Henry Miller: Wendekreis des Krebses

Es gibt 3 Antworten in diesem Thema, welches 4.375 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von PessoA.

  • Meine 6. Rezi zum SUB-Wettbewerb 2007


    Hallo,


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    Der „Grand Galop chromatique“ für Klavier, ein auf Effekthascherei angelegtes brilliantes Virtuosenstück des Komponisten Franz Liszt, das aber sterilmechanisch über die Tastatur hoppelt und das Gefühl musikalischer Schönheit meinem Herzen verschlossen bleibt. Das Klavierstück lief gestern im Radio, und ich erinnerte mich an eine Szene aus dem „Wendekreis des Krebses“. Der Erzähler, Henry Miller selbst, sieht einem Freund zu, wie der sich mit einer Hure um einen Koitus bemüht. Das Bild von dem Paar vergleicht Miller mit einer leidenschaftslos sterilen „Maschine, deren Zahnradantrieb ausgerastet ist“.


    Henry Miller erzählt von seinem Leben in Paris während der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts und wie sich aus dem einleitenden Absatz schon erahnen lässt, betrachtet er sein Leben kritisch. Er vergleicht Paris mit einem Krebsgeschwür, „das wächst und wächst, bis man davon aufgefressen wird.“ Auf Anhieb ist gar nicht klar, worin sich Henry Millers Gesellschaftskritik eigentlich bezieht, ein aufmerksames Lesen ist erforderlich. Je weiter ich mit der Lektüre fortschritt, je mehr wurde mir offenbart. Es zeigte sich, hinter dem Roman steht eine östlich angehauchte Philosophie.


    Der Mensch braucht seine Freiheit, damit er zu sich selbst kommen kann, wird aber durch die Umwelt und durch andere Menschen abgelenkt, die ihm Zeit rauben, das Leben durcheinanderbringen und in die eigene Seele dringen. „...was der Künstler braucht ist Einsamkeit.“, sagt Miller und meint wahrscheinlich damit, wenn jemand künstlerisch Kreativ ist, muss sich derjenige von der äußeren Welt lösen, damit er sein Kunstwerk gestalten kann. Diese Interpretation schreibe ich einfach mal so hin. Jeder Leser wird sich seine eigenen Gedanken darüber machen. Miller kritisiert das sterile bürgerliche Leben. Über die Betrachtung gespreizter Beine eines Torso einer jungen Frau von Auguste Rodin kommt einer Autor zur ostlichen Philosophie, alles sei doch nur eine „Illusion“, auch der „Sexus..eben nur eine Leere“.


    Mir hat der Roman sehr gefallen, weil viel mehr darin steckt, als ich mir erträumt habe. Ich habe ja nur das wesentlichste genannt. Henry Miller schreibt großartige Sätze, die ich mir am liebsten einrahmen und an die Wand hängen würde, wenn Platz wäre. Er entwirft grandiose surrealistische Bilder von Paris und seinen Kampf um ein wenig Geld zum Essen, verschiedene Jobs usw. Der Weg von einer Hure zur nächsten ist nur ein Versuch, der angeödeten Welt zu entkommen.


    Henry Miller bedient sich in diesem Roman einer heute noch sehr modern anmutenden Sprache, die sehr zeitlos und frisch daherweht. Er hat schon was besonderes, der Miller, zitiert aus Goethes Gesprächen mit Eckermann, philosophiert über ein Gemälde von Matisse...und und und.


    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:


    Liebe Grüße
    mombour

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  • Hallo mombour,


    dieses Buch nun ist eines meiner Lieblingsbücher. Durch die Auseinandersetzung mit solchen Zeilen haben sich in meinem Denken und Fühlen ganze Barrieren geöffnet. Henry Miller wurde zu seinen Lebzeiten so oft als Erotomane abgetan, wo doch so viel Weisheit aus seinen Sätzen spricht und zwischen allem "Fuck" leuchtet, so viel Lebendigkeit, wo man aus jeder Beschreibung die Atmung in vollem Zug erspürt, wo er selbst in so vielen Varianten ein bisschen an Freiheit offenbart, die innere Suche.
    Er starb im Schlaf, hatte noch im hohen Alter junge Geliebte, schöpfte das Leben aus voller Kraft. Das nun ist es wohl, was so manch ein Verbitterter ihm nicht verzeihen mag. Den Selbstmördern und Zerrütteten vergibt man, hebt sie oft höher, als sie waren, doch einem, der lebt wie andere den Tod suchen, betrachtet man verächtlich oder eher mit gelber Nase, obwohl er doch in all seinen Büchern ERZÄHLT wie es geht, wie es machbar ist, so zu laufen.
    "Im Wendekreis des Krebses" spaziere ich gerne, wie auch in all seinen anderen Büchern.
    Wenn er schreibt:

    Zitat

    Es wird unerhört werden, dieses Buch. Es wird Ozeane aus Raum enthalten, um sich darin zu bewegen (…) Eine Kathedrale, an deren Bau jeder mithelfen wird, der sein Ich verloren hat. Messen werden darin abgehalten werden für die Toten, Gebete, Beichten, Hymnen werden ertönen und Heulen und Zähneklappern, eine Art mörderischer Sorglosigkeit. (…)
    Sie wird wenigstens tausend Jahre Bestand haben, diese Kathedrale, und es wird keine Nachbildung geben, denn ihre Erbauer sind tot und mit ihnen die Formel.
    (…) Wir brauchen kein Genie – der Genius ist tot. Wir brauchen starke Hände, Geister, die willens sind, den Geist aufzugeben und Fleisch zu werden.


    kann ich ihm nur zustimmen, obwohl er auch bescheiden sagt:

    Zitat

    Ich bin die Leere zwischen euch. Wenn ich weggehe, habt ihr keine Leere mehr, um darin zu schwimmen.


    :breitgrins:


    Liebe Grüße und ganz ohne Ennui
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo PessoA



    danke, dass du aus Millers Leben ein wenig geplaudert hast. Eine Biographie von Miller habe ich noch nicht gelesen. Da gibt es ja das Buch von Erica Jong: Der Teufel in Person


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    In Paris hatte er ja meist sehr wenig Geld. Im Roman kommt zur Sprache, dass er in seiner Armut auch glücklich ist. Er wollte einfach nur Mensch sein, d.h. frei sein.


    Zitat

    Aber ich will nicht nach Amerika zurück, um wieder ins Geschirr und in die Tretmühle zu geraten. Nein, ich ziehe vor, ein armer Mensch in Europa zu sein. Weiß Gott, ich bin arm genug; bleibt nur noch, ein Mensch zu sein.


    Was mich während der Lektüre noch überrascht hat ist, wie modern mir die Sprache vorkommt, obwohl der Roman schon über siebzig Jahre alt ist.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Na, der Henry Miller hat ja auch ein bisschen neue Sprache geprägt, so mag sie uns heute noch modern erscheinen.
    Was mich ja immer fasziniert ist dieses Unscheinbare zwischen seinen Zeilen.
    Ich habe ja mit dem von dir im anderen Ordner vorgestellten Buch "Das Lächeln am Fuße der Leiter" begonnen, ein noch ganz und gar anderer Miller-Stil, wobei mir die Idee gut gefiel. Dann ein paar Jahre später legte ich los mit der Trilogie "S.e.x.us", "Plexus" und "Nexus", wo man viel über sein Leben mit June erfährt, und kam dann zum "Wendekreis des Krebses", der mich nun völlig begeistert hat. "Der Wendekreis des Steinbocks" dagegen war nicht so mein Fall, eben weil mir die Pariser Stimmung fehlte. (Künstler halt! :breitgrins:) Miller sagt ja nicht umsonst:

    Zitat

    New York lässt sogar einen sehr reichen Menschen seine Unwichtigkeit empfinden. New York ist kalt, glitzernd, böse. die Gebäude beherrschen alles.


    Das empfinde ich ähnlich, auch wenn Miller selbst hier genauso abgebrannt und sympathisch ist, wie im anderen Wendekreis. Auch gut gefallen mir die Gestalten, auf die er trifft, irgendwie alle schillernd in ihrer Normalität und auch Abgedrehtheit.
    Letztens las ich dann erneut den "klimatisierten Albtraum", ein Geschimpfe auf Amerika, obwohl er die Reise dorthin begann, um sich mit seinem Heimatland zu versöhnen. Aber oft kann ich ihm nur zustimmen. Das Land, das seine eigene Vulgarität verehrt... :breitgrins:


    Die biografischen Blicke von Erica Jong auf Henry Miller sind großartig, gerade weil hier auch eine großartige Frau schreibt. Sie gilt ja als der "weibliche Miller". Im Buch beschreibt sie auch ihre Begegnung mit ihm. "Angst vorm Fliegen" ist ein tolles Buch, wo sie offen und "breit grinsend" über ähnliche Themen schreibt.


    Wer mehr über Miller erfahren möchte, dem empfehle ich auch unbedingt zwei Bücher, einmal Anais Nin "Henry, June und ich", und Robert Ferguson "Henry Miller - Ein Leben ohne Tabus".


    Ach,... ich könnt' ewig schwärmen!


    Liebe Grüße
    PessoA

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