Beiträge von PessoA

    Hallo,


    das Buch ist eine moderne Version von der Schneekönigin. Der Erzähler sitzt in einer Schulbank und schreibt eine Geschichte über Kai und Lucia, dabei in der Befürchtung, die Schulkinder könnten ihn hier überraschen, den vom Alter Infizierten, „der vielleicht schon ein bisschen nach Tod riecht“ und der gerade deshalb in einer Welt leben will, „in der die gemeinen Regeln der Älteren noch nicht gelten, in der das Dasein noch keine Geschichte ist, die stimmt, eine Welt, in der alles noch geschehen muss“.


    Über die Gegend sagt er:

    Zitat

    Das Land ist flach, was zu einer extremen Sichtbarkeit der Menschen führt, (…)


    Nooteboom ist eigentlich immer schön zu lesen.
    Ich kann das Buch empfehlen.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo...


    Mäusedudler schrieb:

    Zitat

    Ich glaube zudem auch, dass "gutgläubig" nicht das richtige Wort, denn das würde ja bedeuten, dass er seine Mitmenschen nicht richtig einschätzen kann und ebendies kann er meiner Meinung nach überaus gut.


    Dass der Fürst gutgläubig ist, ist eine Tatsache. Er durchschaut zwar die Menschen, aber setzt über diesen Blick immer die Hoffnung auf das Gute im Menschen.
    Wenn er zum Beispiel das Gegenüber erkannt hat (also auch erfasst, was dessen Absicht ist), erkennt er auch gleichzeitig den guten Kern in dem anderen Wesen. Er erhöht die Menschen also in seinem Denken, während er höchstens sein eigenes Wesen in Frage stellt - die Doppelgedanken, die in ihm toben.
    Das wird besonders gegen Ende des Buches sehr deutlich.


    Zum Beispiel, als Ippolit den Fürsten auf seine Gutgläubigkeit hinweist, weil dieser nicht einsehen will, dass ihm Ganja sein Glück untergraben will. (Myschkin winkt ja öfter im Roman sofort ab, wenn ein Mensch, der ihm etwas Negatives über einen anderen mitteilen möchte, auf ihn zukommt - "Nein, reden Sie nicht weiter..." oder "Ach, ich möchte es lieber nicht hören...") Ippolit sagt:


    Oder Myschkins Ansichten über Aglajas Wesen:


    In solchen Ausschnitten, die doch häufig in den Zeilen vorkommen, sieht man das Wesen Myschkin in seiner Gutgläubigkeit deutlich. Diese Gutgläubigkeit ist von ihm aber durchaus absichtlich gewählt. Er hat sich dafür entschieden und ist nicht einfach aus Unachtsamkeit oder, weil er die Menschen nicht durchschaut, gutgläubig.
    Dostojewski hat hier eben den vollendet wundervollen Menschen erschaffen, was beinhaltet, dass seine gute Seele die Menschen begreift (er ist ja eben kein "Idiot") und trotzdem an das Gute in ihnen glaubt.
    Seine Reaktion bei Spott verdeutlicht das auch noch einmal, denn, was tut er? Er lacht mit. Ein wunderschönes Wesen. :smile:


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo mombour,


    es ist ein ganz wunderbares Bild, nicht wahr? Ich finde es auch sehr beeindruckend.
    Die Auswirkungen des Anfalls, die Myschkin in seiner Mystik beschreibt, faszinierten mich ebenso.
    Diese Verwirrung zuvor, in der er nicht mehr klar denken kann und der Taumel hinein in diesen Anfall (wie eine langsame Vorbereitung), der ihm eher als Licht erscheint, nicht als etwas Negatives, auch als eine Art von kurzer Erlösung. Wir, die Außenstehenden sehen dieses krampfende, mit verdrehten Augen und Gliedern zuckende Wesen in seiner Krankheit, der Kranke selbst erfährt darin eine Offenbarung und eine Erhellung seiner Bedrückung, erlebt dabei scheinbar einen kurzen (Aus)Weg aus dem Leid:


    Bei den "Dämonen" gibt es eine ähnliche Stelle. Kirilloff, der Selbstmörder, sagt:

    Zitat

    Es gibt Sekunden, es sind im ganzen nur fünf oder sechs auf einmal, und plötzlich fühlt man die Gegenwart der ewigen Harmonie, der vollkommen erreichten. Das ist nicht irdisch; ich rede nicht davon, ob es himmlisch ist, sondern ich will nur sagen, dass ein Mensch in irdischer Gestalt das nicht aushalten kann. Man muss sich physisch verändern oder sterben. Dieses Gefühl ist klar und unbestreitbar. Als ob man plötzlich die ganze Natur empfände, und plötzlich sagt man: ja, es ist richtig.
    (…) Das Furchtbarste ist, dass es so schrecklich klar ist und eine solche Freude. Wenn das länger als fünf Sekunden dauerte … würde die Seele es nicht aushalten und müsste vergehen.


    Auch hier beschreibt Dostojewski den Zustand während des Anfalls. Ich führe die Vergleiche zu den "Dämonen" nur zur Vervollständigung an, um Dostojewski hier klarer zu erkennen. :smile:


    Bei dem Fürsten heißt es weiter:



    ... eben, wie du sagst, ein vergeistigter Zustand.
    Deshalb ist es gar nicht so sehr ein "trotzdem", sondern Myschkin sieht darin keine Krankheit, sondern etwas Auserwähltes, einen plötzlich klaren Blick.


    In meiner Übersetzung heißt es wunderbar über die Wirkung im Vergleich zu den Drogen:


    Zitat

    (…) Denn das waren doch in diesem Moment nicht irgendwelche geträumten Visionen, wie nach dem Genuss von Haschisch, Opium oder Alkohol, die die Denkfähigkeit herabsetzen und die Seele verzerren, unnormale und unwirkliche Trugbilder.


    ... die die Seele verzerren. Großartige Beschreibung. Also ist es ein für den normalen Menschen nicht fassbarer Rausch, der den Geist nicht verzerrt, sondern öffnet.
    Da frage ich mich, ob Dostojewski es wirklich so für sich empfunden hat. Diese Sekunden müssen unerträglich sein, aber für den Kranken nur deshalb, weil sie so voller Glück und Freude sind. Der Epileptiker verliert ja jede Kontrolle, warum Myschkin auch

    Da kann man sich vorstellen, dass dabei eine ganz andere "Welt" aufgeht.


    Es heißt ja auch, dass sich die epileptischen Anfälle von Dostojewski während seiner Gefangenschaft stark verschlimmerten. Möglich, dass er auch durch diese Anfälle Gott und den Glauben in sich fühlte.


    Zum Fürsten selbst habe ich mir auch noch ein paar Gedanken gemacht:
    Keller fasst Myschkin gut zusammen:


    Fürst Myschkin ist kein Idiot, und er ist auch nicht einfältig. Er ist nur unfassbar gutgläubig, unfassbar für sein Umfeld, das sich im eigenen Klassendenken suhlt.
    Der Fürst ringt einfach zu oft mit sich selbst, was einen klaren Blick auf die Dinge für ihn nicht möglich macht. (Auch, darum wirkt er manchmal wie ein „Idiot“, und als Leser benötigt man hin und wieder viel Geduld mit der all zu guten Seele, die dadurch nicht besonders geistreich und fesselnd erscheint, was Myschkin zwar sympathisch, allerdings auch anstrengend macht.) Während er einen Verdacht hegt, verachtet er sich wegen des schlechten Gedankens über einen anderen Menschen. So herrscht in Myschkins Innerem immer der Kampf zwischen der Ahnung und seinem eigenen Vorwurf gegen diese Ahnung. Selbst, wenn er erkennt, dass er im Recht war (dass der Andere in schlechter Absicht handelte), muss er gerade aufgrund dieser Erkenntnis dem Anderen verzeihen und ihm noch etwas Gutes tun, für den Anderen das Leben verschönern, weil er schlecht über ihn gedacht hat. Auch das sind die Auswirkungen seines Mitleids für die Menschen. Dieses Ringen mit sich selbst deutet er mit solchen Worten an:

    Zitat

    … das eine ist nur ganz zufällig zum anderen gekommen, zwei Gedanken sind sich begegnet, wie das sehr oft geschieht.


    Er nennt es später die „Doppelgedanken“, gegen die man machtlos ist, bei denen Myschkin voraussetzt, dass sie in jedem Menschen vorhanden sind. So kann er sich auch gegen niemanden zum Richter erheben, wenn man ihn um ein Urteil bittet.

    Zitat

    Am besten ist, man überlässt das Ihrem eigenen Gewissen, was meinen Sie?“

    sagt er zu Keller. Auch hier wieder ein Nichtwerten (östliche Weisheit).
    Hinzu kommt: Einmal ist es sein Wissen über die eigene Unzulänglichkeit, was ihm kein Urteil erlaubt, zum anderen auch das Bedürfnis, immer nur das Gute im Menschen sehen und erkennen zu wollen. Über wen er zu Gericht sitzt, ist er selbst.


    Die Erschütterung über den "Idioten", die ich beim Lesen hin und wieder empfinde (diese Empörung, dass ein Mensch wissentlich alles auf sich nimmt, sich wissentlich hintergehen lässt und sich dann noch dafür schämt, dass er in seinem Verdacht Recht behalten hat), ist eher eine Art Beschützerinstinkt, weil man das gute Herz des Fürsten nicht von all diesen Gierigen ausgenutzt sehen will. :grmpf:


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo liebe Leserunde,
    och, ... ich würde mich schon ganz gerne ab und zu an diesem Gespräch hier beteiligen, wenn es noch möglich ist. :breitgrins:
    Ich lese im Moment das gleiche Buch. Ich hoffe, das ist in Ordnung.


    Dann lege ich mal direkt los:

    Zitat

    Myschkin, die herrliche Personifikation der christlichen Liebe. Er liebt aus Mitleid.


    Das hast du schön formuliert, mombour. Er liebt und lebt aus Mitleid. Den "Idioten" in ihm sehen die anderen hauptsächlich, weil er wie ein Kind ohne Hintergedanken denkt und spricht, voller Demut und Mitgefühl für alle.
    In der Nähe von Kindern fühlt er sich wohl, weil sie eine reine Seele haben, die sich in seiner spiegelt. Zwischen den Erwachsenen fühlt er sich falsch und unsicher, als würde er sich verstellen müssen.
    In Myschkins Wesen ist auch viel östliches Denken enthalten. Dieses Vergeben, das Empfinden von Mitleid (was, ja seine Liebe zu Nastassia darstellt), dieses Blicken ins Innere und Erkennen an gutem Kern im anderen Menschen.


    Mit dem Gemälde von Holbein hat es folgende Bewandtnis:
    Dostojewski hat Holbeins Gemälde "Der tote Christus" (übrigens handelt es sich hier um Hans Holbein der Jüngere) in Basel gesehen, wo es einen unheimlich starken Eindruck auf ihn gemacht hat, so intensiv, dass er es später dann im „Idioten“ verarbeiten musste.
    Myschkin sagt:

    Zitat

    Ich habe das Original im Auslande gesehen, und seitdem kann ich dieses Bild nicht mehr vergessen.


    ... und hier spricht der Schriftsteller zu uns.
    Das Bild zeigt einen liegenden Christus auf weißem Tuch. Das Bild ist genauso lang wie der dort ausgestreckte, abgezerrte Christus und hat auf mich dadurch die Wirkung, als würde dieser Tote in einem Sarg liegen. Auch sind seine Augen offen, sogar aufgerissen, ebenso wie der Mund. Der Christus ähnelt dadurch also mehr einem Menschen als einem „Gott“, worüber Dostojewski auch seinen Menschgott erfindet (später dann ausgeprägter in "Die Dämonen"). Rogoshin sagt, ihm könne nach diesem "Bilde jeder Glaube vergehen", weil er darin nichts Göttliches, sondern vielmehr Menschliches erkennt. Hier hat Dostojewski seine ersten Gedanken dazu geäußert, was später dann in den "Dämonen" von ihm herrlich ausgearbeitet wurde.
    Die Verneinung Gottes zieht unausweichlich die Bejahung des Menschen nach sich.


    Zu dieser Erkenntnis gerät das russische Volk aber sehr schleichend. Myschkins Eindruck, dass ein Atheist

    ist auch ein schöner Hinweis. Was dadurch zurückbleibt ist der desillusionierte Atheist - ein ängstliches und darum auch "rohes" Wesen. Er hat Gott zwar verloren, hat sich aber noch nicht auf sich selbst besonnen und seinen Gott in sich erkannt.



    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo Saltanah,


    das ist ja schön, dass du dich meldest.
    Dass deine Übersetzung so miserabel ist, liegt auf jeden Fall an der Ausgabe, denn in meinem Buch hatte ich keine Probleme, weder mit der Kommasetzung noch der Sprache Pamuks.
    Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass eine schlechte Übersetzung einem sehr viel vom Lesespaß nehmen kann. Das erlebte ich mal bei einer schlechten und einer ganz wunderbaren Übersetzung von Dostojewskijs "Schuld und Sühne".


