[Marshallinseln] Robert Barclay – Meļaļ

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 1.356 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Aldawen.

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    Inhalt: Karfreitag 1981. Rujen Keju bereitet sich auf seinen üblichen Arbeitstag in der Kläranlage von Kwajalein vor. Auf dem Weg zur Fähre, die ihn von Ebeye nach Kwajalein bringt, trifft er auf seine Söhne Jebro und Nuke, die den Tag auf Tar-Wōj, der Heimatinsel der Familie verbringen wollen. Das ist nicht erlaubt, die Amerikaner haben den Marshallesen den Zutritt auf die Insel verboten, allerdings ist Jebros Großvater dort beerdigt und er möchte seinem jüngeren Bruder etwas von dem vermitteln, was er selbst vom Großvater gelernt hat. Rujens Tag entwickelt sich nach der Auseinandersetzung mit seinen Söhnen nicht zum Besten: erst werden ihm auf der Fähre seine Arbeitsstiefel geklaut, dann findet er sein Fahrrad demoliert vor und kommt zu spät zum Dienst. Während des Tages erregen zwei Marshallesen Aufsehen unter den Amerikanern auf Kwajalein, weil sie Delphine gefangen haben. Die tierliebenden Amerikaner rufen daher sofort eine „Rettungsaktion“ ins Leben, um die Delphine vor dem Schlachten zu bewahren. Rujens Unglück an diesem Tag ist aber noch nicht vorbei. Weil ein Vorgesetzter ihn aufhält, kommt er auch noch fast zu spät zum Gottesdienst, obwohl er in der Kirche die Rolle des Platzanweisers hat. Als ihm auch noch in der Kirche ein Mißgeschick passiert und ihn die Amerikaner wie einen Verbrecher anstarren, flüchtet er und besinnt sich für seine Rache ob der erlittenen Schmach auf marshallesische Bräuche.


    Währenddessen haben Jebro und Nuke einige Zeit auf Tar-Wōj verbracht und dort eine Schildkröte gefangen, die Jebro aber auf Nukes Wunsch wieder freiläßt. Später fahren sie zum Fischen hinaus und bewegen sich auch dabei in einem Gebiet, das sie eigentlich nicht aufsuchen dürfen. Dort treffen sie auf drei junge Amerikaner, die die Schule schwänzen um zu angeln. Die drei haben dem Bier schon mehr oder weniger reichlich zugesprochen, und einer der Jungs fühlt sich von den beiden Marshallesen so ausgetrickst, daß er mit einem riskanten Bootsmanöver eine Welle über sie schlagen läßt. Die Amerikaner entfernen sich dem Fischschwarm folgend, wenig später geht das Boot von Jebro und Nuke unter, weil es zuviel Wasser übernommen hat. Jebro versucht alles, um seinen kleinen Bruder zu retten, da er sich nicht vorstellen mag, seinem Vater ohne Nuke unter die Augen zu treten.


    All dies wird beobachtet und auch beeinflußt von Gestalten aus der marshallesischen Mythologie, die in einem reichhaltigen und komplizierten Stammbaum angesiedelt sind. Während der Gott Etao dem Zwerg Ņoniep Streiche spielt, nähert sich die Mythologie und damit die Geschichte vor allem dieser beiden unaufhaltsam der Gegenwart, bis sie die Geschehnisse um Rujen, Jebro und Nuke berührt.



    Meine Meinung: Recht selten bin ich von einem Roman so restlos begeistert, daß ich ihn sofort auf eine gedankliche Liste für eine zweite Lektüre setze. Und noch seltener könnte ich diese sofort anfangen, wenn ich das Buch gerade erst zugeklappt habe. Meļaļ ist einer dieser seltenen Fälle. Barclay packt viel in seinen Roman, der zudem nur an diesem einen einzigen Tag spielt, trotzdem wirkt die Story keinesfalls überladen.


