Hallo,
ich bin jetzt mitten im 5. Kapitel von Wasserman und ich kann nicht mit dem schreiben warten, bis es zu Ende ist. Die Kapitel sind sehr lang und es gibt mittlerweile so viel was es dazu zu sagen gibt.
Wasserman beginnt Neigel seine Geschichte von den "alten Kindern des Herzens" zu erzählen. Man erfährt zu Beginn, dass Wasserman einen Plan hat, aber nicht welchen, doch ich ahne es. Er will mit dieser Geschichte etwas bewirken oder zumindest beweisen. Er möchte beweisen, dass Neigel (und er möchte es ihm selbst beweisen) ein Herz hat, Mitgefühl. Er hofft daran rühren zu können um etwas zu verändern.
Wasserman nutzt es aus, dass Neigel so versessen ist auf diese Geschichte. Er hat ihn, die Nazibestie, in gewisser Weise in der Hand, aber er muss vorsichtig, geschickt agieren. Zuerst sucht Wasserman nach allen Informationen, welche er sich irgendwie von Neigel beschaffen kann. Informationen privater Art. Er weiß, dass Neigel eine Frau und zwei Kinder hat. Also muss er vermuten, dass auch dieser Mensch Liebe oder Zuneigung empfinden kann.
Man bekommt den ersten Eindruck, als Wasserman in seiner Geschichte das Baby auftauchen läßt.
Es geht um den Duft, den Babys haben.
"Und der Arzt atmete diesen süßen Duft ein, der einzigartig ist auf der Welt." Neigel bestätigt mit einem Kopfnicken, dass auch er diesen unvergleichlichen, unnachahmlichen Duft kennt, und Wasserman klagt: "Wie eine Versengung traf dieser Duft sein Herz. Der Verband wurde abgerissen von der alten Wunde, die noch immer blutete." Und Neigel, nach einem Augenblick des Schweigens: "Schau mich nicht so an. Ich will dir etwas erzählen. Ich weiß schon jetzt, dass du das auf deine jüdische Art gegen mich verwenden wirst, aber das ist mir egal: Als mein Karl geboren wurde und ich auf Urlaub nach Hause kam, schlich ich mich jede Nacht leise an sein Bettchen, um ihn zu riechen. Es war, als liefen mir Ameisen über den Rücken." Und Anschel Wasserman: "Ich wußte es."
Dieser Abschnitt kommt, nachdem Wasserman erzählte was mit seiner Tochter geschah. Einem kleinen Kind. Zwei Jahre alt. Eigentlich erzählt er es nicht. Er deutet an, aber das alleine reicht schon aus. Man sieht es vor dem inneren Auge und es ist auch nicht in Worte zu fassen. Es gibt keine Worte, die es be- oder umschreiben können, so unfassbar ist es immer wieder.
Ich habe mich schon immer mit dem Thema Holocaust beschäftigt, aber jedes Mal, immer wieder auf's Neue muss ich feststellen, dass es immer wieder die selbe Fassungslosigkeit auslöst, das selbe Herzrasen, die selbe Übelkeit. Die Mord an Menschen und selbst an kleinsten Kindern, kalt, skrupellos entmenscht. Das Entsetzen läßt niemals nach, unabhängig davon, wie oft ich es lese und mich damit beschäftige.
Gerade das Unvermögen der Holocaustopfer an einem gewissen Punkt weiter zu reden, dieses fürchterliche Schweigen, weil die Worte fehlen und jedes Wort auch unangebracht erscheint, all das Grauen zu benennen, weil jedes Wort der Sprache zu gering, zu unbedeutend erscheint für das entsetzlichste was einem Menschen, einer Familie wiederfahren kann. Allein der Ausdruck in den Augen eines solchen schweigenden, der Worte nicht mehr zu sprechen fähigen, Menschen läßt nur annähernd erahnen was die Seele zerreißt.
Wie kann ein Mensch, der eine Frau hat die er liebt, Kinder die sein ein und alles sind, dem der Geruch seinen Babys eine wohlige Gänsehaut vermittelt, wie kann solch ein Mensch zu einer Bestie werden und selbst Kinder und erwachsene Menschen ermorden auf grausamste Weise? Wieso? Wie kann so etwas geschehen? Wie kann jemand, der zu solchen Taten fähig ist, fähig sein zu leben und seine Kinder anzusehen?
Für mich gibt es darauf keinen Antwort, weil ich mir gar keine Antwort darauf vorstellen kann, die solches Verhalten erklären könnte.
Ich gestehe dass ich froh bin, wenn dieses Kapitel zu Ende ist und ich zu meinem anderen Buch greifen kann. Wie gut geht es mir. Die Gefangenen in den Vernichtungslagern hatten keine Chance nach einem "Kapitel" eine Pause einzulegen. Sie mussten sich jede Sekunde ihres verbleibenden Lebens damit konfrontieren. Nichts kann grausamer sein.