    Der Inhalt des Buches zeigt sich erst am Ende des Buches. Dann erfährst du, was darin steht, wer es geschrieben hat, usw.
    Der Name Osman fällt schon früher, so weit ich mich erinnere, muss aber noch einmal nachsehen. Ich glaube, der Name ist ein ganz normaler in der Türkei, so erscheint mir die Verbindung zum Osmanischen Reich eher sehr einfallsreich von dir.
    Das Buch verändert die Menschen, und zwar alle unterschiedlich. Osman reagiert hier am verwirrtesten (weil er eine etwas andere Beziehung zum Buch hat, wie sich nachher herausstellt), er verliert sein ganzes Selbst, aber nicht nur wegen dem Buch, auch wegen der Liebe zu Canan.


    Um das fanatische Verteidigen alter Traditionen und den ebenso trügerischen Einbruch an Modernität geht es Pamuk ja gerade. Hier werden beide Seiten dargestellt, wie sie sind. Die Traditionen werden mit Blut und Mord verteidigt, die modernen Einflüsse senken sich über die Menschen und erschaffen eine neue Welt des Stumpfsinns, der Abhängigkeit, der Manipulation. Auch die Eisenbahn-Liebe des Onkel Rifki steht für das Vertreten der modernen Einflüsse.
    Dass Osman und Dr. Narin sich so gut verstehen, liegt darin, dass Osman unter Narins Bann steht. Er lässt sich eine Waffe schenken und macht sich auf die Suche nach Mehmet. Diese Waffe ist auch Symbol seiner blinden Hörigkeit. (Das merkt man auch, bis zum Schluss!)
    Das Buch selbst steht nicht für die modernen, westlichen Einflüsse, gegen die Dr. Narin kämpft. Es hat seinen ganz eigenen "intimen" Inhalt. Die westlichen Einflüsse verbreiten sich durch Atatürk und seine ehemalige Politik. Dr. Narin ist Vertreter der alten Tradition und entfacht eine Gegenbewegung, die im Endeffekt sinnlos ist. Das wäre so, als würden wir paar Leser uns gegen die Medien erheben. Die Entwicklung kann man nicht aufhalten.


    So, ich gucke nachher, wenn ich mehr Zeit habe, ob ich noch ein paar Fragen beantworten kann.
    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo mombour,


    ja, es war ein ganz großartiges Buch und eine wunderbare Unterhaltung mit dir, und als ich es gestern zuschlug, wollte ich es gar nicht zur Seite legen, habe hier und da noch einmal gelesen.
    Mir kam es ein bisschen vor, als wäre ich durch alle Seiten g e i r r l i c h t e r t, als wäre das Lesen wie ein Theaterstück, bei dem das Publikum mit einbezogen wird.


    Für mich fügt sich am Ende alles ein bisschen zusammen. Hier ist Osman, der durch das Buch auf die Suche geht und, wie sollte es auch anders sein, letztendlich auf sich selbst trifft.


    "Ich werde deine Geschichte schreiben..." hat Onkel Rifki gesagt und somit die Spuren für den Vergesslichen gelegt, der ganz langsam wieder dorthin zurückkehrt, um sich seiner selbst BEWUSST zu werden.


    Dante und Ofterdingen, Jules Vernes und Rilke, "Beatrice" und "Die blaue Blume", alles findet man im Pamuk Text.


    Wenn der Sinn des Lebens die Suche nach dem Sinn des Lebens ist, dann muss, sobald der Sinn begriffen ist, etwas enden.
    Und wo Osman endlich losgelassen hat, sein Leben als das akzeptiert hat, was es ist, mit all seinen kleinen Freuden, hat er das "Gesamte" verstanden:
    Was ist Zeit? Ein Unfall! Was ist Leben? Eine Zeit! Was ist der Unfall? Ein Leben, ein neues Leben!



    Zurück bleibt ein Lächeln, neue Eindrücke über "fremde Länder", keine Melodie :breitgrins:, sondern das Zitat von Dante:

    Zitat

    Ich habe meinen Fuß auf jenen Lebensabschnitt gesetzt, von dem es keine Rückkehr mehr gibt!


    Denn jeden Schritt, den wir tun, führt uns letztendlich in diese Richtung.


    Wer beim Lesen denken und phantasieren, das Buch fast selbst schreiben, es für sich interpretieren, neu entwerfen, wieder verwerfen, anders zusammensetzen, umwälzen, erfahren, durchforschen, sich irritieren lassen, wer sein eigenes Denken und Mutmaßen auf die Probe stellen und Bedeutungen durch alle Überlegung am Ende als selbst erschaffen betrachten möchte, dem empfehle ich von ganzem Herzen "Das neue Leben".


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo.


    An dieser Stelle habe ich auch wieder ein bisschen Pamuk'sche Kritik herausgehört:

    Zitat

    Gemächlich und vornehm tranken sie Raki, und in der Gewissheit, die Republik der mit dem Trinken beschäftigten Wirtshausmenge anvertraut zu haben, lächelte Atatürk zwischen den Eisenbahnbildern, Landschaften und Künstlerporträts an den Wänden aus seiner gerahmten Fotografie auf sie alle herab.


    Der Mann, der hier in der Türkei die "westlichen Einflüsse" geltend gemacht hat, lächelt über den Einbruch dieser "Normalität". Erinnert ein bisschen an die Indianer, die auf einmal die Bekanntschaft mit dem "Feuerwasser" gemacht haben.
    Was mich verwirrt:
    Der traditionelle Mensch wird hier als "Natur - liebend" dargestellt, der die "Dinge" achtet, während er vor Mord nicht zurückschreckt, um seine Werte zu verteidigen. Trotzdem steht dem allen gegenüber der moderne Mensch, der durch Atatürk beeinflusste Freiheiten wahrnimmt, der aber dadurch auf erschreckende Art und Weise verkommt, sich von den Medien beeinflussen lässt und gleichzeitig dem Kapitalismus als "normal" erachtet.
    Hier legt Pamuk sich in keiner Weise fest.
    Aber, so gesehen, gibt es ja auch kein richtiges "Gut" oder "Böse", ein nur "Richtiges" und nur "Falsches". Mir haben die Eindrücke Dr. Narins von Welt und Natur sehr gefallen, natürlich nicht der Mensch,


    Im Gedanken an Atatürk, der ja in Thessaloniki (von den Türken Saloniki genannt) geboren ist, muss ich direkt an den "Weißen Turm" denken, den ich unzählige Male in Thessaloniki besucht und bewundert habe. Als Thessaloniki unter osmanischer Herrschaft stand, wurde hier auf recht grausame Art den Griechen von den Osmanen präsentiert, was sie erwartete, wenn sie sich auflehnten. Um die Zinnen hangen abgeschlagene Köpfe von Griechen, die sich widersetzt hatten. Am weißen Turm rannen dann die Spuren des Blutes herab, was gerade durch die Farbe des Turms in seiner "Unschuld" einen grausigen Eindruck vermittelte.
    Heute ist das freilich nicht mehr zu sehen, aber der Schauer dieser Gewaltherrschaft steckt noch irgendwie im Gemäuer.