    Zum einen erfährt man viel darüber, wie die Amerikaner die Marshallinseln als Nukleartestgebiet mißbraucht haben, und welche Konsequenzen dies für die Marshallesen hatte: von der zwanghaften Umsiedlung auf wenige Inseln, über die Zerstörung alter Gemeinschaften und den fast vollständigen Verlust der eigenen Kultur bis hin zu körperlichen Mißbildungen und Erkrankungen auf Grund der Strahleneinwirkung. Dieses Thema ist kein Ruhmesblatt für die USA und – sofern überhaupt zur Kenntnis genommen – inzwischen vom größeren Teil der Welt wohl vergessen. Die Marshallesen werden auf einen Teil der Inseln beschränkt, selbst auf Kwajalein dürfen sie sich nur während der Arbeitszeiten aufhalten, werden sie nach Dienstschluß noch dort erwischt, behandelt man sie als Einbrecher. Was Barclay zudem über die Hygienebedingungen auf Ebeye durchscheinen läßt, sowie über die medizinische Versorgung, von der Bereitstellung allgemeiner Konsumgüter ganz zu schweigen (die Marshallesen dürfen nämlich nicht mal alles kaufen, was der Laden auf Kwajalein anbietet, nicht mal beliebige Socken), das hat mich mehr als einmal sprachlos und sogar wütend gemacht. Wenn ein Roman das schafft, dann ist das schon ziemlich gut.


    Aber Barclay beschränkt sich nicht darauf, und deshalb ist es nicht einfach ein guter Roman, sondern ein außergewöhnlicher Roman. In diese Darstellung moderner Zeiten flicht er sorgfältig eine weitere Ebene, die sich aus der Mythologie der Marshallinseln speist. Immer wieder wird die Erzählung um Rujen sowie Jebro und Nuke durch Kapitel unterbrochen, in denen Götter, Zwerge, Dämonen und sonstige Wesen in ihrer Genealogie und ihrem mytholgischen Wirken vorgestellt werden. Dabei wirken sie ausgesprochen real, und vor allem den Gott Etao, ein ausgesprochenes Schlitzohr und eine Nervensäge obendrein, hätte ich schütteln mögen. Dieser Strang steht aber nicht losgelöst von dem modernen. Diese beiden Welten berühren sich zunehmend, überlappen sich gar, und welche Konsequenzen daraus für Rujen, seine Familie und die übrigen Bewohner Ebeyes resultieren – das war einfach nur faszinierend zu lesen. Spätestens dann klärt sich der Titel, der in Form eines Epigramms am Anfang erläutert wird als Meļaļ. Archaic. Playground for demons; not habitable by people. Und auch die drei amerikanischen Jungs sind am Ende des Tages nicht mehr die, die sie am Morgen noch waren, aber ihre Lektionen nehmen sie sehr unterschiedlich auf. Selbst das Ende fügt sich perfekt in diesen mythologischen Rahmen und hat mich sehr zufrieden zurückgelassen.


    Vorne findet sich noch eine Karte, die die Atolle der Marshallinseln und in einer Ausschnittvergrößerung die Handlungsorte im Kwajalein-Atoll zeigt. So habe ich nur ein Glossar und/oder Nachwort mit einigen Erläuterungen zu den marshallesischen Wörtern und zur marshallesischen Kultur vermißt, aber das war wirklich nur ein kleiner Wermutstropfen, der den Gesamteindruck nicht mehr trüben kann.


    5ratten + :tipp:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()

  • Aldawens Begeisterung habe ich es zu verdanken, dass ich diesen Abstecher auf die Marshallinseln unternehmen konnte, und nach dem Lesen kann ich mich ihrer Begeisterung uneingeschränkt anschließen. Rückblickend ist es kaum zu glauben, dass die Handlung tatsächlich nur einen Tag umfasst. Noch unglaublicher ist, was Barclay alles in seinem Roman thematisiert, ohne diesen zu überladen.


    Die Themen hat Aldawen bereits angesprochen, mich hat vor allem umgehauen, wie schonungslos und direkt Barclay die Mißstände anspricht. Er schildert alltägliche Begebenheiten, die ich ihm ungesehen glaube, die ich allerdings 1981 nicht für möglich gehalten hätte. Das überhebliche Verhalten der Amerikaner, das so weit geht die Marshallesen zu Testobjekten und billigen Arbeitskräften zu reduzieren, hat für mich, extrem ausgedrückt, den Beigeschmack von Apartheid und moderner Sklaverei.


