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Robert Walser: Geschwister Tanner
Inhalt:
Der Roman "Geschwister Tanner" erzählt über eine Zeitspanne von 1-2 Jahren aus dem Leben der Geschwister Tanner, im wesentlichen aus dem Leben der Hauptperson: Simon Tanner, etwa zwanzig Jahre alt, der am Anfang des Buches eine Stellung als Buchhandlungsgehilfe antritt, diese nach wenigen Tagen wieder aufgibt, und fortan alle paar Wochen oder Monate wieder eine neue Stellung hat, die er bald wiederum aufgibt. Er wandert durchs Land, wohnt eine Weile bei seiner Schwester, besucht seinen Bruder, zieht von Ort zu Ort und sinniert über alles Mögliche.
Klappentext:
Mit leichtem Gepäck und offenen, unbestechlichen Augen wandert dieser moderne Taugenichts durch die Welt und "am Ende wird nichts aus ihm als das Vergnügen des Lesers" (Franz Kafka, 1909)
Meine Meinung:
Kafkas Ausspruch aus dem Klappentext ist sehr treffend, das Vergnügen des Lesers ist allerdings Geschmackssache. Mir hat das Buch wenig Vergnügen bereitet. Da es kaum einen roten Faden in der Handlung gibt, sondern die Episoden von Simon Tanners Wanderleben lose aneinandergereiht werden und die Geschichte vor allem von der Beschreibung von Landschaften, Stimmungen und von inneren Monologen des Protagonisten lebt, fand ich das Buch sehr anstrengend zu lesen. Walser kann grandios schreiben und sich sprachlich virtuos ausdrücken, es gibt wunderschöne Formulierungen, atmosphärisch treffende Beschreibungen von Landschaften, inneren Zuständen und von Gesprächen. Wundervoll fand ich zum Beispiel die Beschreibung von Simon Tanners Wanderung zu seinem Bruder. Andererseits gleitet Walser zu oft ins Geschwafel und ins allzu Pathetische ab, er verwendet verschrobene Satzkonstruktionen und seltsame unnötige Wortneuschöpfungen, auch chronologisch ist nicht alles im Buch stimmig.
Die Hauptperson Simon ist ein Mensch, der sich auf nichts einlassen, an keiner Sache dranbleiben kann, der viel nachdenkt, teils mit widersprüchlichen Ergebnissen, und der sehr sensibel, andererseits aber auch sozial rücksichtslos ist, egozentrisch, manchmal fast autistisch. Ich persönlich war beim Lesen ziemlich von ihm genervt, ich habe eine Abneigung gegen Menschen, die sich selber für etwas Besonderes und für sensibel halten, auf andere herabsehen, aber sich nicht zu fein sind, auf deren Kosten zu leben. Simon irrt ziellos durchs Leben. Er ist ein empfindlicher Indikator für Ungerechtigkeit, soweit sie ihn selbst betrifft, für die Unmenschlichkeit der Lebensbedingungen einfacher Angestellter, die er kategorisch für sich selber ablehnt. In seiner Ablehnung, seinem Freiheitsdurst ist er so konsequent und unbestechlich, daß er Nachteile für sich in Kauf nimmt und seine materiellen Ansprüche ans Leben auf ein absolutes Minimum beschränkt. Andererseits findet er keinen Ausweg für sich selber. Er steht am Ende des Buches ebenso ratlos wie am Anfang da - dafür ist er zu bedauern, und dafür ist, meiner Meinung nach, das Buch zu lang.
Die Geschichten seiner Geschwister, die im Buch quasi nebenbei erzählt werden, sind größtenteils auch nicht gerade glücklich. Der älteste Bruder, der sich am besten mit den Bedingungen arrangiert hat und auch Verantwortung für Simon und die anderen Geschwister zu übernehmen bereit ist, wird von Simon als unglücklich bezeichnet, weil Simon hier seine eigenen Maßstäbe an den Bruder anlegt.
Simon bezeichnet sich selber immer wieder als glücklichen Menschen, was man als Leser ihm allerdings nicht ganz abnehmen kann. Er ist unfähig, soziale Bindungen einzugehen, weder zu seinen Geschwistern noch zu Freunden oder einer Frau. Simon ist unfähig, Verantwortung zu übernehmen, und er schafft es nicht, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, immer wieder weicht er aus und grübelt über alles Mögliche, nur nicht über sein eigenes Leben, will die Wahrheiten nicht sehen, die vor seinen eigenen Füßen liegen. Das wirkt sehr beklemmend beim Lesen. Gegen Ende des Buches sagt Simon: "Ich stehe noch immer vor der Türe des Lebens, klopfe und klopfe, allerdings mit wenig Ungestüm, und horche nur gespannt, ob jemand komme, der mir den Riegel zurückschieben möchte." Man möchte ihm am liebsten zurufen, daß er das schon selber tun muß.
Fazit: Ein Buch, das sicher nicht jedermanns Sache ist, aber über das man als Leser eine ganze Weile nachgrübeln kann.
Viele Grüße
Katja