    In der Unterhaltung zwischen Mehmet und Osman kommen schließlich die Bonbons "Neues Leben" ins Spiel, die, wie ich verstanden habe, einerseits Sinnbild für Kindheitserinnerung, alter Traditionen sind und auch ebenso für die Suche nach dem Ursprung der Dinge stehen.
    Pamuk wählt ja seine Werbenamen recht geschickt.
    Hotels mit den Namen "Welt" oder "Frohsinn" oder Restaurants mit dem Namen "Guter Geschmack".
    Hier zeigt sich eine recht oberflächliche Beeinflussung, als müsse ein Name ausreichen, um zu zeigen, dass es hier ein gutes Hotel ist. Ebenso das Hotel "Sicherheit", in dem Osman über seine

    Ironie!


    Dadurch, dass Osman immer mal wieder auf diese Bonbons "Neues Leben" stößt, ergibt sich zum Beispiel eine dieser Fragen:


    ..., die er Mehmet stellt, und der diese sicherlich nicht beantworten kann. Doch trotzdem ist Osman auf der Suche nach genau diesem Ursprung, während Mehmet


    Diesen Satz von Mehmet fand ich so schön, denn das gilt wohl für alle guten Schreiberlinge und Künstler:

    Zitat

    Da ich kein einziges Wort ohne Gefühl schreiben möchte, ohne dessen Kraft zu spüren, warte ich geduldig auf die Inspiration.


    Schließlich sagt Mehmet zu Osman:


    ..., denn man kann nichts zurückdrehen oder ein völlig neues Leben beginnen. Man kann das "Ding an sich" nicht erfassen, nur ahnen, man sieht nur das, was man sehen möchte. Darum wirkt das Buch auch so unterschiedlich auf die Menschen, weil sie eben alle unterschiedlich leben und denken. Osman verzweifelt


    Liebe Grüße
    PessoA

    Ja, die Meinung der anderen Leser würde mich auch interessieren.


    Aber, was ich noch sagen wollte. Genau das ist es, was du sagst, mombour, ich erlebe mich hier in allen möglichen Interpretationen, Überlegungen, Widerrufen, Verwirrungen, Mußmaßungen, Spekulationen, Phantasien, Deutungen und Hinterfragungen.
    Pamuk schafft es ganz herrlich seine Leser auf falsche Spuren zu locken, ohne sich selbst dabei zu widersprechen. Das ganze Buch birgt eine ganz unfassbare Weite, einen großen Deutungsrahmen, wobei man aber auch wieder dorthin zurückfindet, wohin Pamuk den Leser führen möchte.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo mombour,


    ja, Osman wird nun mit seiner Kindheit und dem Bildband seines Onkels konfrontiert, von dem wir ja später dann auch erfahren,


    Schon vorher fand ich die Szene gut, als Osman von diesen zwei zwielichtigen Typen in das Gasthaus geführt wird, um von ihnen dann durch den Rausch von Dr. Narin zu erfahren, der ja


    Dabei dann das Vertrauen zu ihnen, das sich nur daraus ergibt, dass sie den Augenblick genießen, der sich "zwischen der siegreichen Vergangenheit und der schrecklich elenden Zukunft" befindet und als Frieden ins Herz schleicht.
    In diesem Rausch stellt Osman so schön fest:

    Zitat

    Hier war das Leben, es war weder dort noch an irgendeinem anderen Ort, weder im Paradies noch in der Hölle.


    So viele Menschen laufen, um nach einer möglichen Zukunft zu greifen, oder klammern sich an Altbewährtes, hoffen auf ein Paradies, ein Leben danach und vergessen, das jetzige zu leben. Selbst in so einer Kneipe, wo der "betrunkene Lastwagenfahrer" neben dem "Nähmaschinenvertreter" sitzt und trinkt, zeigt sich das Leben. Ein modernes, dreckiges Leben, wie es viele als normal erachten.


    Aber wieder vorgespult zu Dr. Narin in seiner malerischen Landschaft, alles wirkt wie ein Phantasieland, eine ewige Weite, bei der das Auftauchen Shakespearer Sommernachtsgestalten nicht überraschend wäre.
    Narin war mir zuerst sympathisch, solange er erklärt:


    Zitat

    … die Dinge hätten ein Gedächtnis. Im Grunde genommen besäßen Gegenstände genau wie wir die Eigenschaft, ihre Erfahrungen, ihre Erinnerungen aufzuzeichnen, zu bewahren, doch die meisten von uns seien sich dessen nicht bewusst. „Dinge befragen sich gegenseitig, verständigen sich, flüstern miteinander und sorgen für eine heimliche Harmonie untereinander, sie rufen jene Musik ins Dasein, die wir die Welt nennen“…


    ... was mir in seinem Ursprung gefällt, nur hinterher stellt sich dann heraus, dass Dr. Narin ganz andere Absichten verfolgt, ja


    Zuvor hat ja der geheimnisvolle Fremde, der Osman noch vor aller Auseinandersetzung mit der "Zusammenkunft" und dem "Fernsehfilm-Anschlag" bereits geraunt:

    Zitat

    Kulturen entstehen, Kulturen vergehen. Glaube an ihre Entstehung, wenn sie entsteht, doch greif zur Waffe wie der kleine posauneblasende Spielverderber, wenn sie zusammenbricht! Wie viele von ihnen wirst du töten, wenn sich ein ganzes Volk zu einer anderen Identität bekennt?


    Schön fand ich solche Vorwürfe:

    Zitat

    Genauso wie die COCA-COLA Trinker, die davon verrückt wurden, es aber nicht merkten, weil alle davon tranken und verrückt wurden.


    Ein Kern Wahrheit steckt vielleicht drin? :breitgrins:


    Auch, als Narin hier erwähnt:


    ... war ich noch angetan, denn eigentlich birgt das Buch schon eine gewisse Verbitterung bei denen, die es lesen, führt sie aus einem "blinden" Leben ohne Argwohn in ein Leben der Suche, des "anderen Blicks".


    Das Buch von Pamuk wird immer spannender, und vieles ergibt einen neuen Sinn, andere Deutungen mystischer Art erhalten auf einmal Klarheit. Nicht ein Wechsel an Mensch, denn


    Das erklärt natürlich einiges.
    Und, wir erfahren noch mehr. Osman stellt erstaunt fest:


    Da bricht das ganze Gerüst des Schicksals, des Zufalls zusammen, und das Buch verliert in meinen Augen ein bisschen des mystischen Lichts, diesen völligen Wandel. Es wirkt dabei auf viele Menschen unterschiedlich, so manch einer hat seine Illusion und seinen Glauben verloren und findet im Buch einen Frieden, mit dem er leben kann.
    Aber Osman


    So, jetzt habe ich mal ein bisschen zusammengefasst. Ich hoffe, ich bin nicht zu schnell.
    :zunge:


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo,


    ich hoffe, wir sind nicht all zu schnell. :breitgrins:



    Ja mombour, den Schalk spüre ich auch. :D


    Wo hier Canan und Osman nach Güdül kommen, da schwingt mir ein bisschen türkische Tradition entgegen. Männer und Frauen werden getrennt, die Frauen sitzen auf der einen Seite zusammen, die Männer trinken auf der anderen... Raki (das Gesöff, das sich scheinbar in aller Welt als kleine alkoholische Anregung eingeschlichen hat, der Ouzo in Griechenland, der Pernod in Frankreich... usw.)
    Auch hat diese ganze Zusammenkunft der "Buchleser" jetzt etwas von einer politischen Versammlung, wie ich finde.
    Hier baut Pamuk wohl die nächste Kritik langsam auf.


    Schön fand ich bestimmte Sätze der verschiedenen Menschen:

    Zitat

    Mit jedem Atemzug werden wir etwas weniger. Und sie sagten: Wir holen die Dinge hervor, die wir begraben haben.


    Oder der zahnlose Greis, der - wie schade, nicht trinken konnte:

    Zitat

    Er sagt zu uns, fürchtet euch nicht, dann werdet ihr nicht verletzt sein.


    Es heißt ja, dass man das anzieht, wovor man sich fürchtet, wenn man sich aber nicht fürchtet, dann ergreift diese Angst keine Macht, zieht das Befürchtete nicht an und man wird nicht "verletzt".


    Lachen musste ich hier:

    Zitat

    Dem Freund, der ein Spiel Karten aus der Tasche zog, voll Stolz den "Scheich", den er anstelle des Königs, und den "Knecht", den er anstelle des Buben gezeichnet hatte, vorzeigte (... ), gab ich so nachdrücklich recht, dass wir beide staunten (... )


    Da sehe ich Osman direkt vor mir, wie er schwankend von allem Raki und irgendwie euphorisch allem und jedem zustimmt, ohne genau zu hören, was gesagt wird.


    Auch erneut erwähnt, das hier:

    Zitat

    Die Zeit ist ein Unfall, wir sind hier als Ergebnis eines Unfalls. Auf der Welt sein, das ist genauso.


    Wenn man wieder in den Sufismus eintaucht, hört man hier die Klage des modernen Menschen heraus, der sein Ego über alles stellt, der blind läuft und nach allem giert. Darum ist er Unfall, und seine Zeit ist ebenso ein Unfall.


    Und zu guter Letzt dann Osman:

    Zitat

    Wenn das Leben eine Reise ist, so bin ich seit sechs Monaten auf der Reise und habe etwas gelernt (... ) Mir war meine ganze Welt verlorengegangen, weil ich ein Buch gelesen hatte, und ich bin auf Reisen gegangen, um die neue zu finden.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Osman = Mehmet
    Möglich, auch aus den Reaktionen von Canan geschlossen. Zum Beispiel hier, als Osman sie geküsst hat und sie sich wehrt (man bedenke, dass sie ihn am Anfang zuerst geküsst und dadurch einiges ausgelöst hat):

    Zitat

    Nein, nein, mein Lieber, (...) du bist nicht er, auch wenn du ihm sehr ähnlich bist. Er ist an einem anderen Ort...


    Wenn er sich gewandelt hat, ob tot oder anders, kann er sich aus Mehmet in Osman verändert haben.


    Oder an anderer Stelle erklärt sie:

    Zitat

    Ich reise in Mehmets anderes Leben. Aber in jenem Leben war er nicht Mehmet, sondern ein anderer.


    Die Verbindung mit dem Sufismus scheint mir auf jeden Fall richtungsweisend durch das Buch. Ganz grob abgeleitet von den vier Stufen kann man das Buch hier schon im übertragenen Sinn mal erörtern:


    1. Auslöschung der sinnlichen Wahrnehmung (hier beim Lesen des Buches, das den Wandel bewirkt und mit neuen Augen blicken lässt)
    2. Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften (Zunächst die Veränderung und der neue Blick, der bewirkt, dass man anders läuft und aufmerksamer den ganzen "Stumpfsinn" wahrnimmt. Dann, die Suche. Osman und co begeben sich auf die Suche nach der anderen Welt. Die Aufgabe ist das gemeinsame Erreichen. Die Menschen, die das Buch gelesen haben, lassen Haus, Familie, Leben hinter sich, geben also ihre Gewohnheiten, ja fast ihre Individualität auf.)
    3. Sterben des Ego. (Und wo sie ihre Besitztümer hinfort geschmissen haben, finden sie die Erlösung durch einen abstrakten Tod, das Ich ist nicht mehr wichtig, weil das Ich vom Buch geleitet, bestimmt wird, sich in dieses wandelt)
    4. Auflösung in das göttliche Prinzip. (Möglich, dass das Finden hier genau das birgt. Die Menschen, auf die Canan und Osman stoßen, wissen, dass sie sterben, wofür sie sterben und wollen auch sterben. Loslassen, Auflösung).


    Auch hier die Verbindung:

    Zitat

    Das oberste Ziel der Sufis ist, Gott so nahe zu kommen wie möglich und dabei die eigenen Wünsche zurückzulassen. Dabei wird Gott bzw. die Wahrheit als „der Geliebte“ erfahren.

    (Wikipedia)
    Canan - die Geliebte = die Wahrheit.



    Und hier:

    Zitat

    Durch die Liebe wird der Sufi zu Gott geführt, wobei der Suchende danach strebt, die Wahrheit schon in diesem Leben zu erfahren und nicht erst auf das Jenseits zu warten. Dies spiegelt sich klar in dem Prinzip zu sterben bevor man stirbt wieder, das überall im Sufismus verfolgt wird.


    Sie sterben, ohne wirklich zu sterben.
    Und geführt wird Osman von seiner Liebe zu Canan.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo alle miteinander, hallo mombour,


    so gesehen, schimmert Kant durch alles durch. Ein anderes Leben. Das "Hinter-den-Dingen". Der Mensch, der im Vordergrund sucht, ohne den Hintergrund zu berücksichtigen.
    Wenn man sich diese ganze Geschichte mal so vor Augen hält, erscheinen alle Menschen, die das Buch nicht gelesen haben, an ihren Stumpfsinn, an ihre Normalität und ihre Gewohnheiten gekettet, während die, die das Buch gelesen haben, eine völlig neue Erfahrung machen.


