António Lobo Antunes – Das Handbuch der Inquisitoren

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    Dies ist mal wieder einer der seltenen Fälle, wo ich für den Inhalt auf den Klappentext zurückgreifen muß: „Eben noch war der Herr Doktor die rechte Hand des Diktators Salazar, Besitzer eines üppigen Landgutes in Palmela, ein wichtiger und mächtiger Mann, der von sich sagen konnte, er nehme vor niemandem den Hut ab. Ein Mann, dem nicht nur das Land gehörte, sondern auch die Leiber der Dienstmädchen, der er regelmäßig beschlief. Nun liegt er im Altenheim, inkontinent, zahnlos und ohne Hut, den er abnehmen könnte, und ein paar Betten entfernt dämmert sein Komplize, der Major, ehemals Chef der gefürchteten Geheimpolizei Pide, dem Tod entgegen.
    Daß seine Frau ihn einst wegen eines anderen politischen Günstlings der Salazar-Diktatur verlassen hat, und sein Freund, der Major sich nicht bereit fand, den Nebenbuhler kaltzustellen, hat der Herr Doktor nie verwunden. Und er holte sich über siebzigjährig ein Mädchen von der Straße, steckte sie in die abgetragenen Gewänder seiner Exgattin, überhäufte sie mit Schmuck und Alterszärtlichkeiten und gab sich der Lächerlichkeit preis. Aus dem Sohn, dessen Existenz der Herr Doktor erst auf dem Totenbett wahrnimmt, ist nach einer verunglückten Ehe mit einer höheren Tochter ein halt- und mittelloser Nichtstuer geworden.
    Achtzehn Figuren, unter anderem die Haushälterin, die Magd, der Chauffeur, der Tierarzt, der das geschwängerte Dienstmädchen im Kuhstall entbinden soll und nicht zuletzt der hinfällige Herr Doktor selbst, geben in dem Roman Auskunft über die Vergangenheit. Das Erzählte fügt sich langsam zum Panorama eines Untergangs. Die Zeugen dieser Zeitenwende erinnern sich, rechnen ab, hoffen auf Erneuerung oder nur noch auf Erlösung, und halten zugleich mit ihrer Stimme diese Welt lebendig. Meisterhaft verknüpft Antunes die politische Geschichte Portugals, den Kolonialkrieg und die Diktatur Salazars, die Nelkenrevolution und den Sozialismus, mit den privaten Geschicken seiner Figuren.“



    Meine Meinung: So weit, so interessant – dachte ich. Was die Familienverhältnisse angeht, so findet sich das auch tatsächlich alles wieder, aber damit erschöpft es sich für mein Empfinden auch. Die Verknüpfung mit der portugiesischen Geschichte fällt recht schwach aus. Ja sicher, Angola und Kolonialkrieg kommen irgendwie vor, desgleichen die Nelkenrevolution, mit beidem bin ich mehr oder weniger vertraut. Aber der Untergang und Verfall des mächtigen Herrn Doktors und seiner Familie resultiert eben einfach aus der Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und schlicht und einfach dem Alter. Mithin könnte das so oder doch sehr ähnlich überall dort stattfinden, wo Geld und Macht derart eng miteinander verflochten sind und keiner (demokratischen) Kontrolle unterliegen (also fast überall auf der Welt, und auch hierzulande wäre ich nicht sicher, daß es im Grundsatz völlig abwegig ist ...) und vermutlich passiert auch genau das nahezu täglich.


    Trotzdem hätte auch das, selbst ohne Sympathie für irgendeine der auftauchenden Personen, noch interessant sein können, wenn es nicht durch einen weiteren Faktor schlicht zur Quälerei geworden wäre: den extrem zerfahrenen Stil. Antunes hat die einzelnen Berichte und Kommentare der Beteiligten so aufgeschrieben, wie man wahrscheinlich denkt und wie Leute, die in ihren mehr oder weniger verdrängten Erinnerungen kramen, es auch einem Gegenüber erzählen würden: mit Wiederholungen, Abschweifungen, unangekündigten Zeitsprüngen usw. usf. Auf Grund der Struktur des Romans mit seinen ständig wechselnden Perspektiven durch je einen anderen Berichterstatter (wobei manche auch mehrfach zu Wort kommen) kann ich zwar verstehen, warum diese Form gewählt wurde, aber begeistert hat sie mich trotzdem nicht, im Gegenteil. Die wechselnden Erzähler sind zum Glück in der Regel noch recht schnell im jeweiligen Abschnitt erkennbar, aber die im Satz sich ändernde erzählte Zeit wäre leichter zu verfolgen gewesen, wenn es Punkte nicht nur am „Kapitel“ende gegeben hätte, wie überhaupt Satzzeichen eher Mangelware sind – etwas, das ich nur in absoluten Ausnahmefällen gut vertrage, hier jedenfalls nicht.


    1ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen




    P. S.: Ich habe direkt kontrolliert, ob das in Die Rückkehr der Karavellen, das schon länger bei mir subt, auch der Fall ist, dann hätte ich es nämlich gleich von SuB geworfen, aber zumindest stehen dort vollständige Sätze, Antunes wird also noch eine zweite Chance bekommen.

  • Ich hab dieses Buch vor Jahren auf meinen SaB verfrachtet. Ich dachte mir, vielleicht muss ich noch reifer werden um bei diesem stilistischen Wahnsinn mitzukommen. Aber wenn ich mir deine Rezi so anschaue, lasse ich einen zweiten Versuch wahrscheinlich doch bleiben.
    LG, kat

  • So, ich sehe, dass ich hier schon etwas geschrieben habe, das ich unmöglich so stehen lassen kann.


    Als ich „Das Handbuch der Inquisitoren“ vor ein paar Monaten noch einmal, im Begriff es auszusortieren, in die Hände nahm, konnte ich nicht anders, als ihm doch eine zweite Chance zu geben. Und was soll ich sagen? Ich war sprachlos und fix und fertig. Nicht (nur) weil es so anstrengend zu lesen war, sondern weil ich um ein Haar nicht nur das Buch, sondern auch den Autor gleich mit und vielleicht für immer abgeschrieben hätte. :schwitz:
    Streckenweise musste ich mit dem Stil schon sehr kämpfen, doch bald gewöhnte ich mich an das Fehlen von Satzzeichen und die Satzfetzen ohne Anfang und Ende und irgendwann erschien mir dieser Stil als die einzige Möglichkeit, diese Geschichte, die ja nur aus inneren Gedankenfragmenten zusammengebaut ist, zu erzählen. Umso schwerer fällt es aber, den Inhalt des Buches kurz zusammenfassend und womöglich auch noch linear wiederzugeben, umso mehr, weil die Lektüre bei mir schon ein bisschen zurück liegt. Geblieben ist der Eindruck vieler ungemein beklemmender Geschichten und Schicksale. Ein großartiges Gefühlschaos!


    5ratten

  • Donnerwetter, kat, die Einsicht kommt rasch.


    @ Aldawen:


    Das Handbuch der Inquisitoren war meine Einstiegsdroge, seitdem verfolge ich das Werk von António Lobo Antunes kreuz und quer. Sicher, vor allem formal ist das oft eine herbe Zumutung. Gerade das "Handbuch" gehört aber noch zu den leichter lesbaren Büchern. Inhaltlich geht es auch um etwas mehr als das, was Dir aufgefallen war. Es geht hauptsächlich darum, dass die bejubelte Revolution gerade nicht zu dem geführt hat, was man sich davon versprach, nämlich eine Demokratisierung der Gesellschaft. Das Handbuch beschreibt - auf seine Weise - sehr genau, wie die Erfolge der Revolution von einer neuen Herrschaftsschicht gekapert wurden: an die Stelle des alten und restlos abgewirtschafteten Militär- und Landadels ist nahtlos der Geldadel getreten, mögen die gutgläubigen Kämpfer für das neue Portugal auch revolutionäre Phrasen dreschen, wie der Tag lang ist.


    Das Handbuch der Inquisitoren gehört für mich zu den stärksten Romanen des Autors.


  • Es geht hauptsächlich darum, dass die bejubelte Revolution gerade nicht zu dem geführt hat, was man sich davon versprach, nämlich eine Demokratisierung der Gesellschaft. Das Handbuch beschreibt - auf seine Weise - sehr genau, wie die Erfolge der Revolution von einer neuen Herrschaftsschicht gekapert wurden: an die Stelle des alten und restlos abgewirtschafteten Militär- und Landadels ist nahtlos der Geldadel getreten, mögen die gutgläubigen Kämpfer für das neue Portugal auch revolutionäre Phrasen dreschen, wie der Tag lang ist.


    Da es jetzt mittlerweile gut anderthalb Jahre ist, daß ich diesen Roman gelesen habe, und meine Verdrängungsprozesse gut funktionieren, kann ich mich jetzt nicht mehr an Details erinnern. Aber wenn mir damals der Bezug zu den spezifisch portugiesischen Verhältnissen zu kurz kam, dann wird das einen Grund haben. Gerade aus dem Thema Dekolonisation heraus kenne ich durchaus ein paar der Zusammenhänge. Und bei allem Respekt: Das Thema „verratene Revolutionsideale“ ist nicht wirklich neu und ich habe es schon besser lesbar präsentiert bekommen. Lobo Antunes wird irgendwann noch eine zweite Chance von mir bekommen, aber sicher nicht besonders kurzfristig.

