Stefan Selke - Schamland. Die Armut mitten unter uns

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    Deutschland – Hartz-IV-Land – Schamland


    „Soziologie öffentlich und für die Öffentlichkeit zu betreiben, ist in letzter Zeit unmodern geworden. Kern meiner Öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in Debatten einzumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Meine Soziologie ist eine wütende Wissenschaft. Sie ist nicht neutral, sondern interessegeleitet. Sie nimmt Anteil an den Sorgen der Menschen.“


    So schreibt Stefan Selke im Prolog zu „Schamland. Die Armut mitten unter uns“ und legt mit diesem Buch eine furiose „Gesellschaftsdiagnose“ vor. Übrigens ganz ohne „die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe, [um damit] den Beschränkungen komplizierter Sprachspiele zu entkommen, die Wissenschaftlichkeit lediglich suggerieren.“ Ein erfrischend neuer Ansatz.


    Schon der Aufbau ist etwas Besonderes:
    In Kapitel I („Die Armut unter uns“) nennt Selke erschreckende Zahlen zur Armut in Deutschland. Er gibt zahllose Beispiele, wie deutsche PolitikerInnen die Armut schönrechnen (lassen) und sogar auf den Tadel des UN-Sozialausschusses im Mai 2011 keine Taten folgen ließen.
    In einem weiteren Unterkapitel wird der Begriff Schamland definiert (der erste Satz:„Scham ist das Grundgefühl der Armut.“) und dann folgen die Kapitel, die auf mich den größten Eindruck gemacht haben:„Trostbrot“ (Kapitel II) und „Der Chor der Tafelnutzer“ (III):


    In „Trostbrot“ berichtet Selke von seinen Besuchen bei den Armen in Deutschland und lässt sie selbst in ausführlichen Interviews zu Wort kommen. Im „Chor der Tafelnutzer“ verdichtet Selke viele wörtliche Zitate vieler TafelnutzerInnen zu einem Chor (und nennt hierfür Walter Kempowskis „Echolot“ als Vorbild).


    In diesen beiden Kapiteln wird schonungslos deutlich, wie es den Armen in Deutschland geht: die Scham, das Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, die Demütigung beim Amt und bei den Tafeln, die ständige Abnahme des Selbstwertgefühls und schließlich oft die Resignation.


    Gerade diese Kapitel fand ich bedrückend, erschütternd und traurig und frage mich, wie PolitikerInnen eines (angeblichen) Sozialstaats solche Zustände zulassen können. Und wie die Behandlung der Armen in Deutschland mit der Menschenwürde zu vereinbaren sind.


    Zwei Kapitel mit Selkes Analysen runden das Buch ab. Hier lasse ich den Autor wieder selbst zu Wort kommen: „Im Kapitel „Zurückbleiben, bitte!“ beschäftige ich mich mit den Folgen von Armut, der Sprache über Armut, dem Phänomen der Altersarmut, den neuen Armutsökonomien sowie den immer beliebter werdenden Armutsspektakeln. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Tafeln in Deutschland fasse ich im Kapitel „Nach dem Lob“ den Werdegang der Tafelbewegung zusammen und erläutere noch einmal kurz die Kernthese vom schleichenden sozialen Wandel und der Gewöhnung an Missstände als dem eigentlichen Skandal.“


    Die beiden Kapitel sind zu komplex und zu wichtig, um die Inhalte hier in der Form darzulegen, wie es ihnen gebührt. Deswegen nur die Wirkung, die sie auf mich hatten:


    Selkes Analyse hat es geschafft, mich davon zu überzeugen, dass die „Tafeln“, von denen ich vorher eine doch eher positive Meinung hatte, nicht die Lösung des Armutsproblems in Deutschland sind, sondern im Gegenteil sogar noch zu diesem Problem beitragen, indem sie z.B. Aufgaben übernehmen, die eigentlich der Staat übernehmen sollte (und laut Verfassung auch müsste!).


    Mein Fazit:
    In drei Worten: Lesen! Ein Volltreffer!
    Etwas länger:
    Eine kurze Rezension kann dem Thema und diesem wichtigen Buch nicht gerecht werden. Mich hat es beeindruckt, wie engagiert Selke ist, traurig gemacht, wie es den Armen in Deutschland ergeht, und wütend, dass die Politik nur zuschaut und ihre eigenen Aufgaben nur zu gern an „Ehrenamtliche“ abgibt. Dieses Buch müsste Pflichtlektüre für PolitikerInnen werden – aber auch für die (vielen) Deutschen, die nur zu gern abfällig über in Deutschland von Armut betroffene Menschen reden.


    5ratten :tipp:

  • Sehr eindrücklich, was du hier schilderst, Mrs Brandon. Armut verbindet man meist mit Dritte Welt-Ländern, obwohl sie ebenfalls direkt vor unserer Haustüre stattfindet. Super, dass du uns auf das Buch aufmerksam gemacht hast.

    //Grösser ist doof//

  • Danke, Jari! :bussi: Mir liegt das Thema sehr am Herzen und ich finde es schön, dass ich das mit meiner Rezension auch ausdrücken konnte.

  • Es ist ja auch ein Thema, das uns alle angeht. Für mich persönlich wäre jedoch ein Buch interessanter, das sich mit den Zuständen in der Schweiz beschäftigt.

    //Grösser ist doof//


  • Sehr eindrücklich, was du hier schilderst, Mrs Brandon. Armut verbindet man meist mit Dritte Welt-Ländern, obwohl sie ebenfalls direkt vor unserer Haustüre stattfindet. Super, dass du uns auf das Buch aufmerksam gemacht hast.


    Nicht unbedingt.
    Was in meinem Fall aber auch am Soziologie-Studium liegen an. :zwinker:


    Nichtsdestotrotz ein Buch, was mich interessiert.

  • Natürlich, wer sich mit Soziologie beschäftigt, streift früher oder später das Thema Armut. Aber wie sieht es mit anderen Bürgern aus, die ein durchschnittliches Einkommen haben? Mir ist schon oft untergekommen, dass man von Armen nur im Zusammenhang mit Afrika oder allenfalls Russland oder China geredet hat. Aber auch wir hier können verarmen :sauer:

    //Grösser ist doof//

  • Wobei mich bei dem Buch interessieren würde, welche statistisches Maßzahlen hier genommen werden. Immerhin besteht darin auch ein ziemlich großer Unterschied und dass man Statistiken herrlich verzerren kann, weiß man seit Sarrazin.


    Natürlich beschäftigt sich der "normale Bürger" seltener mit solchen Begriffen, vor allem weil viele Menschen sich als Mittelschicht ansehen und laut Statistik schon fast in der Armut stecken.

  • Ich denke es kommt auch darauf an wo man wohnt. Hier in Mannheim begegne ich der Armut tag täglich direkt auf der Straße. Es gibt hier auffallend viele Obdachlose und Menschen die nicht zum Betteln nah Deutschland eingereist (was es ja auch immer häufiger gibt) sind sondern definitiv durch unser Sozialnetz gefallen. Ich werde hier immer wieder von eben diesen um Geld gebeten. In Stuttgart gibt es das ja auch, aber es ist dort weniger sichtbar - sicher auch weil die Stadt sehr viel größer ist, aber zum Teil auch weil die Arbeitslosenzahlen anders sind.

  • @kleinerHase: Viele Menschen hier in der Schweiz gehören zur unteren Mittelschicht. Sie verdienen genug, um etwas zu sparen und zu leben und einmal im Jahr vielleicht zu verreisen. Doch es muss nur ein Unglück geschehen, Tod, Krankheit, Arbeitsverlust, und schon ist das hart erarbeitete Leben weg. Da man zu wenig verdient hat, um sich Reserven anzulegen, macht das Netz ratsch und man landet in der Unterschicht. Wie das in Deutschland ist, weiss ich leider nicht.


    @Holden: Da stimme ich dir zu. In den Städten sieht man wahrscheinlich mehr Bettler. Seit ich in einer Stadt wohne, fallen mir die vielen verwahrlosten Gestalten am Bahnhof explizit auf. Auch hier sind es keine Ausländer, sondern Einheimische.

    //Grösser ist doof//


  • vor allem weil viele Menschen sich als Mittelschicht ansehen und laut Statistik schon fast in der Armut stecken.


    Das würde aber heißen, dass der Statistikbegriff in Zweifel zu ziehen ist. :zwinker:


  • Das würde aber heißen, dass der Statistikbegriff in Zweifel zu ziehen ist. :zwinker:


    Natürlich!
    Ich halte sowieso nicht allzu viel davon, Menschen nur als statistische Ziffern zu sehen. Deswegen forsche ich qualitativ, nicht quantitativ.