    Gerade im sechsten Kapitel kam ich wieder in die Überlegung.
    Wenn nun Canan ein Engel ist (oder so erscheint), und Osman sie gefunden hat, also sieht, schon ganz am Anfang in der Schule, dann ist Osman vielleicht sogar schon vorher gestorben, und das Buch ist ein Totenbuch, eine Suche nach einer anderen Dimension, die Suche nach dem "Paradies"?


    Noch eine Spekulation (denn das gefällt mir an diesem Buch am allermeisten, dass mein Kopf und meine Phantasie ständig arbeiten, angeregt sind): Vielleicht ist Mehmet gar ein Abbild von Osman?


    Auf jeden Fall scheint der Unfall und der Tod Menschen in die Welt des Buches zu führen, nein, vielmehr scheint das Buch vorher etwas geöffnet zu haben, wodurch Menschen sich nach dem Tod sehnen, oder ihn erwarten.
    Schlägt da jemand das Buch auf und sieht Charon?
    Ist das Lesen oder Entdecken des Buches vielleicht eine Ankündigung des baldigen Todes?


    Ach, es ist unheimlich spannend.


    Nochmal zu dem Engelhaften:
    Das sterbende Mädchen sagt zu Canan:
    "Wie schrecklich ihr seid, ihr Engel..."
    Auch hier die Vieldeutigkeit. Meint sie das Verallgemeinterte, also Canan und ihresgleichen, oder meint sie Canan und Osman?


    Auch, als Canan und Osman im Kapitel davor auf einmal ihre gute Seite zeigen und auf den Bahnhöfen den Leuten helfen, für sie die Fahrkarten besorgen, auf ihre Taschen aufpassen etc. ... Da ahnt man schon, dass sich hier zwei Seiten zeigen. Einmal Osman, der Geld von Toten klaut, lügt... Dann Canan, die ihre Familie verlässt. Und dann das Hilfsbereite, das Leuchten aus Canans Gesicht.
    Auch die Müdigkeit der Leser... Ausgelaugt, weil kurz vor dem Sterben? Schon tot?
    Das Buch birgt auf jeden Fall eine dunkle Welt und löst unterschiedliche Reaktionen aus. Auch Hass und Schuldzuweisung.
    Wir erfahren aber, dass nur die Dinge wichtig sind, die der Mensch während des Lesens erkennt. Und genau das kann man vielleicht auch auf uns und das Lesen dieses Buches beziehen. Jeder sieht hier etwas anderes, erlebt die Dinge unterschiedlich.


    Liebe Grüße
    PEssoA

    Warum ich auch über den möglichen Tod nachgedacht habe, war diese Suche inmitten dieser ganzen Unfälle. Wie kann ein Mensch denn immer wissen, wo sich gerade ein Unfall ereignet?
    Aber, man darf Pamuk hier wohl auch nicht zu wörtlich nehmen oder hinter allem etwas deuten und vermuten.
    Osman und Canan reisen ja nun gemeinsam, und das Buch birgt eben den Abgrund des Todes.
    Trotzdem muss man bedenken, dass Osman das Buch ja auch nicht mitgenommen hat. Vielleicht liegt er darüber gebeugt und schläft und träumt alles nur.
    Aber schöne Sätze dazwischen:


    Zitat

    Ich schwebte (…) zwischen Wachen und Schlafen, dem Träumen näher als dem Schlaf, den Geistern der Finsternis draußen näher als den Träumen.


    Zitat

    Der Mensch tut meist das Gegenteil von dem, was er denkt oder was er zu tun glaubt. Wenn du in jenes Land gehst, kehrst du zu dir selbst zurück, während du glaubst, das Buch nur zu lesen, schreibst du es von neuem, ich helfe, sagst du, und verletzt… Die meisten Menschen wollen im Grunde genommen weder ein neues Leben noch eine neue Welt. Deswegen ermordeten sie den, der das Buch geschrieben hat.


    Zitat

    Die Liebe (…) gibt dem Menschen ein Ziel, holt die Dinge des Lebens aus ihm heraus und führt ihn, wie ich jetzt weiß, schließlich zum Geheimnis der Welt.


    Und auch dieser Satz, ein Hinweis:

    Zitat

    Er hat mir erzählt, dass seine eigene Befreiung, sein erster Schritt hinaus ins neue Leben durch einen Verkehrsunfall verwirklicht wurde... Richtig, Unfälle sind ein Überschreiten, Unfälle sind eine Pforte ... In dem magischen Moment des Überschreitens erscheint der Engel, und ebenda wird vor unseren Augen der eigentliche Sinn des chaotischen Zustandes, den wir Leben nennen, deutlich.


    Sie schweben auf jeden Fall irgendwo zwischen zwei Welten.
    Die Spannung hält an.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo.


    Ich überlege die ganze Zeit, ob Osman vielleicht bei dem Busunfall ums Leben gekommen ist, dieses ganze Verwirrspiel um Suchen und Finden, Weltenwechsel...


    Zitat

    Was ist Zeit? Ein Unfall! Was ist Leben? Eine Zeit! Was ist der Unfall? Ein Leben, ein neues Leben!


    Auch die Fahrten, die Osman mit den vielen Bussen macht, die immer wieder auf dieses Erlebnis zurückführen, die zerschmetterten Körper, diese ganze Auseinandersetzung mit Tod und Sterben, verwirren.
    Dass er die Toten beklaut spricht für eine recht grausame Lebendigkeit, trotzdem bewirkte der Wandel durch das Buch am Anfang ja auch, dass er die echte Welt nicht mehr ernst nimmt und fremde Menschen anlügt, aus seinem toten Vater einen grausamen Menschen macht, dessen Tod ein Glück für Mutter und Sohn ist.
    Diese Wirkung des Buches...


    Osman stellt nun fest, dass die Busfahrten ihn nicht weiterbringen und sucht stattdessen direkt die Unfallstellen auf. Er sucht also die Schnittstelle zwischen Leben und Tod, um Canan wieder zu begegnen.
    Ist das nicht ein Zeichen, dass sie vielleicht alle drei (einschließlich Mehmet) nicht mehr lebendig sind?
    Osman sieht immerhin Geister und Tote.


    Erst einmal
    mit Grüßen
    PessoA

    Mir scheint, dass Pamuk hier auch schöne Angriffe auf die Medien macht.
    Das Fernsehen mit dem kalten Licht, überall wird nur ferngesehen, wenn er durch die Strassen irrt, oder im dritten Kapitel bei Canans Familie. immer läuft der Flimmerkasten und sendet...
    Das Fernsehen also als ständiger Begleiter der Menschen, die nicht „erfüllt“ sind, während dagegen Osman das Buch liest, und zwar mehrmals und immer in den Nächten. Er tauscht somit die körperliche Ruhe, den Schlaf gegen das Lesen aus.
    Auch spricht Osman von verschiedenen Werken, die Menschen verändert haben. Es ist immer ein Schwanken zwischen der Mystik und dem philosophischen Hintergedanken, während das Fernsehen überall nur blaues, kaltes Licht ausstrahlt.
    Das Licht des Buches dagegen ist warm, durchströmt den Raum, den Menschen, genauer:

    Zitat

    Während der Lektüre schien manchmal das Licht, das dem Buch entströmte, so kraftvoll, so hell zu sein, dass ich meinte, nicht nur mein am Tisch sitzender Körper und meine Seele hätten sich gänzlich aufgelöst, sondern alles, was mich zu mir selbst machte, sei mit dem Lichtstrahl des Buches zunichte geworden.