  • @ Aldawen:


    der letzte Beitrag irritiert mich doch ein wenig. Das Thema Entkolonisation spielt in diesem Roman eigentlich gar keine Rolle, es gehört in einen anderen Werkzyklus. Und den Einwand, so ein ähnliches Thema sei anderswo schon einmal behandelt worden, leuchtet mir auch nicht recht ein. Mit dieser Begründung könnte man ganze Genres aufgeben.


    Die Erzähltechnik muss man nicht mögen, das sehe ich ein. Gerade die hat aber schon den Reiz der Neuheit und Originalität. Was mich an dem Handbuch fasziniert hat, war nicht zuletzt, wie sich die Stimmen der Erzähler übereinanderlegen: wie die transparenten Layer von Bauplänen.

  • Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, daß mir das ganze Thema der Nelkenrevolution nicht völlig fremd ist, auch wenn ich mich dem ursächlich von einer anderen Seite, nämlich der Auflösung des verbliebenen portugiesischen Kolonialreiches genähert habe, und es spielt hier mit Angola, wenn auch sehr am Rande, durchaus eine Rolle.



    Und den Einwand, so ein ähnliches Thema sei anderswo schon einmal behandelt worden, leuchtet mir auch nicht recht ein. Mit dieser Begründung könnte man ganze Genres aufgeben.


    Ich habe es nicht abgelehnt, weil es anderswo schon behandelt wurde, ich habe gesagt, ich habe es schon besser lesbar präsentiert bekommen. Das ist ein Unterschied. Es gibt etliche Themen, die mir schon in mehr als einem als einem Roman untergekommen sind, und gerade die verschiedenen Herangehensweisen und Schwerpunktsetzungen machen den Reiz aus. Aber Lobo Antunes hat hier schlicht und einfach an mir vorbeigeschrieben. Das ist weder seine noch meine Schuld, sondern einfach eine Feststellung.


  • Donnerwetter, kat, die Einsicht kommt rasch.


    So rasch auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass mein erster (gescheiterter) Versuch jetzt schon fast 10 Jahre zurückliegt. :zwinker:



    Das Handbuch der Inquisitoren gehört für mich zu den stärksten Romanen des Autors.


    Ja und welche noch? Was soll ich als nächstes lesen? Die Romane sollen ja auch vom Stil recht unterschiedlich sein, oder? Vielleicht sollte ich als nächstes etwas ganz anderes probieren....sag mir alles! :breitgrins:



    @Aldawen: Ich kann übrigens total verstehen, wenn man mit diesem Buch überhaupt nicht zurecht kommt. Ich glaube, bei so etwas springt der Funke entweder über, oder eben nicht. Ich habe zu diesem Thema auch noch nicht so viel (oder gar nichts?) gelesen. Was mich halt besonders beeindruckt hat, waren die verschiedenen Perspektiven, aus denen die Geschichte erzählt wird. Da kommen sowohl Leute von ganz oben (Freunde des Ministers) als auch (und vor allem) Leute von ganz unten (Haushälterin) zu Wort. Und das alles wurde durch den Erzähler oder "Chronisten" sprachlich nicht geglättet, sondern mit allen Wiederholungen und Satzfetzen der gesprochenen oder gedachten Sprache stehen gelassen, wodurch sehr ehrliche, emotionale, subjektive Bilder geschaffen werden. Das fand ich sehr spannend. Und durch diese Vielstimmigkeit wird, denke ich, schon ein sehr schönes Bild dieser historischen Gesellschaft gezeichnet. Dass die Geschichte in anderen Gesellschaften ähnlich funktionieren könnte, glaube ich auch, aber das schmälert für mich nicht den Wert des Romans, im Gegenteil.

  • @ kat:


    ALLES werde ich sicher nicht sagen können, von gut zwei Dutzend Büchern kenne ich etwa die Hälfte. Als Einstieg wird meistens das Elefantengedächtnis empfohlen, da habe ich aber meine Vorbehalte - Antunes hat da seinen Stil noch nicht richtig gefunden. Die Rückkehr der Karavellen ist sicher geeignet. Die natürliche Ordnung der Dinge macht gerade einen sehr guten Eindruck auf mich. Zum Thema des Niedergangs der Kolonialepoche in Angola ist Portugals strahlende Größe lesenswert. Guten Abend Ihr Dinge hier unten habe ich hier schon mal beschrieben, das ist ein schwer verdaulicher Brocken, der selbst mir grenzwertig war.


    Ja, und dann gibt es, erstaunlich genug, auch den heiteren Antunes - in den inzwischen drei Büchern der Chroniken.