    Um so lieber habe ich die Kapitel um Jebro gelesen, der trotz der äußeren Umstände durch sein Wesen schnell die Sympathien auf seiner Seite hat. Zudem versucht er, nicht nur das Andenken an seine Familie, sondern der marshallesischen Kultur weiterzuführen, indem er z.B. die Geschichten seines Großvaters an seinen Bruder Nuke weitergibt oder davon träumt, ein traditionelles Kanu zu bauen. Weniger Spaß hatte ich an den Kapiteln zu Rujen, der nicht einfach nur einen schlechten Tag erwischt hat, sondern regelrecht in immer größere Katastrophen stolpert. Sowas mag ich eigentlich gar nicht, aber in Verbindung mit den anderen Erzählsträngen ergab es hier ein stimmiges Bild.


    Dieses Bild ist natürlich auch maßgeblich von den mythologischen Abschnitten geprägt. Die Einblicke, die Barclay in die Götterwelt der Marshallesen bietet, fügen sich harmonisch in die Geschichte ein. Der Trickster Etao ist zwar eine ausgemachte Nervensäge, ist mir aber auch ein Stück weit ans Herz gewachsen. Noch lieber war mir allerdings sein Freund, der Zwerg Ņoniep, der am Ende auf ene besondere Art belohnt wird.


    Ein tolles, vielschichtiges Buch!


    5ratten




    Spätestens dann klärt sich der Titel, der in Form eines Epigramms am Anfang erläutert wird als Meļaļ. Archaic. Playground for demons; not habitable by people.


    Stellenweise war ich versucht, dieses Epigramm modern zu lesen und es auf die Amerikaner umzumünzen ...



    So habe ich nur ein Glossar und/oder Nachwort mit einigen Erläuterungen zu den marshallesischen Wörtern und zur marshallesischen Kultur vermißt, aber das war wirklich nur ein kleiner Wermutstropfen, der den Gesamteindruck nicht mehr trüben kann.


    Mir fehlte weder ein Glossar noch Erläuterungen. Barclay verwendet zwar das ein oder andere Mal marshallesische Begriffe, übersetzt diese aber sofort bzw. verwendet sie so, dass sie sich aus dem Kontext erklären. Zur Kultur hätte ich zwar gerne mehr erfahren, bin aber mit den Informationen, die ich aus der Geschichte selbst bekomme, schon sehr zufrieden. Zumindest hatte ich an keiner Stelle den Eindruck, mir fehle Hintergrundwissen, eher wurde meine Neugier geweckt.


    Einziger Wermutstropfen für mich waren die Fehler, durch die aus he ein his wurde oder aus that ein than, und die mich unnötig aus der Geschichte gerissen haben.


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges


  • Aldawens Begeisterung habe ich es zu verdanken, dass ich diesen Abstecher auf die Marshallinseln unternehmen konnte, und nach dem Lesen kann ich mich ihrer Begeisterung uneingeschränkt anschließen.


    Warum wundert mich das jetzt gar nicht? :breitgrins:



    Das überhebliche Verhalten der Amerikaner, das so weit geht die Marshallesen zu Testobjekten und billigen Arbeitskräften zu reduzieren, hat für mich, extrem ausgedrückt, den Beigeschmack von Apartheid und moderner Sklaverei.


    Durchaus. Ich habe mich dabei wieder gefragt, mit welcher Berechtigung die Amerikaner sich eigentlich so gerne als die Hüter der Moral aufspielen. Ich finde das einfach zum K...


    Stellenweise war ich versucht, dieses Epigramm modern zu lesen und es auf die Amerikaner umzumünzen ...


    Ich denke, diese Doppeldeutigkeit ist von Barclay bewußt in Rechnung gestellt, dafür paßt sie einfach zu gut in die Mythologie einerseits und in die Moderne andererseits und bildet damit eine gemeinsame Klammer.



    Zumindest hatte ich an keiner Stelle den Eindruck, mir fehle Hintergrundwissen, eher wurde meine Neugier geweckt.


    Das auf jeden Fall, da schließe ich mich an.


    Schönen Gruß
    Aldawen