    Ein schöner Hinweis, darauf, dass die Welt, wie Osman sie erlebt, nicht mehr nur realistisch ist.
    In Heiligenbildern wird dieser Lichtstrahl ja sehr oft verwendet. Das Licht erleuchtet einen Menschen, macht ihn zu etwas Besonderen, der Glaube als Lichtstrahl…, Trost. Hier spricht viel Mystizismus, so kann ich mir gut vorstellen, dass das Buch eben diesen Inhalt enthält.
    Schön, wie wir hier darüber spekulieren, was? :breitgrins:


    Liebe Grüße
    PessoA

    Auch ein Hallo von mir... :winken:


    da sind ja schon ein paar schöne Ansichten zusammengekommen. Spätestens ab dem zweiten Kapitel war ich auch irritiert. Auf einmal schlägt die ganze Szene um, wo ich noch diese Tiefe des Buches erfassen wollte, ist nun das mystisch Verklärte eingetroffen, das Buch greift sich seine Leser, ein seltsames Geheimnis wölbt sich daraus hervor, irgendwie gerät alles in ein irritierendes Spektakel. Fast könnte man meinen, das Buch wird hier lebendig. Mehmet hinterlässt keine Spuren im Sand? Wird angeschossen und keiner hat etwas gesehen? Im Krankenhaus keine Spur von ihm?
    Hier kann man selbst als Leser erst einmal nur als Beobachter fungieren. Canan und Mehmet streiten sich. Er ist blaß und müde. Alles wohl Hinweise.


    Gut fand ich, wie Osman hier nur noch einen Studenten imitiert, weil alles sich verändert hat, als liefe er in eigener kleiner Welt umgeben von der großen.
    Den Verdacht auf Illusion und Osmans subjektive Sicht auf das Geschehen, ist mir auch gekommen.


    Wir sehen hier, wie sein Blick in die Welt völlig beeinflusst wird von dem, was er gelesen hat. Alles hat nun Verbindung mit der Welt aus dem Buch.
    Ich bin auch gespannt, wie es weitergeht.


    Auch muss ich sagen, dass ich Pamuks Schreibstil modern finde, was ich so gar nicht erwartet habe. Ich dachte, er schriebe "traditioneller", habe vorher noch nichts von ihm gelesen. Aber, das gefällt mir. Scheinbar ist hier der Einfluss bemerkbar, den er sich angeeignet hat, als er in Amerika gelebt hat.
    Dass hier mit Tiefe und Vielschichtigkeit gearbeitet wird, dass ein Geschehen nicht einfach als das steht, wie man es liest, macht sich in den kleinen Abschweifungen bemerkbar. Das weckt auch diese Spannung, diese Überlegungen.
    Und ein Buch, das verwirren kann, ist schon mal nicht schlecht.
    Záfon dagegen hat mir auch nichts gegeben. Pamuk gefällt mir besser. :smile:


    So ein Satz ist natürlich herrlich:

    Zitat

    Mir war schmerzhaft bewusst, dass die Kette von Eindrücken, die wir von dieser Welt bekamen, nur aus einer Serie falsch verstandener Zeichen und bestimmter blind übernommener Gewohnheiten bestand und dass sich die wahre Welt, das wahre Leben, entweder innerhalb oder vielleicht auch außerhalb davon, aber jedenfalls nahebei befand.


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo.


    Ja, mombour, ich habe es ähnlich empfunden.
    Bei mir öffnet sich hier sofort die Phantasie. Die Sprache von Pamuk ist angenehm, man ist sofort mittendrin.
    Diese völlige Wandlung beim Lesen dieses Buches kann ich gut nachvollziehen, gerade, weil es mir mit so manchem philosophischem Werk ähnlich erging. Die Welt hat sich verändert, eben weil sich der eigene Blick geändert, geweitet hat. Man sieht mit neuen Augen auf das Leben, mit anderem Wissen. Das Buch öffnet ein neues Empfinden, birgt gar kleine Antworten auf mächtige Fragen.
    Pamuk deutet den Inhalt des Buches zunächst nur an, was Freiraum zum Phantasieren lässt.


    Das Licht, das hier aus dem Buch strömt, scheint mir für den außergewöhnlichen Inhalt zu stehen, so dass der Mensch, der Lesende, geblendet wie auch erleuchtet wird.
    Auch diese Einsamkeit ist ein schönes Zeichen für das Buch, das verändert hat. Vielleicht lief hier jemand zuvor noch halbherzig durch die Welt, hinterfragte nicht, durchdachte nicht, und nun, wo sich so viel neue Sicht offenbart hat, steht man zunächst völlig alleine inmitten der anderen Menschen, für die sich nichts verändert hat, die noch laufen, wie zuvor man selbst. Und durch diese Ratlosigkeit fühlt man sich dem Inhalt des Buches noch näher.


    "Der Wegweiser durch ein wildes, fremdes Land."


    In etwa ist hier ein Mensch, der jeden Tag den gleichen Weg nimmt, auf dem er auch wieder zurückkehrt, und nun, durch das Lesen dieses Buches, eine kleine Abzweigung genommen hat, die ihn auf einmal in eine völlig fremde Gegend führt, in der er sich nicht auskennt, und die dadurch bedrohlich auf ihn wirkt. Nur das Buch leitet ihn, was ermöglicht, dass er wagt, weiterzugehen.
    Und, was passiert, wenn man erst einmal eine neue Richtung gegangen ist? Es ist nicht mehr möglich, einfach auf die gewohnte Strecke zurückzukehren, mit dem Wissen um die Abzweigung.


    Zitat

    Es ging um eine Reise, ständig ging es darum, alles war eine Reise.


    Ein Reise wohl durch die eigene innere Landschaft.


    Zitat

    So verwandelten sich beim Lesen und Weiterlesen meine Anschauungen in die Wörter des Buches und die Wörter des Buches in meine Anschauungen.


    Bei guten Büchern passiert das öfter, nicht alleine, dass man sich selbst wieder erkennt, sondern, dass man nach dem Lesen nicht mehr weiß, wie man vorher anders denken konnte, weil sich der ganze Geist gewandelt hat.


    Den eigenen Tod, den Osman hier zwischen den Zeilen wahrnimmt, empfinde ich so:
    Es ist kein eigentliches Sterben, sondern nur das Verlassen des einen Lebens, um in das andere, neue (veränderte) einzutauchen. Das passiert bei bestimmten Umschwüngen immer. In einem ganzen Leben reihen sich verschiedene Leben aneinander, die völlig abgegrenzt nacheinander folgen. Wie Räume, die sich auftun, neue Erlebnisse, die den Menschen prägen und somit verändern. Manchmal reicht schon ein Umzug in eine andere Stadt, wobei man seine alten Gewohnheiten hinter sich lässt und den neuen, sich bietenden Gelegenheiten folgt, sich neu einrichtet. Ein neues Leben, in dem das alte nur noch bedingt Platz hat. Das Buch öffnet etwas, was wir erst einmal nur ahnen können.


    Ein Aufbruch, ja... zunächst in Furcht, dann mit der Erkenntnis, dass das Leben nun bereichert ist.


    Grüße
    PessoA

    Na, der Henry Miller hat ja auch ein bisschen neue Sprache geprägt, so mag sie uns heute noch modern erscheinen.
    Was mich ja immer fasziniert ist dieses Unscheinbare zwischen seinen Zeilen.
    Ich habe ja mit dem von dir im anderen Ordner vorgestellten Buch "Das Lächeln am Fuße der Leiter" begonnen, ein noch ganz und gar anderer Miller-Stil, wobei mir die Idee gut gefiel. Dann ein paar Jahre später legte ich los mit der Trilogie "S.e.x.us", "Plexus" und "Nexus", wo man viel über sein Leben mit June erfährt, und kam dann zum "Wendekreis des Krebses", der mich nun völlig begeistert hat. "Der Wendekreis des Steinbocks" dagegen war nicht so mein Fall, eben weil mir die Pariser Stimmung fehlte. (Künstler halt! :breitgrins:) Miller sagt ja nicht umsonst:

    Zitat

    New York lässt sogar einen sehr reichen Menschen seine Unwichtigkeit empfinden. New York ist kalt, glitzernd, böse. die Gebäude beherrschen alles.


    Das empfinde ich ähnlich, auch wenn Miller selbst hier genauso abgebrannt und sympathisch ist, wie im anderen Wendekreis. Auch gut gefallen mir die Gestalten, auf die er trifft, irgendwie alle schillernd in ihrer Normalität und auch Abgedrehtheit.
    Letztens las ich dann erneut den "klimatisierten Albtraum", ein Geschimpfe auf Amerika, obwohl er die Reise dorthin begann, um sich mit seinem Heimatland zu versöhnen. Aber oft kann ich ihm nur zustimmen. Das Land, das seine eigene Vulgarität verehrt... :breitgrins:


    Die biografischen Blicke von Erica Jong auf Henry Miller sind großartig, gerade weil hier auch eine großartige Frau schreibt. Sie gilt ja als der "weibliche Miller". Im Buch beschreibt sie auch ihre Begegnung mit ihm. "Angst vorm Fliegen" ist ein tolles Buch, wo sie offen und "breit grinsend" über ähnliche Themen schreibt.


    Wer mehr über Miller erfahren möchte, dem empfehle ich auch unbedingt zwei Bücher, einmal Anais Nin "Henry, June und ich", und Robert Ferguson "Henry Miller - Ein Leben ohne Tabus".


    Ach,... ich könnt' ewig schwärmen!


    Liebe Grüße
    PessoA

    Hallo mombour,


    dieses Buch nun ist eines meiner Lieblingsbücher. Durch die Auseinandersetzung mit solchen Zeilen haben sich in meinem Denken und Fühlen ganze Barrieren geöffnet. Henry Miller wurde zu seinen Lebzeiten so oft als Erotomane abgetan, wo doch so viel Weisheit aus seinen Sätzen spricht und zwischen allem "Fuck" leuchtet, so viel Lebendigkeit, wo man aus jeder Beschreibung die Atmung in vollem Zug erspürt, wo er selbst in so vielen Varianten ein bisschen an Freiheit offenbart, die innere Suche.
    Er starb im Schlaf, hatte noch im hohen Alter junge Geliebte, schöpfte das Leben aus voller Kraft. Das nun ist es wohl, was so manch ein Verbitterter ihm nicht verzeihen mag. Den Selbstmördern und Zerrütteten vergibt man, hebt sie oft höher, als sie waren, doch einem, der lebt wie andere den Tod suchen, betrachtet man verächtlich oder eher mit gelber Nase, obwohl er doch in all seinen Büchern ERZÄHLT wie es geht, wie es machbar ist, so zu laufen.
    "Im Wendekreis des Krebses" spaziere ich gerne, wie auch in all seinen anderen Büchern.
    Wenn er schreibt:

    Zitat

    Es wird unerhört werden, dieses Buch. Es wird Ozeane aus Raum enthalten, um sich darin zu bewegen (…) Eine Kathedrale, an deren Bau jeder mithelfen wird, der sein Ich verloren hat. Messen werden darin abgehalten werden für die Toten, Gebete, Beichten, Hymnen werden ertönen und Heulen und Zähneklappern, eine Art mörderischer Sorglosigkeit. (…)
    Sie wird wenigstens tausend Jahre Bestand haben, diese Kathedrale, und es wird keine Nachbildung geben, denn ihre Erbauer sind tot und mit ihnen die Formel.
    (…) Wir brauchen kein Genie – der Genius ist tot. Wir brauchen starke Hände, Geister, die willens sind, den Geist aufzugeben und Fleisch zu werden.


    kann ich ihm nur zustimmen, obwohl er auch bescheiden sagt:

    Zitat

    Ich bin die Leere zwischen euch. Wenn ich weggehe, habt ihr keine Leere mehr, um darin zu schwimmen.


    :breitgrins:


    Liebe Grüße und ganz ohne Ennui
    PessoA

    Hallo Manjula,


    ich habe das Büchlein mal vor einigen Jahren gelesen und war ebenso begeistert, wie du. Gao Xingjian schreibt in einfacher Sprache, doch die Sätze sind voller Schönheit. Man treibt mit ihm und gleichzeitig auch in eigene Gedanken.


    Sätze, wie

    Zitat

    Unwillkürlich empfandst du Bewunderung für ihn, Bewunderung für diese Arroganz und diesen Blick seiner Augen, in dem Menschen keinen Platz hatten.


    Zitat

    Von ihm wird auch nur ein STück Haut zurückbleiben, ein Leichnam.


    oder


    Zitat

    Doch ich kniete nicht nieder und bekam auch keinen Klagelaut zustande. Wie klein ich war.


    ... machen die Bilder sehr lebendig.
    Ein bisschen Wehmut nimmt man mit.


    Grüße
    PessoA