Nathacha Appanah – Der letzte Bruder

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    Inhalt: Raj, am Ende seines Lebens stehend, will noch eine Geschichte erzählen, seine Geschichte. Und die Geschichte von David, mit dem er im Sommer 1945 einige glückliche Tage verbrachte, und der nun schon seit 60 Jahren auf dem jüdischen Friedhof ruht.


    Im Norden von Mauritius lebte Raj als Kind mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern inmitten der Zuckerrohrfelder, ein ärmliches, mühseliges Leben, aber die Kinder halten zusammen und haben trotzdem Spaß und ihre Freiräume. Der gewalttätige Vater prügelt regelmäßig die Mutter und den ältesten Sohn, der sich für seine beiden Brüder opfert. Bei einem heftigen Unwetter werden die drei Jungen, die zum Wasserholen unterwegs waren, voneinander getrennt, der jüngste Bruder wird später tot aufgefunden, von dem ältesten fehlt jede Spur. Raj hat das Gefühl, als machte sein Vater ihm Vorwürfe, daß ausgerechnet er als der schwächlichste überlebt hat. Die Familie zieht um, weil der Vater andernorts einen Job als Gefängniswärter bekommt. Raj sucht sich einen Beobachtungsposten am Gefängnis, und dort sieht er das erste Mal David, einen Jungen in seinem Alter. Die beiden lernen sich besser kennen, als Raj nach einer Prügelattacke seines Vaters im Gefängniskrankenhaus liegt. Aus dem Krankenhaus entlassen, kehrt Raj jeden Tag zum Gefängnis zurück, um David wiederzusehen, lange ohne Erfolg. Nach einem Zyklon, der eine Schneise der Verwüstung über die Insel gezogen hat, flüchtet David aus dem Gefängnis und verbringt einige Tage in der Gesellschaft von Raj. Aber David wird schon gesucht ...



    Meine Meinung: Appanah hat hier eine sehr anrührende Geschichte geschrieben, die mich am Ende auch durchaus hat schlucken lassen. Die Deportation von rund 1500 Juden nach Mauritius durch die Briten während des Zweiten Weltkrieges war mir bislang nicht bekannt, hat aber in dieser Form tatsächlich stattgefunden: Jüdisches Exil auf Mauritius. Tatsächlich bezog die Geschichte ihre Tragik zwar auch, aber nicht nur und meines Erachtens auch vergleichsweise wenig aus diesen konkreten Umständen, denn über David und die Ereignisse, die ihn nach Mauritius gebracht haben, erfährt man als Leser erst spät und recht wenig aus der Erzählung. Raj ist schließlich zum Zeitpunkt der Geschichte selbst noch ein Kind von neun oder zehn Jahren, das über den Krieg und alles, was damit zusammenhängt, nichts weiß.


    Viel wichtiger ist das innerfamiliäre Konfliktpotential in Rajs Familie: der gewalttätige Vater, der besonders unter Alkoholeinfluß unzurechnungsfähig ist, die zurückhaltende Mutter, die sich unter ihrem Mann duckt und versucht, die Folgen seiner Ausraster so gut wie möglich zu kurieren, und Raj, der nach dem Tod der Brüder das Gefühl hat, sein Vater mache ihm Vorwürfe, daß ausgerechnet er als der schwächlichste der drei überlebt hat. Die Einsamkeit, in die Raj dadurch getrieben wird, macht ihn vor allem anderen empfänglich für die Freundschaft mit David: ein Ersatz für die verlorenen Brüder, der als eigenständige Person für den Jungen gar nicht so wichtig ist.


    Erzählt wird das Ganze in einer schlichten (nicht simplen) Form, den Erinnerungen des Kindes angemessen, aber immer wieder unterbrochen von der Gegenwartssicht Rajs. Er legt sich dann auch Rechenschaft über die Fehler ab, die er als Kind in diesem Zusammenhang gemacht hat, vielleicht auch einfach machen mußte, und zeigt die Vorwürfe und Gewissensbisse, die ihn plagen, seit er die Zusammenhänge zunehmend durchschaut hat. Gerade weil aber klar ist, auf welches Ende die Ereignisse unweigerlich und ohne Beeinflussungsmöglichkeit durch die Jungen hinlaufen, durchzieht das ganze Buch von Beginn an eine spürbare Melancholie, die sich zum Ende fast zur Tragik steigert.


    4ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo,


    Aldawens Einschätzung kann ich kaum etwas hinzufügen, denn vieles von dem, was auch mir auffiel, hat sie bereits angesprochen. Auch für mich stehen die familiären Probleme und persönlichen Schicksale im Vordergrund, das jüdische Exil erhält mehr den Stellenwert einer interessanten Hintergrundinformation. Zentral sind dabei die Einsamkeit und das Gefühl des Versagens beim jungen Raj und das Erinnern und rückblickende Schuldbekenntnis des gealterten Raj. Die Mischung aus kindlichem Handeln und erwachsenem Reflektieren gewährt dem Leser dabei tiefe und vor allem glaubwürdige Einblicke in das Denken und Fühlen des Protagonisten. Auch wenn Raj versucht, David in den Mittelpunkt seiner Erzählung zu rücken, um ihm Respekt zu erweisen, bleibt dieser eine Folie für die Freundschaft, für sofortiges Verstehen und blindes Vertrauen, das die beiden Jungen verband. Trotz allem kannte Raj seinen Freund nicht gut genug, konnte dies gar nicht, um ihn während seiner Erzählung plastisch darzustellen. Er bleibt ein blasserer Gegenpart zu Raj und konkuriert sogar gewisserweise mit dessen Brüdern.


    Auch sprachlich gefiel mir das Erzählte außerordentlich gut. Wie von Aldawen erwähnt wählte Appanah eine angemessen schlichte Form, dennoch schafft sie es, Personen und Orte sehr lebendig zu beschreiben. Besonders wenn es um die Natur der Insel geht, die mal paradiesisch, mal zerstörerisch ist, spricht sie mit ihren Beschreibungen alle Sinne an.


    Da mich lange kein anderes Buch mehr nicht nur gefesselt sondern auch so berührt hat, bleibt als Konsequenz nur eine Bewertung von 5ratten.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges