Herman Bang - Exzentrische und stille Existenzen

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  • Herman Bang - Exzentrische und stille Existenzen (Erzählungen)


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    Aus dem Klappentext:


    Herman Bang (1857-1912), der als Schauspieler begann, in Berlin und Prag, besonders aber in Paris als Feuilletonist und Regisseur lebte und, weltberühmt, auf einer Vortragsreise durch die USA im Schnellzug starb, gilt als der Darsteller der von der robusten Gesellschaft übersehenen, beiseite gedrückten oder verachteten "exzentrischen" Existenzen, der Zwischentöne, der halb ausgesprochenen Regungen, als der Meister des dänischen Impressionismus.


    Meine Leseeindrücke:


    Das Buch erschien in der Sammlung Dieterich (Band 281), ich habe die 2. Auflage von 1972. Es enthält neun Erzählungen und ein Nachwort von Dr. Ernst Walter.


    Übersetzt wurden die Erzählungen von Elfriede Adelberg, Ernst Brausewetter, Emil Jonas und anderen. Das wird vorn im Buch ohne Zuordnung zu den einzelnen Erzählungen angegeben.



    Die ersten beiden Erzählungen habe ich gelesen: "Die vier Teufel" und "Fratelli Bedini". Beide spielen im Artisten- und Zirkusmilieu. In beiden sind die Hauptpersonen Artisten, die aus sehr armen Verhältnissen stammend als Kinder ohne Eltern zum Zirkus kamen, teils sogar verkauft wurden, dann zu Artisten ausgebildet wurden, und nun als junge Erwachsene allabendlich in diesem gefahrvollen Beruf arbeiten. Die Themen sind der Zusammenhalt zwischen den Artisten, die sich absolut aufeinander verlassen können müssen und aufeinander angewiesen sind, dies ist insbesondere Thema in der ersten Erzählung "Die vier Teufel". Hier wird geschildert, wie fragil dieses Arrangement ist und wie leicht äußere Einflüsse, zwischenmenschliche Unstimmigkeiten, ja sogar die Liebe oder besser gesagt: normale erotische Bedürfnisse junger Leute dieses Gleichgewicht zerstören können.


    Der Schreibstil ist etwas gewöhnungsbedürftig, stellenweise knapp und sprunghaft, aber immer sehr treffend. Viel Melancholie, Einsamkeit und Traurigkeit wird transportiert. Hier haben wir die "exzentrischen Existenzen", die am Rande der Gesellschaft leben und von vielem ausgeschlossen sind. Beide Erzählungen empfand ich als sehr deprimierend, auch das Zirkusmilieu mag ich nicht so gern. Ich hoffe, dass die Schauplätze sich in den nächsten Erzählungen ändern und die stillen Existenzen mir besser gefallen werden.

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

    Einmal editiert, zuletzt von kaluma ()

  • Charlot Dupont


    In dieser Erzählung geht es um einen Violinen-Wunderknaben, der von seinem Vater und seinem Manager schamlos ausgenutzt wird. Beide bereichern sich an ihm ohne Rücksicht auf seine echten Bedürfnisse. Vom Alter von 7 Jahren an wird Charlot quer durch die Welt gezerrt, um als Wunderkind überall in der Welt mit immer denselben Musikstücken aufzutreten. Seine Zukunft wird dadurch zerstört, denn eine fundierte Violinausbildung bekommt er nicht, obwohl er talentiert ist. Er lernt nichts, nicht einmal lesen. Er wird entwurzelt, dann wird er fallengelassen, auch seine Mutter kann das nicht verhindern. Nur wenige Menschen versuchen ihm zu helfen. Eine Zukunft scheint es für ihn nicht zu geben.


    Wiederum eine sehr deprimierende Geschichte, aber gut geschrieben. Ganz beiläufig und unaufgeregt, in oftmals knapp formulierten Sätzen, umso deutlicher wird die Eiseskälte und die empörende Ungerechtigkeit, die dem Jungen zugefügt wird, auch wenn sie nicht klar so bezeichnet werden.


    Franz Pander


    Erzählung über einen Außenseiter, der am Leben scheitert. Er wird Kellner, sieht die Welt der reichen Hotel- und Restaurantbesucher, aber kommt nicht wirklich an sie heran. Zum Personal passt er aber auch nicht recht.


    Irgendwie scheint es in all diesen Geschichten um Menschen zu gehen, die außerhalb des Lebens stehen (exzentrische Existenzen eben) und gewissermaßen wie durch eine Glasscheibe leben. Weder finden sie Glück, Erfüllung und eine Aufgabe, noch wissen sie überhaupt, was sie im Leben wollen. Eine Perspektive haben sie nicht.



    Die nächste Erzählung, Am Wege, ist etwas länger und ich sehe, dass es hierzu schon einen Thread im Forum gibt.

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  • Die Erzählung Am Wege gefiel mir am besten aus diesem Band. Da sie auch einzeln als Buch erschienen ist, habe ich ihr einen Kommentar im entsprechenden Thread gegönnt: Am Wege.

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  • Fräulein Kaja


    Von den exzentrischen Existenzen sind wir nun offenbar zu den stillen übergegangen, und diese Erzählungen gefallen mir wesentlich besser. Fräulein Kaja reibt sich daran auf, eine Pension mit vielen Gästen zu versorgen und ruht nicht, ehe alle Arbeit erledigt ist. Jeder nimmt das als selbstverständlich hin und kaum jemandem fällt auf, wie schamlos sie ausgenutzt wird, ihre eigenen Bedürfnisse bleiben unbeachtet. Das wilde Treiben, das in der Pension herrscht, steht im Gegensatz zu Kajas Charakter. Als Wilhelm Gröntoft auf Besuch kommt (ein früherer Pensionsgast, in den Kaja einst verliebt war, der aber inzwischen anderweitig verheiratet ist) kommen Erinnerungen an die Vergangenheit in ihr hoch. Doch sie sollte lieber dem stillen, immer unauffälligen Norweger Arnljot Oulie mehr Aufmerksamkeit schenken, der offenbar der einzige Pensionsgast ist, dem Kajas Wohl am Herzen liegt.


    Irene Holm


    Die von Melancholie durchzogene Geschichte einer nicht sehr erfolgreichen, alternden Tänzerin, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen muss, dass sie von Dorf zu Dorf zieht und Tanzkurse gibt. Als sie beim Abschlussball eine Probe ihrer Tanzkunst zum Besten gibt, wird deutlich, dass sie überhaupt nicht in diese Welt passt.

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  • Ein herrlicher Tag


    In dieser Erzählung geht es darum, dass die relativ mittellose Familie Etvös plötzlich ein Abendessen für eine bessere Gesellschaft ausrichten muss. Ein unbedachtes Wort stürzt Frau Etvös in tiefste Nöte, denn weder ist die Wohnung präsentabel, noch genug Geld vorhanden um eine Gesellschaft zu bewirten. Doch mit Tatkraft bewältigt Familie Etvös die Aufgabe. Die illustren Gäste verstehen diese Hintergründe gar nicht, ihnen fällt anfangs nicht einmal auf, dass die Familie überhaupt Kinder hat. Hier begegnen wir Sofie Simonin wieder, der Pianistin, die in der Erzählung "Charlot Dupont" als einzige Mitgefühl mit dem jungen Geiger aufbrachte. Allerdings erscheint sie hier in einem wesentlich kälteren, unbarmherzigeren Licht und wirkt ziemlich abstoßend.


    Die Erzählung schildert tiefe Armut, der man nicht entrinnen kann, und ihre Wirkung auf das Lebensgefühl der Menschen. Herrn Etvös' Traum, selber als Sänger aufzutreten, wird sich wohl nicht erfüllen und am Ende kann er dem Zug mit der abreisenden Pianistin nur sehnsüchtig nachwinken.


    Meine heimliche Heldin dieser Geschichte ist die älteste Tochter Emmeline, die immer versucht, sich nützlich zu machen.


    Die Raben


    Eine Erzählung, die aufgrund der Vielzahl beteiligter Personen anfangs sehr verwirrend auf mich wirkte. Wie schon öfter bei Herman Bang, werden die Personen nicht vorgestellt, sondern treten einfach auf und beginnen zu agieren, man wird mit Namen bombardiert, die man zuerst nicht zuordnen kann (zumal sie sich auch noch mit anderen Bezeichnungen, wie "der Rechtsanwalt", abwechseln). Erst später bekommt der Leser nach und nach mit, worum es eigentlich geht. Auch hier wird ein Festmahl geschildert, an dem eine Reihe Verwandte des ältlichen Fräuleins Sejer teilnehmen. Die Tischgespräche sind sehr aufschlussreich, einige Dinge könnte man auch heute noch ganz ähnlich hören. Alles hat einen Hauch Buddenbrooks an sich. Man wundert sich über diese und jene Frechheit und Unverfrorenheit der jungen Verwandten, doch nach und nach wird klar, dass auch die mittlere Generation etwas zutiefst Perfides im Schilde führt.

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

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  • Abschließend kann ich sagen, dass mir dieser Band mit Erzählungen sehr gut gefallen hat, besonders der Teil mit den stillen Existenzen. Ich bin froh, das Buch endlich gelesen zu haben. Die Art, wie Herman Bang Personen und Umstände schildert, indem er den Leser direkt an ihnen teilhaben lässt, ohne viel zu werten und zu erklären, ist sehr wirkungsvoll und beinhaltet auch immer ein gutes Maß Gesellschaftskritik. Am besten gefielen mir "Am Wege" und "Fräulein Kaja". Nicht so angenehm war die Trostlosigkeit, die besonders in den ersten vier Erzählungen vorherrschte. Im Nachwort von Ernst Walter erfährt man viel Interessantes aus Herman Bangs Biographie und sehr aufschlussreich ist, wie Ernst Walter das zu den Erzählungen in Beziehung setzt.


