Birgit Kahle - Schau nicht hin, schau nur geradeaus

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    REZENSION – Sprechen wir von „Flüchtlingen“, denken wir an Zuflucht Suchende aus nordafrikanischen Kriegsgebieten. Kaum jemand denkt heute an die durch Kriegs-, Gewalt- und Fluchterfahrungen traumatisierten Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Erst anlässlich des 75. Jahrestages der deutschen Kapitulation nahmen sich Autoren wie Birgit Kahle (60) wieder dieser Vergessenen an. In ihrem biografischen Roman „Schau nicht hin, schau nur geradeaus“ schildert sie eindrucksvoll, authentisch und bewegend das Schicksal ihrer Mutter Gerlinde und ihrer Großmutter Elisabeth zwischen 1944 und 1946.

    Jedes Einzelschicksal unterscheidet sich vom anderen. Sicher hat es viele deutsche Flüchtlinge härter getroffen, als Elisabeth und ihre drei Kindern in dem nahe Frankfurt (Oder) auf der Ostseite des Flusses gelegenen Matschdorf, zumal Ehemann Bernhard bald nach Kriegsschluss unverletzt aus britischer Gefangenschaft zurückkehrte und seiner Familie schon 1946 in Schleswig-Holstein eine neue Heimat bieten konnte. „Fast möchte man sich schämen, dass nun der eigene Mann aus dem Krieg zurück ist“, macht sich Elisabeth Vorwürfe angesichts des in den zwei Jahren zuvor um sich herum erlebten Leides.

    Doch unabhängig vom jeweils erlittenen Schicksals gilt für alle: Heimat ist prägend und einzigartig, und der Schmerz ihres Verlustes ist für alle gleich. So fühlt sich die fünfjährige Elisabeth im Sommer 1944 im heimatlichen Matschdorf noch „wie in einer Muschel“ und hofft im April 1945 nach der Flucht auf den Hof ihrer Oma Sobbels auf der westlichen Oder-Seite: „Wenn der Krieg aus ist, können wir nach Hause!“ Doch das Vorrücken sowjetischer Truppen zwingt die Familie weiter Richtung Westen. Kaum ist jedoch der Waffenstillstand verkündet, gehen sie wieder zurück auf diesen Hof in Wiesenau, wo die kleine Gerlinde Schreckliches erleben muss. Angehörige und Dorfbewohner sterben durch Hunger, Typhus und Ruhr. Auch die Hoffnung auf eine Rückkehr ins heimatliche Matschdorf ist dahin. Matschdorf heißt jetzt Maczków. So bleibt schließlich nur die Umsiedlung nach Schleswig-Holstein, wo der Vater eine Beamtenstelle als Lehrer bekommen hat. Gerlinde ist sicher: „So schön wie Matschdorf wird es aber niemals sein.“

    Birgit Kahle hat die in zahlreichen Gesprächen mit ihrer heute 80-jährigen Mutter gewonnenen Erinnerungssplitter in einer tagebuchartigen Romanbiografie geordnet. Erzählt aus Sicht und in der Sprache der damals erst fünfjährigen Gerlinde, ergänzt durch Berichte von deren Mutter Elisabeth, wirken die Schilderungen authentisch und lebendig. Auffällig ist, wie die Fünfjährige das erlebte Grauen mit kindlichem Unverständnis und gewisser Sorglosigkeit unbewusst und unverarbeitet aufnimmt – Erlebnisse und Erfahrungen, die ihr späteres Leben als Erwachsene prägen werden. Doch Rücksichtnahme und Trost erfahren diese Kriegskinder in den Jahren des Wiederaufbaues und des baldigen Wirtschaftswunders nicht: „Nach dem Krieg sollten die Überlebenden so tun, als wäre nichts geschehen“, kommentiert die Autorin im Epilog. Zerstörung der Kindheit, Sexualisierung durch den Feind, Verlust- und Gewalterfahrungen werden ignoriert.

    Wie sich die erlittenen Traumata aus Kriegs-, Gewalt- und Fluchterfahrungen im späteren Leben ihrer Mutter und Großmutter ausgewirkt haben, in deren Verhalten also zu spüren waren, hätte Birgit Kahle noch ausführlicher darstellen können. Doch auch so bleibt „Schau nicht hin, schau nur geradeaus“ ein lesenswerter Bericht zweier Augenzeugen, der auch heutigen Jugendlichen zur Lektüre empfohlen werden sollte, um das Leid von Kriegsflüchtlingen besser nachempfinden zu können.