Antonio Gómez Rufo – Die Klagen von Henan

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    Inhalt: Eines Tages erschüttert ein Heulen, ein Brüllen und Kreischen den kleinen Ort Yanshi. Die Einwohner schwanken zwischen Neugier und Entsetzen, bis sich herausstellt, daß Lin Lizhou die Quelle ist. Sie ist offensichtlich verrückt geworden. Aber wie konnte es dazu kommen? Noch ein Jahr zuvor lebte sie still an der Seite ihres Mannes Wong Feng, eines Bauern, und ihrer beiden Töchter. Die Familie ist nicht reich, aber es plagen auch keine finanziellen Sorgen. Wong Feng fehlt zu seinem Glück nur ein Sohn, den ihm die Geburtenkontrollpolitik Chinas jedoch verbietet. Als er erfährt, daß die Strafe für die Mißachtung dieser Regelung 3000 Yuan beträgt, beginnt er zu rechnen: Die Ersparnisse sollten das eigentlich decken. Lin Lizhou wird tatsächlich wieder schwanger, nun muß der Arzt aber teuer bezahlt werden, um das Geschlecht des Kindes zu bestimmen, und zu Wong Fengs Freude wird es der ersehnte Sohn. Die vielen notwendigen Ausgaben haben viel Geld verschlungen, und nun reicht der Rest nicht mehr für die Strafe. Zu allem Unglück verpaßt er auch noch die Zahlungsfrist, weil sein bester Freund durch eine Intrige des Bürgermeister ins Gefängnis kam. Über all dem bahnt sich die langsam aber unerbittlich die Katastrophe an, die Lin Lizhou in den Wahnsinn treiben wird ...



    Meine Meinung: Es hat schon etwas Bestechendes, wie der Bauer Wong Feng daran scheitert, seinen Lebenstraum erfüllt zu sehen. Der Abstieg beginnt in dem Moment, in dem er glaubt, andere – vor allem den Bürgermeister und den Arzt – für sein Vorhaben einspannen und benutzen zu können. Die Tatsache, daß sein Freund als regimekritisch gilt, hilft ihm dabei natürlich auch nicht gerade. Und so ahnt man früh, daß das vermeintliche Glück – der endlich geborene Sohn – sich als Unglück entpuppen wird.


    Kaum einmal hatte ich den Eindruck, daß die Personen wirklich anders hätten handeln können, um damit ihr Schicksal in eine andere Richtung zu lenken, die Entwicklung wirkt daher ziemlich zwangsläufig. Allerdings muß man dafür das Verhalten der Charaktere auf Basis ihrer wenigen vermittelten Überlegungen akzeptieren, der schmale Umfang des Romans erlaubt leider keine tiefergehenden psychologischen Studien oder Einblicke in die Gedankenwelt, die den Entscheidungen zugrundeliegt. Vor allem Lin Lizhou hat eine sehr passive Rolle, was realistisch sein mag, mir jedoch trotzdem sehr fremd ist. Hier stoße ich – trotz eines spanischen Autors – an meine üblichen Grenzen des Verständnisses ostasiatischer Mentalität.


    Interessant daran ist daher vor allem, daß der Roman laut Nachbemerkung des Autors teilweise auf realen Ereignissen des Jahres 1994 in einer Ortschaft der Provinz Henan basiert. So verständlich das Bemühen der chinesischen Regierung um Kontrolle des Bevölkerungswachstums auch sein mag, hier wird der Blick einmal auf die zerstörerischen Auswirkungen dieser Politik gelenkt und diese damit auch in Frage gestellt.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Anfangs war ich vor allem neugierig, wie ein spanischer Autor es wohl schaffen wird dieses speziell chinesische Thema zu behandeln. Ganz abgesehen davon, dass er die Problematik der Geburtenkontrolle und des kommunistischen Systems glaubhaft darstellt, lässt er auch die chinesische Provinz Henan vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Doch nicht nur die landschaftlichen Eindrücke hat er überzeugend eingefangen, auch und vor allem die Mentalität der dort lebenden Menschen. Das beginnt beim Stellenwert der Frau, die auch 1994 noch zwei Schritte hinter ihrem Mann zu laufen hat, betrifft Traditionen wie zum Beispiel das Ehren der Vorfahren und endet bei Geschichten, die Feng seinen Töchtern erzählt. Einziger Kritikpunkt am Erzählstil ist für mich, dass Rufo manchmal ins Episodenhafte rutscht.


    Was die eigentliche Tragödie betrifft, so beginnt sie schleichend, mit kleinen Schritten, fast unbemerkt bis zu dem Punkt, an dem klar wird, dass die Familie unweigerlich auf eine Katastrophe zusteuert. Von da an entwickelt sie sich wie unter Zwang. Und dennoch präsentiert Rufo dem Leser ein unerwartetes Ende, das passender nicht sein kann, auch wenn die Tragödie von Anfang an eingeführt wird.
    In dem Zusammenhang sticht vor allem eine Geschichte heraus, die Feng seinen Töchtern erzählt, deren Erkenntnis darin besteht, dass alles sich zum Besseren wenden kann, da sogar der Mond sich ändert- angesichts der Unausweichlichkeit der Ereignisse eine bittere Erkennnis.


    Dass angesichts der Kürze des Buches die Charakterentwicklung leidet, hat mich nicht gestört. Zu viel hängt von äußeren Einflüßen ab. Außerdem wird man selbst von einem Ereignis zum nächsten getragen, die nur unterbrochen werden von ruhigen Überlegungen Fengs während der Morgenstunde oder Gesprächen zwischen ihm und seinem Freund Xao über einer Partie Schach. Leider bleibt man dadurch wiederum auf Distanz zu den Protagonisten, und obwohl Lin mir trotz ihrer Passivität die ganze Erzählung über am sympathischsten war, hat mich ihr Schicksal nicht berührt. Der Leser bleibt Beobachter, Verständnis oder gar Mitgefühl bleiben ihm vorenthalten.


    Alles in allem ergibt das für mich (gerade noch) 4ratten.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges