Hallo mombour,
es ist ein ganz wunderbares Bild, nicht wahr? Ich finde es auch sehr beeindruckend.
Die Auswirkungen des Anfalls, die Myschkin in seiner Mystik beschreibt, faszinierten mich ebenso.
Diese Verwirrung zuvor, in der er nicht mehr klar denken kann und der Taumel hinein in diesen Anfall (wie eine langsame Vorbereitung), der ihm eher als Licht erscheint, nicht als etwas Negatives, auch als eine Art von kurzer Erlösung. Wir, die Außenstehenden sehen dieses krampfende, mit verdrehten Augen und Gliedern zuckende Wesen in seiner Krankheit, der Kranke selbst erfährt darin eine Offenbarung und eine Erhellung seiner Bedrückung, erlebt dabei scheinbar einen kurzen (Aus)Weg aus dem Leid:
... ganz plötzlich mitten in der Traurigkeit, der inneren Finsternis, des Bedrücktseins und der Qual (…) Die Empfindung des Lebens, des Bewusstseins verzehnfachte sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Der Verstand, das Herz waren plötzlich von ungewöhnlichem Licht erfüllt; alle Aufregung, alle Zweifel, alle Unruhe löste sich gleichsam in eine höhere Ruhe auf, in eine Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Sinn und letzter Schöpfungsursache. (…) Diese Sekunde war allerdings unerträglich.
Bei den "Dämonen" gibt es eine ähnliche Stelle. Kirilloff, der Selbstmörder, sagt:
Zitat
Es gibt Sekunden, es sind im ganzen nur fünf oder sechs auf einmal, und plötzlich fühlt man die Gegenwart der ewigen Harmonie, der vollkommen erreichten. Das ist nicht irdisch; ich rede nicht davon, ob es himmlisch ist, sondern ich will nur sagen, dass ein Mensch in irdischer Gestalt das nicht aushalten kann. Man muss sich physisch verändern oder sterben. Dieses Gefühl ist klar und unbestreitbar. Als ob man plötzlich die ganze Natur empfände, und plötzlich sagt man: ja, es ist richtig.
(…) Das Furchtbarste ist, dass es so schrecklich klar ist und eine solche Freude. Wenn das länger als fünf Sekunden dauerte … würde die Seele es nicht aushalten und müsste vergehen.
Auch hier beschreibt Dostojewski den Zustand während des Anfalls. Ich führe die Vergleiche zu den "Dämonen" nur zur Vervollständigung an, um Dostojewski hier klarer zu erkennen. :smile:
Bei dem Fürsten heißt es weiter:
Wenn er später in bereits gesundem Zustande über diese Sekunde nachdachte, musste er sich sagen, dass doch all diese Lichterscheinungen und Augenblicke eines höheren Bewusstseins und einer höheren Empfindung seines Ich, und folglich auch eines „höheren Seins“, schließlich nichts anderes waren als eine Unterbrechung des normalen Zustandes, eben als seine Krankheit (…)
... eben, wie du sagst, ein vergeistigter Zustand.
Deshalb ist es gar nicht so sehr ein "trotzdem", sondern Myschkin sieht darin keine Krankheit, sondern etwas Auserwähltes, einen plötzlich klaren Blick.
… was geht es mich an, dass diese Anspannung nicht normal ist, wenn das Resultat, wenn der Augenblick dieser Empfindung, nachher bei der Erinnerung an ihn und beim Überdenken bereits in gesundem Zustand, sich als höchste Stufe der Harmonie, der Schönheit erweist (...)
In meiner Übersetzung heißt es wunderbar über die Wirkung im Vergleich zu den Drogen:
Zitat
(…) Denn das waren doch in diesem Moment nicht irgendwelche geträumten Visionen, wie nach dem Genuss von Haschisch, Opium oder Alkohol, die die Denkfähigkeit herabsetzen und die Seele verzerren, unnormale und unwirkliche Trugbilder.
... die die Seele verzerren. Großartige Beschreibung. Also ist es ein für den normalen Menschen nicht fassbarer Rausch, der den Geist nicht verzerrt, sondern öffnet.
Da frage ich mich, ob Dostojewski es wirklich so für sich empfunden hat. Diese Sekunden müssen unerträglich sein, aber für den Kranken nur deshalb, weil sie so voller Glück und Freude sind. Der Epileptiker verliert ja jede Kontrolle, warum Myschkin auch
die Treppe hinunterstürzt und nicht mitbekommt, dass Rogoshin ihn mit dem Messer verletzt.
Da kann man sich vorstellen, dass dabei eine ganz andere "Welt" aufgeht.
Es heißt ja auch, dass sich die epileptischen Anfälle von Dostojewski während seiner Gefangenschaft stark verschlimmerten. Möglich, dass er auch durch diese Anfälle Gott und den Glauben in sich fühlte.
Zum Fürsten selbst habe ich mir auch noch ein paar Gedanken gemacht:
Keller fasst Myschkin gut zusammen:
Erbarmen Sie sich, Fürst: bald sind Sie die leibhaftige Verkörperung einer solchen Unschuld, einer solchen Herzenseinfalt, wie sie selbst im goldenen Zeitalter unerhört gewesen sein muss, und bald wiederum oder vielmehr gleichzeitig durchschauen Sie einen mit den tiefsten psychologischen Bobachtungen, die einem wie Pfeile durch das Mark und Bein gehen.
Fürst Myschkin ist kein Idiot, und er ist auch nicht einfältig. Er ist nur unfassbar gutgläubig, unfassbar für sein Umfeld, das sich im eigenen Klassendenken suhlt.
Der Fürst ringt einfach zu oft mit sich selbst, was einen klaren Blick auf die Dinge für ihn nicht möglich macht. (Auch, darum wirkt er manchmal wie ein „Idiot“, und als Leser benötigt man hin und wieder viel Geduld mit der all zu guten Seele, die dadurch nicht besonders geistreich und fesselnd erscheint, was Myschkin zwar sympathisch, allerdings auch anstrengend macht.) Während er einen Verdacht hegt, verachtet er sich wegen des schlechten Gedankens über einen anderen Menschen. So herrscht in Myschkins Innerem immer der Kampf zwischen der Ahnung und seinem eigenen Vorwurf gegen diese Ahnung. Selbst, wenn er erkennt, dass er im Recht war (dass der Andere in schlechter Absicht handelte), muss er gerade aufgrund dieser Erkenntnis dem Anderen verzeihen und ihm noch etwas Gutes tun, für den Anderen das Leben verschönern, weil er schlecht über ihn gedacht hat. Auch das sind die Auswirkungen seines Mitleids für die Menschen. Dieses Ringen mit sich selbst deutet er mit solchen Worten an:
Zitat
… das eine ist nur ganz zufällig zum anderen gekommen, zwei Gedanken sind sich begegnet, wie das sehr oft geschieht.
Er nennt es später die „Doppelgedanken“, gegen die man machtlos ist, bei denen Myschkin voraussetzt, dass sie in jedem Menschen vorhanden sind. So kann er sich auch gegen niemanden zum Richter erheben, wenn man ihn um ein Urteil bittet.
Zitat
Am besten ist, man überlässt das Ihrem eigenen Gewissen, was meinen Sie?“
sagt er zu Keller. Auch hier wieder ein Nichtwerten (östliche Weisheit).
Hinzu kommt: Einmal ist es sein Wissen über die eigene Unzulänglichkeit, was ihm kein Urteil erlaubt, zum anderen auch das Bedürfnis, immer nur das Gute im Menschen sehen und erkennen zu wollen. Über wen er zu Gericht sitzt, ist er selbst.
Die Erschütterung über den "Idioten", die ich beim Lesen hin und wieder empfinde (diese Empörung, dass ein Mensch wissentlich alles auf sich nimmt, sich wissentlich hintergehen lässt und sich dann noch dafür schämt, dass er in seinem Verdacht Recht behalten hat), ist eher eine Art Beschützerinstinkt, weil man das gute Herz des Fürsten nicht von all diesen Gierigen ausgenutzt sehen will.
Liebe Grüße
PessoA