Welches Versmass hat dieses Gedicht

Es gibt 27 Antworten in diesem Thema, welches 18.420 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von HoldenCaulfield.

  • Hallo zusammen


    Ich brauche dringend eure Hilfe. Ich habe morgen meine mündliche Deutschabschlussprüfung und dafür muss ich auch Gedichte interpretieren und analysieren können. Bei diesem Gedicht (Heimweh von Eichendorff) bin ich jedoch nicht mehr weitergekommen. Welches Vermass hat dieses Gedicht? Kann mir dies jemand beantworten? Vielen Dank!


    An meinen Bruder
    Du weißt's, dort in den Bäumen
    Schlummert ein Zauberbann,
    Und nachts oft, wie in Träumen,
    Fängt der Garten zu singen an.


    Nachts durch die stille Runde
    Weht's manchmal bis zu mir,
    Da ruf ich aus Herzensgrunde,
    O Bruderherz, nach dir.


    So fremde sind die andern,
    Mir graut im fremden Land,
    Wir wollen zusammen wandern,
    Reich treulich mir die Hand!


    Wir wollen zusammen ziehen,
    Bis daß wir wandermüd
    Auf des Vaters Grabe knieen
    Bei dem alten Zauberlied.


  • Ein Jambus, oder?


    Ja, hauptsächlich dreihebiger Jambus. Manchmal ist das Versmass aber unregelmäßig, wie z. B. in Vers 3.

    "This was another of our fears: that Life wouldn't turn out to be like Literature" (Julian Barnes - The Sense of an Ending)

  • Zeilen 1,3,5,8,12,14 sind alles keine Jamben, aber ich kann nicht einordnen was diese Zeilen für ein Versmass haben. Hinzu kommt noch, dass die letzten beiden Zeilen aus vierhebigen-Trochäen bestehen. Ist das möglich?

  • Also, ich hab gelernt das mit dem Versmaß nicht ganz so ernst zu nehmen. Ich glaube, es gibt recht wenige Gedichte, die das komplett und strikt durchziehen.


    Die erste Zeile ist ja die Überschrift. Da braucht es kein Versmaß.


    Und bei den anderen Problemzeilen stimmt das Versmaß zwar am Anfang nicht, aber gegen Ende des Verses kommt er doch immer wieder auf seinen Jambus zurück ("...ein Zauberbann" oder "aus Herzensgrunde").
    Und wenn man die Problemzeilen mit dem "zusammen" etwas schneller ausspricht (als "zusammen" als zweisilbig), dann geht das meiner Meinung nach schon gerade so noch als Jambus durch.


    In den letzten beiden Versen wechselt das Versmaß tatsächlich zum Trochäus. Das war mir gar nicht aufgefallen. :smile:

    "This was another of our fears: that Life wouldn't turn out to be like Literature" (Julian Barnes - The Sense of an Ending)


  • Also, ich hab gelernt das mit dem Versmaß nicht ganz so ernst zu nehmen. Ich glaube, es gibt recht wenige Gedichte, die das komplett und strikt durchziehen.


    Das ist auch meine Einschätzung. Es ist einfach für einen Dichter extrem schwer seinen Inhalt so niederzuschreiben, dass dieser das Versmaß durchgehend perfekt erfüllt. Deswegen haben die meisten Gedichte in verschiedenen Zeilen Unregelmäßigkeiten, also es kann auch passieren, dass das Versmaß sogar innerhalb eines Verses kurzfristig "umschlägt", da der Dichter hier einfach mehr Wert auf seine Idee gelegt hat, als auf das Einhalten des Metrums.


    Wenn bei einem solchen Gedicht nach dem Versmaß gefragt ist, würde ich das überwiegende Metrum nennen (hier ein Jambus).

    Zitat von André Glucksmann: <br />Philosophieren bedeutet zuallererst, gegen die eigene Dummheit zu kämpfen.

  • Ich hoffe, meine Frage ist nicht zu blöd, aber ich habe mich bisher weder mit Gedichten noch mit Versmaßen beschäftigt, aber:



    Das ist auch meine Einschätzung. Es ist einfach für einen Dichter extrem schwer seinen Inhalt so niederzuschreiben, dass dieser das Versmaß durchgehend perfekt erfüllt.


    Haben die Dichter wirklich danach geschrieben oder kam das nachher? Ich meine, hat sich Eichendorff hingesetzt und geschrieben und gedacht okay, wie bringe ich da vierhebige Trochäen?

    Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, und wer sie aufzuheben versteht, hat ein Vermögen.<br />Jean Anouilh

  • Arjuna
    Das ist so eine Sache... es ist schon so (auch in der Forschung übrigens) das die Dichter auch nach einer bestimmten Mode geschrieben haben. So auch Sonette z.B. Das merkt man sicher auch gerade bei Expressionistischen Gedichten. Von der Form und den Themen her. Da haben sich die Dichter auch gegenseitig übertroffen. Andererseits gibt es eine Aussage von Hilde Domin (als sie noch gelebt hat) bei der sie auf so eine Frage meitne das es ihr irgendwann in Fleisch und Blut überging. Ich denke es ist sicher auch eine Mischung aus Beidem. Die Sprache ist bei Dichtung einerseits Medium aber auch Spielzeug^^

  • Ich bin eigentlich, glaube ich zumindest soviele Gedanken habe ich mir bisher ja nicht zum Thema gemacht, davon ausgegangen, dass ein Gedicht entsteht und nicht konstruiert wird.

    Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, und wer sie aufzuheben versteht, hat ein Vermögen.<br />Jean Anouilh

  • Nein ein Gedicht entsteht nicht, ein Gedicht ist ein langwieriger Prozess der teilweise Jahre in Anspruch nehmen kann. Nimmt man beispielsweise das Gedicht Heimweh von Eichendorff, welches ich oben gepostet habe, findet man darin sehr viele formelle Eigenschaften, die den Inhalt unterstützen.


