03 - Teil 2, Vier bis Sechs (S. 137-201)

Es gibt 10 Antworten in diesem Thema, welches 2.041 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Hier könnt Ihr zum Inhalt von Seite 137 bis 201 schreiben.
    Spoilermarkierungen sind aufgrund der Seitenbeschränkung nicht vorgesehen.


    EDIT Valentine: Ich hatte mich mit den Kapiteln vertan und habe deshalb die Überschrift ausgebessert. TochterAlice hat das schon richtig gemacht mit den Kommentaren ;)

    Liebe Grüße

    Tabea

    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()

  • Eins, zwei, drei, im Sauseschritt....


    Das Buch ist so toll, da mochte ich nicht länger warten und habe schon mal weitergelesen. Also, hier stürmen eine ganze Reihe neuer Figuren auf den Leser ein, die er erst einmal sortieren muss - ebenso wie Eric, denn der scheint ja eine Menge davon vergessen bzw. unbewusst verdrängt zu haben.


    Ausser Käthe - teilweise - scheinen aber alle zu verstehen, dass es evtl. nicht anders möglich war. Bisher jedenfalls.


    Mir tut die arme Nora leid, die um ihre Ehe fürchtet, bzw. sich fast schon darein fügt, dass sie Eric an Deutschland bzw. spannendere Frauen verlieren wird. Sehr, sehr realistisch, finde ich, denn genau so habe ich es Ende der 1980er/ Anfang der 1990er in Lettland, der Heimat meiner Mutter erlebt: Eine ganze Reihe von Beziehungen gingen quasi in Tagen aus unterschiedlichen Gründen in Brüche: Exilletten beiderlei Geschlechts verließen ihre Partner mit demselben Hintergrund, um sich an einen in der Heimat selbst aufgewachsenen Partner zu binden. In Lettland aufgewachsene Letten trennten sich ebenso von Partnern mit demselben Hintergrund, um sich an Exilletten oder auch an Westeuropäer oder Amerikaner zu binden und so das Land verlassen zu können. Letten, die mit Ausländern unterschiedlicher Art verheiratet gewesen waren, trennten sich, um einen Landsmann/ eine Frau gleicher Nationalität in die Arme zu schließen. Auf die Gefahr hin, Euch damit komplett zu verwirren - genauso irritierend war das für mich und alle, die diesen flotten Reigen von außen beobachteten. Und der beinhaltete bei einigen durchaus mehrere Partnerwechsel in kurzer Zeit.


    Gut, ganz so wird es hier nicht gehen (bzw. befürchtet Nora das nicht), aber die Stimmung stelle ich mir so ähnlich vor. Sie erfährt noch so einiges andere über ihren Mann, wovon sie keine Ahnung hatte: bzw. dass er Autor eines Antinazi-Romans war und gejagt wurde, sein Pseudonym aber offenbar nicht aufgeflogen war. Finde ich auch wirklich sehr spannend, das wird ja fast zum Krimi.


    Auch dieser Franz, den Eric offenbar komplett aus seinen Erinnerungen gelöscht hatte, ebenso wie die alte Bedienstete und Herr Rosen in Schöneberg sind für mich noch geheimnisvolle Wesen, über die noch die ein oder andere Sensation zu Erics Vorkriegsleben in Berlin zutage gefördert werden könnte!

  • Gegenüber der Erinnerung an den Cousin, der im Widerstand war, und Käthe, der es in Frankreich übel ergangen ist, ist es kein Wunder, dass Eric sich unwohl fühlt, den Krieg in relativer Sicherheit "ausgesessen" zu haben. Aber so sehr ich Käthes Vorwurf der Feigheit verstehen kann, kann ich es ihm auch nicht verdenken, dass er diesen Weg gewählt hat. Es urteilt sich aus unserer heutigen Warte einfach über Menschen wie ihn. Ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, was ich in einer solchen Situation täte. Bleiben und dem Regime die Stirn bieten, wenn das den Tod bedeuten kann - davor ziehe ich mit äußerstem Respekt den Hut, aber da gehört schon einiges dazu.


    Sein völliges Untertauchen selbst nach dem Krieg verstehe ich allerdings nicht wirklich. War es Angst? Angst davor, harte Wahrheiten zu erfahren, Todesnachrichten zu hören oder, vielleicht noch schlimmer, den Überlebenden ins Gesicht sehen zu müssen?


    Und kann er sich an Franz tatsächlich nicht mehr erinnern oder tut er nur so? Kann man aus Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen heraus dermaßen verdrängen? Dass Franz ihm kein bisschen mehr böse zu sein scheint, hat mich erstaunt, aber offenbar hat er sowieso damit gerechnet, früher oder später im KZ zu landen :entsetzt:


    Das mit Erics Romanversuch ist auch interessant. Schade, dass er das nicht weiterverfolgt hat. Vielleicht hätte es ihm beim Verarbeiten geholfen, egal in welcher Sprache.


    Noras Selbstzerfleischung ging mir ans Herz. Sie hat sich meines Erachtens nichts vorzuwerfen. Wie hätte sie Eric denn unabhängig und stark machen sollen, wenn er alles, was ihn wirklich bewegt, so vor ihr verborgen gehalten hat?


    Wenn vom West- bzw. Ostsektor, dem Verbot, Waren hin- oder herzubringen, und alledem die Rede ist, merke ich erst, wie weit das schon für mich weg ist, obwohl ich das geteilte Deutschland als Kind noch erlebt habe und wir manchmal Päckchen in die "Ostzone" schickten. Was für ein kompletter Irrsinn das war! Und auch, dass man in Deutschland angesichts des beginnenden Kalten Krieges damals Angst haben musste, dass gleich der nächste Krieg vor der Tür steht, war mir gar nicht so richtig präsent, obwohl ich die Geschichte natürlich grundsätzlich kenne. Wir wissen ja nur im Rückblick, dass der Krieg kalt blieb.


    Die Begegnung mit der Frau, die Tante Hilde verraten hat, ließ mir kalte Schauer über den Rücken laufen. Wie viele solcher Gestalten mag es gegeben haben!


    Mich interessiert ja brennend, was da 1922 geschehen ist, nachdem sowohl Else als auch Herr Rosen nur herumgedruckst haben. (Aber eine Frage hat sich mir in der Szene bei Rosen gestellt: gab es 1922 schon eine starke Inflation? :gruebel: )

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Sehr, sehr realistisch, finde ich, denn genau so habe ich es Ende der 1980er/ Anfang der 1990er in Lettland, der Heimat meiner Mutter erlebt: Eine ganze Reihe von Beziehungen gingen quasi in Tagen aus unterschiedlichen Gründen in Brüche: Exilletten beiderlei Geschlechts verließen ihre Partner mit demselben Hintergrund, um sich an einen in der Heimat selbst aufgewachsenen Partner zu binden. In Lettland aufgewachsene Letten trennten sich ebenso von Partnern mit demselben Hintergrund, um sich an Exilletten oder auch an Westeuropäer oder Amerikaner zu binden und so das Land verlassen zu können. Letten, die mit Ausländern unterschiedlicher Art verheiratet gewesen waren, trennten sich, um einen Landsmann/ eine Frau gleicher Nationalität in die Arme zu schließen.


    Danke für diese Erweiterung der Perspektive! Weißt Du, was aus diesen "Folgebeziehungen" geworden ist und ob sie gehalten haben?

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Mich hat dieser Teil fast genauso überrollt wie Eric. Kein Wunder, denn ich als Leser, scheine genauso wenig von seiner Vergangenheit zu wissen, wie er selbst.
    Psychologisch sehr interessant, dass man anscheinend so sehr in der Lage ist zu verdrängen. Und dabei ist Eric augenscheinlich ja noch nicht mal das Schlimmste passiert. Wenn man da an die anderen Protagonisten (Käthe, Franz, Tante Hilde, ...) denkt. Das ist jetzt bestimmt voreingenommen, aber das macht mir Eric nicht sympathischer.
    Mutig finde ich Nora, die sehendes Auge in das eventuelle Ende ihrer Ehe gegangen ist. Sie muss Eric sehr lieben, um so ein Opfer zu bringen. Ansonsten hätte sie ihn ja auch davon abhalten können zurück nach Berlin zu fahren.
    Sehr beeindruckend finde ich die unterschiedlichen Verarbeitungen des Krieges bei den einzelnen Personen. Da ist der Roman ein Paradebeispiel WIE unterschiedlich die Menschheit ist. Und wie verzeihend manche Menschen sein können. Wirklich sehr beeindruckend.

