrede Doktor verzichtete und Richard ebenfalls nur mit Namen ansprach. Das versprach interessant zu werden. „Es tut mir sehr leid, dass ich Sie um diese Uhrzeit noch stören muss, aber die Sache ist zu wichtig, als dass ich sie an jemanden delegieren wollte, und deshalb bin ich persönlich gekommen.“
„So? Bitte nehmen Sie doch Platz.“
Bevor der Kommissar der Aufforderung folgte, sah er Friederike an. „Und Sie sind?“, fragte er.
Friederike erhob sich. „Mein Name ist Doktor Friederike von Aalen, Herr Hauptkommissar.“ Ein bisschen Distanz herzustellen konnte nicht schaden.
„Frau Doktor“, nickte Studt ihr zu und reichte ihr die Hand. Friederike ergriff sie.
„Frau Doktor von Aalen ist hier, um mich bei meiner Vorbereitung auf den Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages in Bonn zu unterstützen, zu dem ich im nächsten Monat als Sachverständiger eingeladen bin“, sagte Richard. „Es geht um die Entschädigung Zwangssterilisierter.“
„Ich weiß“, erwiderte Studt und nahm dann auf dem freien Sessel Platz.
„Möchten Sie etwas trinken?“ Paula wies auf die Teekanne, die auf dem Tisch stand. „Ich hole Ihnen gern noch eine Tasse.“
Studt machte eine abwehrende Handbewegung. „Vielen Dank, aber machen Sie sich bitte keine Umstände.“
„Also, worum geht es?“, fragte Richard.
„Wann haben Sie Herrn Doktor Friedrich Krüger das letzte Mal gesehen?“
Richard stutzte und auch Friederike atmete überrascht ein. Mit dieser Frage hatte sie nun am allerwenigsten gerechnet.
„Gesehen habe ich ihn zuletzt bei der Gerichtsverhandlung, als man ihn wegen Homosexualität verurteilte. Das war Ende der Vierzigerjahre. Aber er hat mich am Sonntag angerufen und wollte sich am Montagabend um halb acht mit mir treffen.“
„Warum wollte er sich mit Ihnen treffen?“
„Es ging um Unterlagen, die mir bei meiner Tätigkeit als Sachverständiger in Bonn womöglich geholfen hätten.“
Studt holte ein Notizbuch hervor und notierte sich einige Stichworte.
„Und wie lief dieses Treffen ab?“, fragte er dann.
„Er ist gar nicht gekommen“, sagte Richard. „Frau von Aalen und ich haben vergeblich auf ihn im Lokal Drei Eichen gewartet.“
„Warum hat Krüger Ihnen überhaupt seine Hilfe angeboten?“, fragte Studt weiter. „Ich habe ein wenig über Sie recherchiert, Herr Doktor Hellmer. Sie und Krüger konnten sich nicht ausstehen.“
Friederike fiel auf, dass Studt diesmal den Doktortitel verwendete. Sollte das seinen Respekt für Richards Sache bezeugen?
„Das ist kein Geheimnis“, sagte Richard gleichmütig.
Der Kommissar nickte. „Sie gehörten im Dritten Reich zu denen, die sich heimlich gegen die Ideologie der Nazis gestellt haben und versuchten, Menschen vor Zwangssterilisation und Euthanasie zu bewahren, indem Sie falsche Gutachten erstellten“, fuhr er dann fort. „Nach dem Krieg haben Sie in mehreren Prozessen als Belastungszeuge gegen Krüger ausgesagt, aber Krüger wurde jedes Mal vom Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit freigesprochen, weil er einen ausgesprochen geschickten Anwalt und wohlwollende Richter hatte, die in der Euthanasie kein Verbrechen, sondern ein durch damals geltendes Gesetz gedecktes legales Verhalten sahen. Stattdessen gerieten Sie selbst in den Ruf, ein Nestbeschmutzer zu sein und sich von der britischen Besatzungsmacht protegieren zu lassen. Warum sollte Krüger sich jetzt ausgerechnet an Sie wenden, um Ihnen zu helfen?“
Noch bevor Richard antworten konnte, ging Paula dazwischen.
„Herr Kommissar, die Art, wie Sie meinen Mann hier gerade befragen, hat einen unangenehmen Beigeschmack, solange wir nicht wissen, worum es eigentlich geht. Sie haben sich mir als Hauptkommissar des Morddezernats vorgestellt und kommen um sieben Uhr abends bei uns zu Hause vorbei, um nach Krüger zu fragen. Krüger ist gestern nicht erschienen, mein Mann hat ihn seit Jahren nicht gesehen. Würden Sie uns bitte sagen, worum es tatsächlich geht?“
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über die zuvor noch so ernste Miene des Kommissars.
„Sie sind eine sehr scharfsinnige Frau, Frau Doktor Hellmer“, sagte er, ohne sich im Geringsten aus der Ruhe bringen zu lassen. „Ich habe auch über Sie recherchiert. Sie haben während der NS-Zeit in Göttingen einiges in die Wege geleitet, um psychisch Kranke und geistig Behinderte zu retten. Sie genießen dafür meinen vollen Respekt.“
„Und Sie würden meinen vollen Respekt genießen, wenn Sie nicht länger um den heißen Brei herumreden würden, sondern uns sagen, was genau Sie von meinem Mann wollen. Hat Krüger jemanden ermordet und möchte er jetzt ein Alibi?“
„Nein“, sagte Studt ernst. „Ganz im Gegenteil. Krügers Leiche wurde heute früh auf dem Ohlsdorfer Friedhof gefunden.“
„Wie bitte?“, fragte Richard irritiert. „Heißt das, er wurde ermordet?“
Studt nickte. „Es sieht ganz so aus. Krüger ist aus mehreren Gründen polizeibekannt. Er ist ein verurteilter Homosexueller, der wegen Missbrauchs eines Minderjährigen in Haft war und seine ärztliche Approbation verloren hat. Die Kollegen vor Ort gingen deshalb zunächst von einem Mord im Homosexuellen-Milieu aus. Aber dann fiel mir sein Taschenkalender in die Finger und dort war das Treffen mit Ihnen notiert. Daraufhin fragte ich mich natürlich sofort, warum Krüger sich ausgerechnet mit seinem alten Intimfeind treffen wollte.“
„Glauben Sie etwa, ich hätte ihn ermordet?“ Richard sah Studt erschüttert an.
„Glauben ist etwas für Religiöse, aber nicht für die Polizei“, erwiderte Studt gleichmütig. „Ich bin Ermittler und ich gehe jeder Spur nach. Zunächst einmal sind Sie ein wichtiger Zeuge, da Krüger sich mit Ihnen treffen wollte. Sein Leichnam ist derzeit noch in der Gerichtsmedizin. Es wird noch etwas dauern, bis ich den Bericht bekomme. Allerdings ist schon jetzt klar, dass er ermordet wurde.“
„Auf welche Weise?“, fragte Friederike.
„Das werde ich mit Ihnen jetzt nicht erörtern, Frau Doktor.“
„Von wegen Täterwissen?“, fragte Friederike. „Sie wollen uns keine Informationen geben, weil wir zum Kreis der Verdächtigen gehören?“
„Mir scheint, Sie lesen gern Krimis?“
„Nein, ich habe in meinem Leben schon ein paar Mordermittlungen miterlebt.“
„Als Verdächtige, Zeugin oder Angehörige?“
„Als Zeugin“, erwiderte sie ebenso ernst. „Ich kenne mich mit den Gepflogenheiten der Polizei aus.“
„Aha“, sagte Studt nur.
„Sie könnten ruhig etwas offener sein“, fügte Friederike hinzu. „Wir können auf Augenhöhe reden.“
„Frau Doktor von Aalen, lassen Sie mich bitte eines klarstellen. Die Tatsache, dass Sie schon einmal Zeugin bei Mordfällen waren, bedeutet nicht, dass Sie etwas von der Arbeit der Polizei verstehen. Ich war auch schon als Patient im Krankenhaus und würde mir trotzdem nicht anmaßen, dadurch genügend Fachkompetenz erworben zu haben, um Ärzten in ihre Arbeit hineinzureden.“
„Das sollen Sie auch nicht, aber ein guter Arzt erklärt seinen Patienten, was er tut, um deren Mitwirkung bei der Heilung zu fördern.“
„Und Sie meinen, ein guter Kommissar müsse deshalb alle Schlussfolgerungen mit Zeugen erörtern, um deren Mitwirkung zu verbessern?“
„In gewissen Grenzen, die Ihnen Ihre Tätigkeit lässt, ja.“
„Was sagen Sie denn dazu, Herr Doktor Hellmer?“, wandte Studt sich jetzt wieder an Richard.
„Meinen Sie die Schlussfolgerungen oder Krügers Ermordung?“
„Bleiben wir doch beim Thema. Was sagen Sie zu Krügers Tod?“
„Ich habe ein Alibi“, sagte Richard mit einem feinen Lächeln. „Ich war gestern den ganzen Tag in meiner Praxis und abends im Gasthaus Drei Eichen, wo Frau von Aalen und ich vergeblich auf Krüger gewartet haben. Wir waren dort, weil Krüger mir Dokumente versprochen hatte, die beweisen sollten, dass einige meiner Gegner beim bevorstehenden Wiedergutmachungsausschuss selbst an NS-Verbrechen beteiligt waren. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Ermittlung in diese Richtung Erfolg verspräche.“
„Ich habe noch nicht verstanden, warum Krüger ausgerechnet Ihnen diese Unterlagen angeboten hat. Wollte er Geld?“
„Nein, er wollte ein Attest.“
Studt zog die Brauen hoch. „Was für ein Attest?“
„Ich sollte bestätigen, dass er sich erfolgreich einer Konversionstherapie unterzogen hat, die seine Homosexualität geheilt hätte, damit er wieder als Arzt praktizieren könne.“
„Und so etwas funktioniert?“, fragte Studt in einer Mischung aus Erstaunen und Interesse.
„Nein, natürlich nicht“, gab Richard zurück. „Ich persönlich kenne keinen einzigen Fall, der von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Ich vertrete die Meinung, dass Homosexualität eine nicht korrigierbare Veranlagung ist, die man als Normvariante betrachten sollte. Aber darum ging es Krüger auch gar nicht. Er wollte einfach ein Attest von mir, damit er wieder als Arzt arbeiten kann. Ich habe keine Ahnung, was er seit seiner Entlassung aus der Haft gemacht hat, aber wirklich gut scheint es ihm nicht gegangen zu sein, sonst hätte er ja nicht ausgerechnet mich kontaktiert. Er glaubte, ein Attest von mir wäre unanfechtbar, weil mir keiner unterstellen würde, dass ich ausgerechnet ihm ein Gefälligkeitsattest ausstellen würde.“
„Und haben Sie ihm ein entsprechendes Attest versprochen?“
„Natürlich nicht“, sagte Richard energisch.
„Warum wollten Sie sich dann mit ihm treffen?“
„Ich habe Herrn Doktor Hellmer darin bestärkt“, sprang Friederike Richard bei, noch bevor er antworten konnte. „Er wollte eigentlich nichts mehr mit Krüger zu tun haben, aber ich meinte, es könnte interessant sein, sich anzuhören, was der zu bieten hätte. Und möglicherweise hätte er uns ja auch schon mal einen kleinen Vorgeschmack auf die Papiere gegeben. Dann hätten wir eigenständig weiter forschen können, ohne ihm ein Attest zu geben.“
„Sie wollten ihn also reinlegen?“, hakte Studt nach.