Per Petterson - Im Kielwasser

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    Arvid ist Schriftsteller, 43 Jahre alt und steckt mitten in einer Krise. Seine Eltern und seine beiden jüngeren Brüder sind vor knapp sechs Jahren bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, ein Ereignis, das er noch nicht verarbeitet hat. Er ist inzwischen geschieden und hat kein Besuchsrecht für seine beiden Töchter. Seine Bücher verkaufen sich nicht und geschrieben hat er schon lange nichts mehr.


    Zu Beginn des Romans steht Arvid benommen am Schaufenster einer Buchhandlung, seines alten Arbeitgebers. Er hat Schmerzen, seine Brille verloren und ist orientierungslos. Als Leser treten wir einfach an diesem Punkt in sein Leben und begleiten ihn für einige Wochen, doch die Handlung folgt keinem roten Faden. Vielmehr folgen wir Arvid und haben Teil an seinen Gedanken und Erinnerungen, die gestützt und angestoßen werden von alltäglichen Begebenheiten und Begegnungen. Und genau diese Erinnerungen machen auch einen Großteil des Buches aus, manchmal wird Arvid förmlich von ihnen überfallen. Er fühlt sich dann zurückversetzt in seine Kindheit und Jugend und steht wieder seinem Vater gegenüber. Seine Gefühle ihm gegenüber sind sehr ambivalent: geprägt von Wut oder sogar von an Hass grenzender Abneigung, von Erleichterung über den ausbleibenden Druck durch den übermächtigen, toten Vater, andererseits verspürt er Sehnsucht und eine tiefe Verbundenheit sowie Schuldgefühle aufgrund seiner negativen Gedanken.
    Die Zeitebenen werden ständig miteinander vermischt, die Rückblicke sind aber nie umfassend, so dass höchstens eine Annäherung an das Fährunglück stattfindet, bei dem Arvids Familie ums Leben kam, genauso wie an den Vater. Erst nach und nach kann der Leser die Bruchstücke zusammenfügen und erhält so ein Bild von Arvid. Genauso schrittweise wird dem Leser aber auch klar, wie Arvids Leben von einem Moment zum anderen zerbrechen konnte und weshalb es ihn soviel Kraft kostet aus der Krise herauszugelangen. Gleichzeitig scheint Arvid sein Trauma zu bewältigen und sich selbst wiederzufinden.
    Seine Erinnerungen und Reflexionen sind nicht nur Ausdruck seiner Hoffnungslosigkeit sondern auch ein Weg sich Klarheit zu verschaffen, mit sich ins Reine zu kommen. Nach und nach findet er wieder zu sich selbst und bewältigt seine Probleme. Er traut sich, nicht nur ein rückwärtsgerichtetes Leben zu führen und auf der Stelle zu treten sondern auch nach vorne zu schauen. Er wirkt die ganze Zeit ruhelos und getrieben, aber auch ziellos, und das ändert sich im Verlauf des Buches. Unterstützt wird dieser Prozess außerdem durch Arvids Auseinandersetzung mit seinem Bruder, aber auch durch die Bekanntschaften mit einem kurdischen Nachbarn, der nur drei Worte Norwegisch spricht, und der Nachbarin Frau Grinde.
    Durch die sehr zurückgenommene Handlung und das eingeschränkte Personal geht das alles sehr unspektakulär vonstatten, aber genau dadurch hat man intensiver Anteil an Arvids Gefühlen.
    Unterstrichen wird dies auch durch Pettersons nüchterne Sprache. Kühl und dennoch poetisch schildert er das trostlose, bedrückende Leben Arvids und seine Eindrücke und Erinnerungen. Anfangs brauchte ich immer wieder Lesepausen, da diese Stimmung sich auf mich übertrug, doch auch der Hoffnungsschimmer wird immer deutlicher, weshalb ich das Buch gegen Ende nicht mehr weglegen mochte. Manche Formulierungen erschienen mir leider etwas holprig, was ich einfach mal auf die Übersetzung schiebe.


    Zwischenzeitlich wurde ich an Hunger von Knut Hamsun erinnert, wahrscheinlich durch die Technik des Bewusstseinsstroms, die Petterson genauso anwendet wie der norwegische Nobelpreisträger. Außerdem ist Arvid ständig in Bewegung, egal ob zu Fuß oder im Auto, so wie Hamsuns Protagonist Oslo durchstreift. Bedeutender Unterschied ist lediglich, dass der Leser bei Hamsun einem Abstieg folgt (und mir Pettersons Buch deutlich besser gefiel).


    4ratten


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

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