    So kommen beispielsweise die Wörter Bruder, Herz, Zauber, Wandern, Zusammen, Fremd immer genau zwei Mal vor. Durch diese Repetition wird ihre Inhaltliche Bedeutung hervorgehoben. Die Tatsache dass die Endungen der Verse immer wechseln zwischen Weiblich und Männlich (also unbetont und betont), führt zu einer gewissen schwermütigen Stimmung, einer Melancholie. Also wieder eine Überinstimmung zwischen Form und Inhalt. Auf den letzten beiden Zeilen ändern das Versmass vom Jambus zum Trochäus also von einem steigenden zu einem fallenden Charakter. Dies entspricht auch dem Inhalt, denn der Protagonist war vorher immer in Bewegung und auf der Suche und in den letzten beiden Versen kommt er zur Ruhe, erlebt eine Ernüchterung am Grabe seines Vaters. Diese Veränderung wird durch die Veränderung des Versmasses unterstützt.
    So könnte man noch lange weiter interpretieren. Du sieht also, es ist nicht möglich, dass so etwas einfach entsteht.


  • Du sieht also, es ist nicht möglich, dass so etwas einfach entsteht.


    Das heißt, Eichendorff hat es genau unter diesen Gesichtspunkten entworfen.

    Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, und wer sie aufzuheben versteht, hat ein Vermögen.<br />Jean Anouilh

  • Ihr nehmt mir sämtliche Illusionen über Gedichte. :sauer:

    Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, und wer sie aufzuheben versteht, hat ein Vermögen.<br />Jean Anouilh

  • William Wordsworth hat gesagt, dass Dichtung "a spontaneous overflow of powerful emotion, recollected in tranquility" sein.
    Es gibt (laut Wordsworth) also schon so einen romantischen Moment, in dem der Dichter inspiriert wird und die Idee für sein Gedicht bekommt, allerdings muss diese Emotion dann später in Ruhe (und mit Arbeit und Geduld) in eine schöne Form gebracht werden.

    &quot;This was another of our fears: that Life wouldn&#039;t turn out to be like Literature&quot; (Julian Barnes - The Sense of an Ending)


  • Ihr nehmt mir sämtliche Illusionen über Gedichte. :sauer:


    Darf ich fragen welche Illusionen das sind?
    Nur weil ein Dichter kein Gedicht mit Versmaß und zig Methaphern und Symbolen "aus dem Ärmel schütteln kann", geht doch nicht die wahre lyrische Leistung flöten. Wie Mrs. Dalloway geschrieben hat, gibt es natürlich den Moment, in dem der Dichter die zündende Idee oder die Inspiration findet, ein tolles Gedicht zu schreiben, aber das muss dann eben ausgearbeitet werden.
    Das ist wie in der Musik: ich bin vielleicht Gitarrist und mir ist ein super Riff eingefallen, der jedem im Ohr bleibt - das ist dann aber immer noch kein fertiger Song. Die Idee muss dann erst in mehr oder weniger langwiedriger Arbeit strukturell aufgebaut und perfektioniert werden.


    Vor allem wenn man Gedichte interpretiert, merkt man, wieviel in so einem "kleinen" Text drinstecken kann und von der Aussage "In der Schule interpretiert man eh mehr in den Text, als der Autor je vor hatte", halte ich sowieso nichts.

    Zitat von André Glucksmann: <br />Philosophieren bedeutet zuallererst, gegen die eigene Dummheit zu kämpfen.


  • Darf ich fragen welche Illusionen das sind?


    Lassen wir das. Dazu habe ich mich zuwenig mit dem Thema befasst. :winken:

    Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, und wer sie aufzuheben versteht, hat ein Vermögen.<br />Jean Anouilh


  • Vor allem wenn man Gedichte interpretiert, merkt man, wieviel in so einem "kleinen" Text drinstecken kann und von der Aussage "In der Schule interpretiert man eh mehr in den Text, als der Autor je vor hatte", halte ich sowieso nichts.


    Naja, das würde ich so jetzt aber nicht unterschreiben. Es gibt zum Beispiel ja sehr viele unglaublich abgefahrene psychoanalytische Interpretationen und da kann ich mir nicht vorstellen, dass der Autor so etwas bewusst in sein Werk packt... das geht ja eigentlich auch gar nicht, weil sich die verschiedenen Interpretationsansätze ständig gegenseitig wiederlegen. Ich kann ein Gedicht beispielsweise strukturalistisch untersuchen und dann kommt jemand, der sich mit Dekonstruktion auskennt und das war's dann mit meinen Thesen... :rollen:

    &quot;This was another of our fears: that Life wouldn&#039;t turn out to be like Literature&quot; (Julian Barnes - The Sense of an Ending)


  • In den letzten beiden Versen wechselt das Versmaß tatsächlich zum Trochäus. Das war mir gar nicht aufgefallen. :smile:


    :gruebel:
    Hm, also ich bin ja absolut keine Lyrikexpertin, aber könnte man die letzten beiden Verse nicht auch als "Auftakt + dreihebiger Jambus" lesen? Also folgendermassen (die fettgedruckten Silben sind jeweils betont):


    Auf des Vaters Grabe knieen
    Bei dem alten Zauberlied.


    Sie als Trochäen zu lesen klingt für mich irgendwie unnatürlich und nicht zu den beiden vorhergehenden Versen passend... Ist aber nur so mein Bauchgefühl, ich habs jetzt einfach in meinem normalen Lesefluss automatisch als Jamben mit Auftakt gelesen.

    Einmal editiert, zuletzt von Dani ()