  • 5ratten


    Vor vier Jahren ist dieses Buch bereits erschienen, aber so aktuell wie 2013, wenn nicht sogar noch mehr.
    Wer an die 'Tafeln' denkt, dem fällt zumeist eines ein: Gemeinnützig! Ehrenamtliche verteilen stark verbilligt Lebensmittel an Arme, die der Tafel zuvor gespendet wurden. Eine gute und sinnvolle Idee - wer würde etwas Schlechtes dagegen sagen oder schreiben wollen? Stefan Selke zum Beispiel, Soziologieprofessor und Autor dieses Buches, der schon früher die These aufstellte, dass Angebote wie die Tafeln Armut nicht versuchen zu beseitigen, sondern statt dessen festschreiben. Auch in seinem neuen Werk ist dies das Hauptthema. Er besucht Nutzerinnen und Nutzer dieser Wohlfahrtsangebote, fragt nach, wie es dazu kam und wie es ihnen dabei geht. Es sind ganz unterschiedliche Personen, die er da trifft: eine studentische Kleinfamilie, eine chronisch kranke Frau die noch nicht aufgegeben hat aus diesem System auszubrechen, ein chronisch krankes Rentnerehepaar, die sich in diesem Dasein jetzt mehr schlecht als recht eingerichtet haben. Alle eint sie, dass sie diese Angebote eigentlich nicht wollen, aber aufgrund ihrer Verhältnisse müssen, weil es keinen anderen Weg gibt.
    Selke beschreibt nicht nur Zustände, er schildert auch detailliert wie sich der Umgang mit Armen im Laufe der Geschichte verändert hat: von der Entwicklung der reinen Almosenempfänger im alten Griechenland wie auch im Mittelalter, die sich glücklich schätzen durften zu den 'guten' Bedürftigen gezählt zu werden und somit die Gnade von Zuwendungen zu erfahren bis hin zu gleich- UND anspruchsberechtigten Bürgerinnen und Bürgern in der Gegenwart durch das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip (Art. 20, Abs. 1). Doch diese Entwicklung scheint sich wieder in ihr Gegenteil umzukehren: Ansprüche werden auf ein solches Mindestmaß reduziert, dass Berechtigte gezwungen sind, Angebote von Almosen (und nichts anderes sind Tafeln und weitere Institutionen der Armutsökonomie ja) anzunehmen. Statt Betroffenen zu helfen aus diesen Problemsituationen wieder herauszukommen, wird selbst vom Staat Armut als akzeptabler Dauerzustand dargestellt, der ja durch die vielfältigen (und immer wieder lobend erwähnten wie auch kräftig unterstützten) Freiwilligenangebote durchaus erträglich ist. Was jedoch passiert, wenn (aus welchen Motiven auch immer) sich die Anbieter solcher freiwilligen Dienstleistungen irgendwann zurückziehen, wird aus naheliegenden Gründen nicht thematisiert. Für die Empfangenden, die sich dieser Problematik durchaus bewusst sind, ist dies ein schrecklicher Zustand: nicht nur die Verhältnisse an sich sondern auch die Tatsache, abhängig zu sein vom Wohlwollen einiger Weniger.
    Selke vergisst auch nicht aufzuzeigen, dass Armut neben den direkten Kosten (die konkrete finanzielle Unterstützung) auch eine Reihe weiterer Kosten entstehen lässt, die sich nicht nur in Zahlen darstellen lassen. Berufliche Kompetenzen gehen verloren, größere Aufwendungen durch Krankheit, Demokratiedefizite entstehen...
    Wer sich konkrete Lösungsvorschläge erhofft, um eine Besserung dieser Situation herbeizuführen, findet diese nur indirekt. Diejenigen, die noch arbeiten können, möchten eine Beschäftigung von der sie auch leben können - eine klare Absage an PolitikerInnen, die gegen Mindestlöhne sind und weiterhin eine Förderung von Mini-, 1-Euro-Jobs, befristeten Beschäftigungen und dergleichen unterstützen. Andere wie Kranke, Rentner, Alleinerziehende eint der Wunsch, nicht als BittstellerInnen auftreten zu müssen - das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Frühjahr 2010 war ein Schritt in diese Richtung, dem jedoch weitere bisher nicht folgten.
    Selkes Verdienst ist es, einer großen Gruppe der Gesellschaft eine Stimme gegeben zu haben, die bisher aus Scham lieber schwieg und sich versteckte. Und trotz seines Status als Soziologieprofessor ist sein Buch gut lesbar und ebenso verständlich - und ganz und gar nicht 'sehr fachlich und wissenschaftlich' wie in einer Rezension vermerkt. Es bleibt zu hoffen, dass viele viele Menschen dieses Buch lesen - und sich etwas bewegt!

    Je mehr sich unsere Bekanntschaft mit guten Büchern vergrößert, desto geringer wird der Kreis von Menschen, an deren Umgang wir Geschmack finden.    Ludwig Feuerbach (1804 - 1872)