Kaufen* bei
Amazon
Bücher.de
Buch24.de
* Werbe/Affiliate-Links
Deutschland – Hartz-IV-Land – Schamland
„Soziologie öffentlich und für die Öffentlichkeit zu betreiben, ist in letzter Zeit unmodern geworden. Kern meiner Öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in Debatten einzumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Meine Soziologie ist eine wütende Wissenschaft. Sie ist nicht neutral, sondern interessegeleitet. Sie nimmt Anteil an den Sorgen der Menschen.“
So schreibt Stefan Selke im Prolog zu „Schamland. Die Armut mitten unter uns“ und legt mit diesem Buch eine furiose „Gesellschaftsdiagnose“ vor. Übrigens ganz ohne „die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe, [um damit] den Beschränkungen komplizierter Sprachspiele zu entkommen, die Wissenschaftlichkeit lediglich suggerieren.“ Ein erfrischend neuer Ansatz.
Schon der Aufbau ist etwas Besonderes:
In Kapitel I („Die Armut unter uns“) nennt Selke erschreckende Zahlen zur Armut in Deutschland. Er gibt zahllose Beispiele, wie deutsche PolitikerInnen die Armut schönrechnen (lassen) und sogar auf den Tadel des UN-Sozialausschusses im Mai 2011 keine Taten folgen ließen.
In einem weiteren Unterkapitel wird der Begriff Schamland definiert (der erste Satz:„Scham ist das Grundgefühl der Armut.“) und dann folgen die Kapitel, die auf mich den größten Eindruck gemacht haben:„Trostbrot“ (Kapitel II) und „Der Chor der Tafelnutzer“ (III):
In „Trostbrot“ berichtet Selke von seinen Besuchen bei den Armen in Deutschland und lässt sie selbst in ausführlichen Interviews zu Wort kommen. Im „Chor der Tafelnutzer“ verdichtet Selke viele wörtliche Zitate vieler TafelnutzerInnen zu einem Chor (und nennt hierfür Walter Kempowskis „Echolot“ als Vorbild).
In diesen beiden Kapiteln wird schonungslos deutlich, wie es den Armen in Deutschland geht: die Scham, das Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, die Demütigung beim Amt und bei den Tafeln, die ständige Abnahme des Selbstwertgefühls und schließlich oft die Resignation.
Gerade diese Kapitel fand ich bedrückend, erschütternd und traurig und frage mich, wie PolitikerInnen eines (angeblichen) Sozialstaats solche Zustände zulassen können. Und wie die Behandlung der Armen in Deutschland mit der Menschenwürde zu vereinbaren sind.
Zwei Kapitel mit Selkes Analysen runden das Buch ab. Hier lasse ich den Autor wieder selbst zu Wort kommen: „Im Kapitel „Zurückbleiben, bitte!“ beschäftige ich mich mit den Folgen von Armut, der Sprache über Armut, dem Phänomen der Altersarmut, den neuen Armutsökonomien sowie den immer beliebter werdenden Armutsspektakeln. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Tafeln in Deutschland fasse ich im Kapitel „Nach dem Lob“ den Werdegang der Tafelbewegung zusammen und erläutere noch einmal kurz die Kernthese vom schleichenden sozialen Wandel und der Gewöhnung an Missstände als dem eigentlichen Skandal.“
Die beiden Kapitel sind zu komplex und zu wichtig, um die Inhalte hier in der Form darzulegen, wie es ihnen gebührt. Deswegen nur die Wirkung, die sie auf mich hatten:
Selkes Analyse hat es geschafft, mich davon zu überzeugen, dass die „Tafeln“, von denen ich vorher eine doch eher positive Meinung hatte, nicht die Lösung des Armutsproblems in Deutschland sind, sondern im Gegenteil sogar noch zu diesem Problem beitragen, indem sie z.B. Aufgaben übernehmen, die eigentlich der Staat übernehmen sollte (und laut Verfassung auch müsste!).
Mein Fazit:
In drei Worten: Lesen! Ein Volltreffer!
Etwas länger:
Eine kurze Rezension kann dem Thema und diesem wichtigen Buch nicht gerecht werden. Mich hat es beeindruckt, wie engagiert Selke ist, traurig gemacht, wie es den Armen in Deutschland ergeht, und wütend, dass die Politik nur zuschaut und ihre eigenen Aufgaben nur zu gern an „Ehrenamtliche“ abgibt. Dieses Buch müsste Pflichtlektüre für PolitikerInnen werden – aber auch für die (vielen) Deutschen, die nur zu gern abfällig über in Deutschland von Armut betroffene Menschen reden.