  • TochterAlice:
    Wie spannend, dass du ähnliche Strukturen schon einmal erlebt hast und damit die Fiktion in die Realität geholt hast.

  • Danke für diese Erweiterung der Perspektive! Weißt Du, was aus diesen "Folgebeziehungen" geworden ist und ob sie gehalten haben?


    Haha, es war so unterschiedlich, wie das Leben eben so ist: einige waren extrem kurzlebig, andere halten noch bis heute...


  • Sein völliges Untertauchen selbst nach dem Krieg verstehe ich allerdings nicht wirklich. War es Angst? Angst davor, harte Wahrheiten zu erfahren, Todesnachrichten zu hören oder, vielleicht noch schlimmer, den Überlebenden ins Gesicht sehen zu müssen?


    So habe ich es verstanden. Angst vor schlimmen Nachrichten, Angst davor, als Feigling dazustehen, Angst vor allem auch davor, war er mit seiner Flucht womöglich für andere ausgelöst haben könnte...
    Ich denke, dass Eric versucht hat, sich in die eigene Tasche zu lügen. Als wollte er mit seiner perfekt gespielten englischen Rolle vor allem sich selbst überzeugen.


    Zitat

    Und kann er sich an Franz tatsächlich nicht mehr erinnern oder tut er nur so? Kann man aus Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen heraus dermaßen verdrängen? Dass Franz ihm kein bisschen mehr böse zu sein scheint, hat mich erstaunt, aber offenbar hat er sowieso damit gerechnet, früher oder später im KZ zu landen :entsetzt:


    Doch, ich denke durchaus, dass Eric vor lauter Angst, Schuldgefühlen und Selbstbetrug Teile der damaligen Ereignisse vergessen hat. Oder besser gesagt vergraben. Verbuddelt unter Selbstekel und Depressionen.


    Zitat

    Das mit Erics Romanversuch ist auch interessant. Schade, dass er das nicht weiterverfolgt hat. Vielleicht hätte es ihm beim Verarbeiten geholfen, egal in welcher Sprache.


    Zugegebenermaßen hat mich überrascht, dass Erics Widerstand aus einem gekonnten Roman bestand! Zum einen, weil ich ihn mir bislang - warum auch immer - nicht als Literaten vorstellen konnte, zum anderen, weil ich von solch einer Geschichte noch nie gehört habe.
    Alleine die Tatsache, dass der Roman einige Zeit in den Schaufenstern der Buchhandlungen lag, bevor die Nazis erkannt haben, dass es ein Werk ist, dass sich entlarvend mit ihnen beschäftigt. :breitgrins:


    Zitat

    Noras Selbstzerfleischung ging mir ans Herz. Sie hat sich meines Erachtens nichts vorzuwerfen. Wie hätte sie Eric denn unabhängig und stark machen sollen, wenn er alles, was ihn wirklich bewegt, so vor ihr verborgen gehalten hat?


    Aus dieser patenten Frau wird plötzlich ein Wrack, das sich selbst noch nach unten drückt. Aber klar, es muss schwierig sein, den eigenen Mann so verändert und noch traumatisierter zu sehen...


    Zitat

    Die Begegnung mit der Frau, die Tante Hilde verraten hat, ließ mir kalte Schauer über den Rücken laufen. Wie viele solcher Gestalten mag es gegeben haben!


    Was für eine scheußliche Person! Und ich muss mich gestehen, dass mich Eric wirklich überrascht hat. Diese Konfrontation mit einer Schuldigen... Respekt!
    Und wenn sie nur eine Nacht nicht schlafen kann, ist das keine annähernde Sühne - aber es ist immerhin etwas.


    Zitat

    Mich interessiert ja brennend, was da 1922 geschehen ist, nachdem sowohl Else als auch Herr Rosen nur herumgedruckst haben. (Aber eine Frage hat sich mir in der Szene bei Rosen gestellt: gab es 1922 schon eine starke Inflation? :gruebel: )


    Es gab im Grunde fast direkt nach dem Ersten Weltkrieg eine Inflation - ausgelöst auch durch die Reparationszahlungen, die die Versailler Verträge forderten, und einem Konjunktureinbruch Anfang der 20er, der nicht nur Deutschland betraf.
    Die Hyperinflation setzte dann allerdings erst ein Jahr später ein.
    Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass die Zwanziger längst nicht für weite Teile der Bevölkerung "golden" waren...

    Liebe Grüße

    Tabea


  • Ich denke, dass Eric versucht hat, sich in die eigene Tasche zu lügen. Als wollte er mit seiner perfekt gespielten englischen Rolle vor allem sich selbst überzeugen.


    Ich glaube, damit hast Du voll ins Schwarze getroffen.


    Zitat

    Aus dieser patenten Frau wird plötzlich ein Wrack, das sich selbst noch nach unten drückt. Aber klar, es muss schwierig sein, den eigenen Mann so verändert und noch traumatisierter zu sehen...


    Ich fand das schlimm, wie sie sich selbst die Schuld an allem gibt. Woher hätte sie das denn alles wissen sollen?


    Zitat

    Und wenn sie nur eine Nacht nicht schlafen kann, ist das keine annähernde Sühne - aber es ist immerhin etwas.


    Das habe ich mir auch gedacht. Immerhin besser als nichts :traurig:


    Zitat

    Es gab im Grunde fast direkt nach dem Ersten Weltkrieg eine Inflation - ausgelöst auch durch die Reparationszahlungen, die die Versailler Verträge forderten, und einem Konjunktureinbruch Anfang der 20er, der nicht nur Deutschland betraf.
    Die Hyperinflation setzte dann allerdings erst ein Jahr später ein.


    Danke Dir! So detailliert hatte ich das nicht mehr im Kopf.


    Zitat

    Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass die Zwanziger längst nicht für weite Teile der Bevölkerung "golden" waren...


    Ich glaube sogar, dass die bis auf einige wenige Ausnahmen gar nicht so golden waren und diesen Anstrich eher im Rückblick bekommen haben. So ein bisschen war die damalige Partykultur, wenn man sie so nennen will, ein Tanz auf dem Vulkan und der Versuch, sich von der Realität abzulenken. Erich Kästner hat das in "Fabian" sehr schön dargestellt.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich fand das schlimm, wie sie sich selbst die Schuld an allem gibt. Woher hätte sie das denn alles wissen sollen?


    Genau! Wir haben heutzutage den "Vorteil", dass wir annähernd wissen, wie traumarisiert die Menschen damals sein konnten - weil wir wissen, zu was andere Menschen fähig waren. Aber woher sollte Nora damals das ganze Ausmaß auch nur ahnen?


    Zitat

    Ich glaube sogar, dass die bis auf einige wenige Ausnahmen gar nicht so golden waren und diesen Anstrich eher im Rückblick bekommen haben. So ein bisschen war die damalige Partykultur, wenn man sie so nennen will, ein Tanz auf dem Vulkan und der Versuch, sich von der Realität abzulenken. Erich Kästner hat das in "Fabian" sehr schön dargestellt.


    Viele Intellektuelle, die wir mit exzessiven Feiereien verbinden, waren eben privilegiert oder hatten Mäzene. Oder hatten gar nichts zu verlieren...
    "Fabian", stimmt! Gut, dass Du dieses Buch erwähnst, denn das will ich seit Ewigkeiten mal wieder lesen. :daumen:

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Eigentlich ist die englische Bezeichnung "Roaring Twenties" viel besser als "Goldene Zwanziger".

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen