Mithu Sanyal - Vergewaltigung

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    Titel: Vergewaltigung. Aspekte eine Verbrechens
    Autorin: Dr. Mithu Sanyal
    Verlag: Edition Nautilus
    ISBN: 978-3-96054-023-6


    [Trigger Warnung: Diese Rezension bespricht ein Buch, dessen Titel keinen Zweifel über den Inhalt lässt. Es wird explizit auf diese Inhalte eingegangen und besprochen. Aspekte des Buches bzw. des Textes können triggernd auf Betroffene wirken.]


    Ich habe für Vergewaltigung ewig gebraucht, obwohl es ein Rezensionsexemplar ist. Ich habe noch nie ein Buch zur Thematik gelesen, dass so offen, direkt und frech, dabei aber gleichzeitig so rücksichtsvoll, ernst und sachlich mit dem Thema Vergewaltigung umgeht. Trotzdem musste ich das Bucher immer wieder pausieren. Der Inhalt geht nahe. Gerade deswegen ist es wichtig, dieses Thema zu diskutieren und es aus der Tabuzone des öffentlichen Diskurses zu holen. Sanyal erzählte auf der Frankfurter Buchmesse, dass es schwer war, einen Verleger zu finden – „Ein Buch über Vergewaltigung ist notgedrungen weniger gut gelaunt, das liegt an der Natur der Sache“ (1) – und ehrlich gesagt wundert es mich wenig, dass Edition Nautilus sich dazu bereit erklärt hat. Ich bin sehr froh darüber.


    Vergewaltigung ist ein Thema, das von gesellschaftlichen Vorstellungen, Mythen und Narrativen geprägt ist, und die Veränderung dessen und eine Erweiterung der Sichtweisen gehen nur langsam voran.
    Sanyal erklärt u.a., wie das Konzept der Vergewaltigung erstmal nur auf weiße, „zivilisierte“ [sic] Frauen zutreffen konnte (was natürlich völliger Quatsch ist, was Sanyal auch im Buch aufgreift)(2), und auch dann bei weitem nicht auf alle. Die Vorstellungen und Mythen von Vergewaltigung, die bereits seit Jahrhunderten und Jahrtausenden bestehen, sind heute noch fast genauso unverändert wie in den 1970ern, als Vergewaltigung von den Frauenrechtsbewegungen aufgegriffen wurde. Beispiele gefällig? Bitte schön:
    „Vergewaltigung ist Sex; Frauen sagen nein, wenn sie ja sagen; Opfer sind schöne junge Frauen, deren Attraktivität einen Mann so erregt, dass er sich nicht mehr beherrschen kann; Alternativ sind Opfer Flittchen, die Männer bewusst provozieren und es nicht besser verdienen; So oder so trägt das Opfer (Mit-)Schuld an der Vergewaltigung, weil es den Täter durch seinen Minirock oder aufreizendes Verhalten eingeladen hat; Denn Frauen wünschen sich im Grunde ihres Herzens, vergewaltigt zu werden; Eine Frau, die sich wehrt, kann nicht vergewaltigt werden (Gleichzeitig allerdings paradoxerweise: Keine Frau kann sich erfolgreich gegen eine Vergewaltigung wehren, also kann sie sie genauso gut genießen)…“ (3)
    Mehr als einen Punkt habe ich so oder in ähnlicher Form gehört, in Medien gelesen oder auf andere Art mitbekommen und wahrgenommen. Und bei all diesen Beispielen fehlt ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung: Männer. Dass auch Männer Opfer von sexualisierter Gewalt bis hin zu Vergewaltigung werden können, wird nach wie vor nur schwer anerkannt. Hier spielen nicht nur gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlechterrollen eine Rolle (der Mann ist stark und aktiv, die Frau schwach und passiv), sondern auch die Unwissenheit darüber, dass der Körper in einen Erregungszustand geraten kann, der keine psychische Entsprechung hat. Erektionen bei Männern sowie Orgasmen bei Vergewaltigungsopfern beiderlei Geschlechts sind kein Zeichen für Zustimmung, sondern schlicht körperliche Reaktionen auf entsprechende Reize. Das hat zur Folge, dass Menschen, denen dies widerfahren ist, sogar anzweifeln, vergewaltigt worden zu sein. (4)


    Im Diskurs darüber, wer Opfer/Survivor werden kann, wie man diese wahrnimmt und wie man sie unterstützen und stärken kann hat Sanyal auf der Frankfurter Buchmesse 2016 auf dem Blauen Sofa etwas sehr wichtiges gesagt. In der gesellschaftlichen Vorstellung muss ein Vergewaltigungsopfer bis ans Ende des Lebens schwer traumatisiert sein und bestimmte Verhaltensweisen entwickeln (Angst vor Männern, Beziehungsunfähigkeit, gestörte Sexualität, etc.). Sanyal meinte nun, dass man Opfern die Möglichkeit zusprechen müsse, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Das heißt, jedes Opfer reagiert anders und jede Reaktion und Form der Verarbeitung ist okay.


    Sanyal will keine Kulturgeschichte schreiben, sondern einen Versuch machen, „Narrative nachzuzeichnen und Verbindungslinien sichtbar zu machen.“ (5)
    Was bei der Lektüre des Buches besonders interessant ist: in der Geschichte waren es hauptsächlich, wenn nicht bis zum Beginn der Frauenbewegungen ausschließlich Männer, die weibliche Sexualität und Vergewaltigung beschrieben haben. Die Vorstellungen, die z.B. Freud (Die versteckte Vagina wird durch Vergewaltigung erotisiert (6); Insgeheim ersehnen sich Frauen die Vergewaltigung (7)), Aristoteles (Frauen können ihr Menstruationsblut nicht kochen um damit Samen herzustellen und seien deswegen nicht so heißblütig wie Männer (8)) und Augustin (Wenn Frauen die Vergewaltigung im Nachhinein auch nur ein bisschen gut fanden, waren sie unkeuch/ehebrecherisch und damit sündig (9)) sind derart hanebüchen, ich wusste oft nicht, ob ich lachen oder mir die Haare raufen soll. Meistens war es eine Mischung aus beidem.


    Vergewaltigung ist meiner Meinung nach nicht nur das wichtigste Buch, das dieses Jahr erschienen ist, es ist überhaupt eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre. Wer sich mit Feminismus, Sexismus und eben auch mit Vergewaltigung und Rape Culture auseinandersetzen möchte, kommt an Mithu Sanyal nicht vorbei!
    ---
    (1) S. 11.
    (2) vgl. S. 111.
    (3) S. 39.
    (4) Vgl. S. 126.
    (5)S. 8.
    (6) Vgl. S. 26.
    (7) Vgl. S. 28.
    (8) Vgl. S. 20.
    (9) Vgl. S. 61f.

  • Ich hab gerade nur mal kurz durch die Fach- und Sachbücher Reviews hier im Forum gescrollt und als ich den Titel "Vergewaltigung" sah war ich echt überrascht, denn ein Buch dieser Art über dieses Thema kam mir irgendwie komisch vor.


    Ich finde deine Rezension echt gelungen.
    Ich weiß gar nicht, ob ich mir das Buch selbst antun könnte. Auch wenn ich persönlich nicht vom Thema betroffen bin, geht es mir doch sehr nahe. Ich finde Vergewaltigungen sind eine der schlimmsten Dinge, die man einem Menschen antun kann und mir geht es immer ganz schnell mies, wenn ich darüber lese oder darüber höre. Trotzdem hat mich deine Rezension neugierig gemacht und du hast sicherlich recht, das ist ein wichtiges Thema, das offener besprochen werden muss.
    Wenn ich mich dafür bereit fühle, werde ich das Buch wahrscheinlich auch mal lesen.



    Mit freundlichen Grüßen,
    Matthias.

    "Nun, ich pflege Fragen dadurch zu lösen, dass ich mich von ihnen auffressen lasse." Franz Kafka, Brief an Max Brod (1921)


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  • Hallo Matthias,


    danke für die Blumen.
    Mein bester Freund liest es gerade und meinte, er müsse es auch immer mal wieder zur Seite legen, weil es ihm sehr nahe geht. Da sieht man mal, dass es eben nicht nur Frauen betrifft, interessiert oder nahe geht, sondern auch Männern.


    Ich wünsche dir, dass du es irgendwann lesen kannst, denn es ist wirklich toll.
    Cheerio
    Mareike