    4ratten

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

  • Für den diesjährigen SLW will ich sowohl die "Excentriske Noveller" als auch die "Stille Existenser" lesen, jeweils im dänischen Original in meiner schönen "Værker i Mindeudgave" (Werke in Gedenkausgabe) von 1912.


    Bei einem Titelvergleich musste ich allerdings feststellen, dass der Inhalt der zwei separat erschienenen dänischen Bücher nur teilweise mit den in der deutschen Ausgabe enthaltenen Erzählungen übereinstimmen. Ich versuche mal, das aufzudröseln:


    Excentriske Noveller (3):

    • Franz Pander
    • Fratelli Bedini
    • Charlot Dupont

    Diese 3 Erzählungen hat kaluma oben vorgestellt, aber zusätzlich auch "Die vier Teufel". Im Dänischen trägt "Les quatre Diables" zwar den Untertitel "Excentriske Novelle", ist aber erst 5 Jahre nach den Erzählband erschienen.


    Stille Existenser (4):

    • Min gamle Kammerat
    • Enkens søn (in meiner Ausgabe "Otto Heinrich")
    • Hendes Højhed (in meiner Ausgabe "Son Altesse")
    • Ved Vejen

    Von diesen hat kaluma nur "Am Wege", also "Ved Vejen" vorgestellt. Die ersten 3 Erzählungen scheinen in der deutschen Ausgabe nicht enthalten zu sein.


    Wo kommen also die restlichen 4 in dem deutschen Band enthaltenen Erzählungen her?

    "Fräulein Kaja", Irene Holm" und "Ein schöner Tag" sind im Original als Sammelband mit dem Titel "Under Aaget" ("Unter dem Joch") erschienen.

    "Die Raben" ist die Titelerzählung des noch einen weiteren Text enthaltenen "Ravnene".


    Alles klar? :gruebel:  :spinnen:

    Ich gehe dann mal lesen...

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Excentriske Noveller


    Der drei Erzählungen umfassende Band erschien im dänischen Original erstmals 1885.


    Franz Pander

    Der in äußerst ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Franz träumt von einem besseren Leben. Er sehnt sich nach Schönheit, Wohlgerüchen, Reichtum, Frauen. Um diesen Träumen näherzukommen, arbeitet er als Kellner in einem schicken Hotel. Dabei begegnet er immer wieder schönen weiblichen Gästen, die er insgeheim anbetet und er sehnt sich danach, von diesen seinerseits wahrgenommen zu werden. Aber schließlich muss er einsehen, dass er für sie nichts weiter als ein Stück lebendes Mobiliar ist...


    Fratelli Bedini

    Nach dem Tod seiner Mutter wird der achtjährige Klaus von seinem Vater an einen Zirkus gegeben, wo er zu einem Parterreakrobaten ausgebildet und forthin Giovanni genannt wird. Später wird er ein erfolgreicher Kunstreiter, aber eine (nicht unverschuldet) unglückliche Leidenschaft führt zu einem Unfall, der einen Berufswechsel erfordert. Sein bester Freund bietet ihm an, ihm als Löwendompteur zu assistieren. Aber Löwen sind nicht ungefährlich...


    Charlot Dupont

    Mit sieben Jahren wird Carlo de las Foresas bei einem Geigenvorspiel von einem Musikimpressario "entdeckt" und ab dann unter dem Namen Charlot Dupont (der laut Impressario besser beim Publikum ankommt) als Violinen-Wunderknabe gnadenlos erst Europa- und dann weltweit vermarktet. Sein Vater ist mit von der Partie und macht sich dank der hohen Einnahmen ein schönes Leben. Wie es Charlot dabei geht, interessiert höchstens seine Mutter, die er alle Jubeljahre mal sieht. Leider werden Kinder älter und irgendwann findet eine Wunderkindkarriere ihr natürliches Ende. Niemand interessiert sich für einen jungen Mann, der zwar nicht untalentiert ist, aber nie ordentlich Geige spielen gelernt hat.


    Bang erzählt von diesen drei bemitleidenswerten jungen Männern, denen das Leben (oder besser ihre Umwelt) schon in jungen Jahren übel mitspielt, in kurzen, einprägsamen Bildern. Vieles bleibt unausgesprochen, immer wieder kommt es zu längeren Sprüngen in der Chronologie, aber trotzdem bekommen die LeserInnen ein rundes Bild der äußeren und inneren Ereignisse. Bang erklärt nicht, er bewertet nicht, er gibt uns kurze Eindrücke aus dem Leben seiner Protagonisten, aber mit einem solchen Geschick, dass nichts fehlt.


    4ratten

    Wir sind irre, also lesen wir!