Franz Kafka - Amerika

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  • Hallo Bettina,


    sandhofer hat ja schon sehr schöne Antworten auf viele Deiner Fragen gegeben. Ich kann mich vor allem seiner Bemerkung anschließen, dass es nicht notwendig sein sollte, ein gutes Buch nur mit Sekundärliteratur zu verstehen. Es gibt da Ausnahmen und man müsste sich darüber verständigen, was "Sekundärliteratur" genau umfasst; es gibt Texte, die verstehe ich aufgrund meines mangelhaften historischen Durchblicks kaum oder nur unzulänglich ohne einen Materialienband von Reclam; das sind aber keine Interpretationshilfen, wenn ich die zurate ziehen muss, verdirbt mir das noch kein Buch.


    Kafkas Welt ist offensichtlich inspiriert von Kakanien, aber man kann ihn auch problemlos davon unabhängig lesen (habe ich ja oben versucht zu zeigen). Ich teile sandhofers Einschätzung in diesem Punkt nicht, dass Kafka heute vor allem als Pubertätsschriftsteller gesehen würde (sandhofer! Kafka Hesse an die Seite zu stellen jagt mir mindestens ebensolche Schauer über den Rücken, wie ihn Irving an die Seite zu stellen; was ist denn in Euch gefahren? :entsetzt: ;-))


    Und noch einmal Bettina: vom Leser darf ich alles erwarten, das ist eine Einstellungsfrage. Ich darf mich als Leser natürlich einer bestimmten Mühe verweigern, aber dann darf ich eigentlich auch einen Text nicht aburteilen. Alfa betont ja, dass sie kein Qualitätsurteil abgeben wolle. Das kann ich zur Kenntnis nehmen, aber irgendwie finde ich das Auseinanderfieseln von "Qualitätsurteil" und "subjektivem Leseeindruck" immer etwas halbseiden und ich frage mich so ganz für mich, ob da nicht etwas konzediert wird, um der eigenen Begründungspflicht ausweichen zu können ;-).


    Ich finde diese Diskussion auch nicht off topic (wie vieles, was hier immer so vorschnell abgetrennt wird). Wir kommen ja auch nicht umsonst immer wieder im Zusammenhang mit Kafka auf solche Fragen. Da scheint es doch einen Zusammenhang zu geben. ;)


    Herzlich: Bartlebooth.

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()

  • Hallo zusammen!


    sandhofer! Kafka Hesse an die Seite zu stellen jagt mir mindestens ebensolche Schauer über den Rücken, wie ihn Irving an die Seite zu stellen; was ist denn in Euch gefahren? :entsetzt: ;)


    Ich gebe ja zu, dass damit Kafka Unrecht getan wird. Dennoch: dieses fatale Verhältnis von Kafkas Protagonisten zur Autorität wird m.M.n. zusehends von der Pubertät absorbiert, hier in Parallele zur Hesse-Rezeption. Der Rest (so ist z.B. Franz sprachlich dem Hermann weit überlegen!) geht darin unter. Interessanterweise hat ja der Existenzialismus mit Kafka noch sehr viel anfangen können.


    (Auch Klopstock hat sprachlich Exzellentes geschrieben. Da aber seine christliche Einstellung heute auch bei Pubertierenden keine verwandte Saite zum Schwingen bringt, ist er, wenn wir von zwei kleinen Reclam-Broschüren absehen, aus den Buchhändlerregalen verschwunden.)


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • Dennoch: dieses fatale Verhältnis von Kafkas Protagonisten zur Autorität wird m.M.n. zusehends von der Pubertät absorbiert, hier in Parallele zur Hesse-Rezeption.


    Naja, war das jemals anders? Das Verhältnis zu Autoritäten ist natürlich ein großes Thema der Pubertät. Deshlab wird m.E. noch nicht jeder Text, in dem es eine zentrale Stellung einnimmt zu einem Pubertätstext und auch seine Rezeption wird nicht vordringlich zu einer solchen (denk etwa an "Michael Kohlhaas" - Pubertätstext?).
    Nein, sandhofer, das malst Du glücklicherweise den Teufel etwas an die Wand. ;)


    Herzlich: Bartlebooth.

  • Dieses Verhalten zeigt m.M.n. jedes Buch, das überhaupt einen Sinn hat. Nicht jedem Leser aber ergibt sich so der gleiche Sinn.


    Da sage ich sofort ja und nicke beifällig.


    Gibt es nicht. In dem Moment, wo ich die Biografie des Autors oder Sekundärliteratur kennen muss, ist das Buch verloren. Biografie des Autors und Sekundärliteratur können dem Leser zusätzliche Aspekte eröffnen, das ja.


    Eigentlich bin ich ja auch der Meinung, dass ein Buch für sich selber stehen muss. Sonst bringt es nichts. Aber ich habe mir gerade die gesamte Diskussion nochmals am Stück durchgelesen und der Eindruck hängt immer noch zwischen den Augenbrauen: Die, die mit Kafka besser klar kommen, haben alle mehr getan als nur über das Buch nachzudenken:
    Jaqui wurde von der Professorin mit Hintergrundinfos gefüttert, sie empfiehlt Zusatzlektüre sogar, um dem Werk beizukommen. Klassikfreund zitiert eine Interpretation. Bartlebooth kennt nicht nur ein Werk von Kafka und von ihm glaube ich, dass er ebenfalls Ergänzungen zum Werk Kafkas gelesen hat:


    Ich würde behaupten, dass "Amerika" stellenweise ein sehr komisches Buch ist, für Kafkas Verhältnisse auf jeden Fall :breitgrins:.
    ... Seine Geschichten sind vielmehr groß angelegte Allegorien, in denen es meist um ganz große Themen wie Gerechtigkeit, individuelles Handeln, Politik oder gesellschaftlichen Zusammenhalt geht.


    Mir scheint es also ganz natürlich, bei den Diskrepanzen auf der Kafka-Strecke, dass die Urteile reichlich deutlich in unterschiedliche Richtungen weisen.


    Ich werde das Buch lesen und ich wette ohnehin, dass ich das Buch erstmal verdauen muss, bevor ich drüber schreiben kann. Dennoch wird mein Fazit bei diesem angekündigten Futter acht Tage nach Beenden anders aussehen als nach acht Wochen oder acht Monaten - oder gar nach acht Jahren.


    @Bartlebooth und sandhofer:
    Kakanien!! Oha, da habt Ihr mir wieder Hausaufgaben gegeben :breitgrins:

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  • Hallo Bettina,


    Kakanien ist die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie (K. u. K.), bekannt für ihren unvergleichlichen bürokratischen Apparat. "Kakanien" heißt sie im "Mann ohne Eigenschaften"


    Herzlich: Bartlebooth


  • Eigentlich bin ich ja auch der Meinung, dass ein Buch für sich selber stehen muss. Sonst bringt es nichts. Aber ich habe mir gerade die gesamte Diskussion nochmals am Stück durchgelesen und der Eindruck hängt immer noch zwischen den Augenbrauen: Die, die mit Kafka besser klar kommen, haben alle mehr getan als nur über das Buch nachzudenken:
    Jaqui wurde von der Professorin mit Hintergrundinfos gefüttert, sie empfiehlt Zusatzlektüre sogar, um dem Werk beizukommen. Klassikfreund zitiert eine Interpretation. Bartlebooth kennt nicht nur ein Werk von Kafka und von ihm glaube ich, dass er ebenfalls Ergänzungen zum Werk Kafkas gelesen hat:


    Hallo,


    die Interpretation habe ich ja erst (zufällig) gestern gelesen. Nein, für den Text Amerika benötigt man nicht unbedingt Lektürehilfen. Die einzelnen Kapitel wirken auch ohne Hilfe "gewaltig". Der Zusammenhang der Kapitel erweist sich da schon als schwieriger und man kann das dann auch als etwas langatmig empfinden. Bei Amerika könnte aber jedes Kapitel für sich veröffentlicht werden und man hätte immer noch viel "Inhalt".


    Es ist aber dennoch hilfreich, wenn man sich schon etwas in (klassischer) Literatur auskennt und so den Text besser einordnen kann. Aber wie gesagt: ich bin ein Self-Made-Klassik-Leser, keineswegs der mit Hintergrund ausgestattete Germanist - und mich beeindruckt die Wucht der Bilder. Schon in meinen jungen Jahren haben mich einige seiner Kurzgeschichten sehr gefesselt.


    Ich bemühe noch mal meinen Vergleich mit moderner Kunst. Es gab mal eine Zeit, in der ich blaumonochrome Bilder mit Kopfschütteln abgelehnt habe und mich nicht weiter darauf einließ. Irgendwann in meinem späteren Leben (also mit mehr Lebenserfahrung) habe ich diese Bilder in einer bestimmten Lebenssituation wieder aufgesucht und sie haben mir etwas gesagt. Ich denke, bei Literatur ist das ähnlich. Und es gibt natürlich einfach Lektüre, die man als zu schwierig empfindet. Für mich gehört Ulysses dazu.


    Grüße,
    Thomas

  • Danke, Bartlebooth, jetzt muss ich gar nicht mehr nachschlagen :smile:


    Ich hatte erst an eine Utopie gedacht...

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  • [quote author=Bartlebooth]
    Wohingegen ich immer noch gern wüsste, ob Du die Duldsamkeit nicht weniger als menschliche Eigenschaft denn als poetisches Programm lesen könntest (Roßmann ist ja nicht Dein bester Freund, dem Du in den Hintern treten musst, sondern eine literarische Figur). Macht das für Dich wirklich so gar keinen Unterschied?[/quote]


    Es macht für mich in der Tat keinen grossen Unterschied, und da liegt wahrscheinlich auch der Hund begraben: Es gibt Charaktereigenschaften, die ich (im richtigen Leben mit richtigen Leuten) nicht leiden kann. Dazu gehören Leute, die eigentlich intelligent sind, aber nicht für sich selber einstehen können und dann darunter leiden und womöglich noch in Selbstmitleid ertrinken. Karl Rossmann ist ein Musterbeispiel dafür. Und wenn ich dann einen Roman lese, in dem ein solcher Vollpfosten die Hauptrolle spielt, dann kann ich mir nicht einfach sagen "Das ist ja nur ein Roman, sieh es als Charakterstudie oder -beschreibung". Dazu muss ich keine Bücher lesen, solche Deppen kann ich jeden Tag in meinem Umfeld studieren. Kafka erzählt mir mit der Beschreibung Rossmanns nichts Neues - insofern habe ich auch auf literarischer Ebene nichts (oder nur wenig) von dem Buch.
    Und es hört ja nicht auf mit Rossmann: Die anderen Charaktere sind fast durchgängig Hassfiguren: Delamarche und sein Spezi Robinson sind Taugenichtse, die Opernsängerin ist eine durchgeknallte Zicke und der Heizer, der ganz am Anfang des Buches vorkommt, ist derselbe Jammersack wie Rossmann. Und dann ist da noch diese Klara, die keinerlei Manieren und wohl auch einen Sprung in der Schüssel hat. Bei einem solchen Ensemble rollen sich mir wirklich die Zehennägel hoch. Apropos Heizer: Rossmann macht am Anfang einen Riesenzirkus um seinen Bruder im Geiste und heult fast, als er von ihm getrennt wird, nur um dann den Rest des Buches kein einziges Mal mehr an ihn zu denken. :rollen:
    Das soll jetzt nicht heissen, dass alle Charaktere in Büchern gefälligst nach meinem Geschmack zu sein haben. Es darf mir unsympathische Charaktere haben und es dürfen auch nicht nachvollziehbare Entscheide getroffen werden. Aber doch nicht von der ersten bis zur letzten Seite. Das verdirbt mir wirklich das Lesevergnügen.


    Deshalb habe ich auch betont, dass das ein sehr subjektives Qualitätsurteil ist - wenn überhaupt. Es eigentlich wirklich nur ein "Geschmacksurteil". Dass ich kein generelles Qualitätsurteil abgebe, liegt daran, dass ich das schlicht nicht kann, weil mir dazu das Fachwissen fehlt. Ich traue mich nicht, einen Klassiker wie Kafka qualitativ zu beurteilen. Sowas mache ich höchstens bei Werken der Trivialliteratur.


    [quote author=Bartlebooth]
    Ob es sich um Absurditäten handelt, das wäre erst noch zu diskutieren.[/quote]


    Dazu müsste man "Absurditäten" erst mal definieren. Und da tue ich mich schon schwer. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen "alles, was nicht glaubhaft ist". Wikipedia sagt dazu:


    Zitat

    Die Absurdität (von lat. absurd: "misstönend") bezeichnet eine Widersinnigkeit bzw. ein außergewöhnliches, abstruses, der Logik widersprechendes oder seltsames Vorkommnis oder Phänomen, dem der menschliche Verstand entgegen seiner Gewohnheit keinen Sinn, keine Bedeutung zu verleihen mag.


    Vielleicht ist absurd auch der schlicht der falsche Begriff für das, was ich meine. Wenn ich absurd sage, meine ich "masslos übertrieben", "nicht realistisch", "nicht nachvollziehbar". Und das alles passt beispielsweise auf die Verhaltensweisen von Rossmann und Konsorten. Es passt auch auf die Beschreibung des Hotels, in dem Rossmann arbeitet. Oder auf das Naturtheater von Oklahoma. Und auf die Beschreibung der Villa, die Rossmann besucht, erst recht.


    Zu guter Letzt zititere ich noch aus einem früheren Posting von dir:
    [quote author=Bartlebooth]Kafka zeigt so etwas ganz Wichtiges: nämlich dass man sich der Beschränkungen, die einem auferlegt sind, gar nicht unbedingt bewusst sein muss. Aus der Außenperspektive scheinen sie Anlass zu sofortigem Aufstand zu geben, von den Figuren werden sie häufig nicht einmal in Frage gestellt oder bemerkt.[/quote]


    Genau damit treibt er mich zur Weissglut. Diese - wie du es ausdrückst - Schafhaftigkeit der Protagonisten geht mir wirklich auf die Nerven. Und ich mag nicht lesen, um mich aufzuregen. Ich lese, um mich zu unterhalten - jetzt nicht im Sinne von "es plätschert so an mir vorbei". Lektüre darf und soll anspruchsvoll sein, zwischendurch meinetwegen auch nervtötend. Aber - wie gesagt - bitte nicht durchgehend. (Da könnte man jetzt eine wunderbare Diskussion über die Erwartungshaltung des Lesers anzetteln... oder gibts da schon einen Thread?)


    Kafka ist offenbar einfach zu viel des Guten für mich - ganz kurz zusammengefasst. :smile: Ich hoffe, dass ich deine Fragen einigermassen beantworten konnte. Sonst einfach nochmal nachfragen...


    Liebe Grüsse


    Alfa Romea, nach bestem Wissen und Gewissen :zwinker:

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hallo!


    Das Verhältnis zu Autoritäten ist natürlich ein großes Thema der Pubertät. Deshlab wird m.E. noch nicht jeder Text, in dem es eine zentrale Stellung einnimmt zu einem Pubertätstext und auch seine Rezeption wird nicht vordringlich zu einer solchen (denk etwa an "Michael Kohlhaas" - Pubertätstext?).


    Einverstanden. Aber im Gegensatz zum Kohlhaas, wo die politische Aussage evident und emminent ist (und die Sprache, nebenbei gesagt, die meisten Jugendlichen von heute weit überfordert), tritt eine allgemeingültige, überindividuelle Aussage bei Kafka hinter den individuellen Problemen, die Kafkas Protagonisten offenbar mit ihren Vätern bzw. Vaterfiguren haben, zurück - jedenfalls auf den ersten Blick. Und das prädestiniert ihn zur Pubertätslektüre. (Nicht von ungefähr hat eine normale, erwachsene Frau mit Kafkas Protagonisten so Mühe ... )



    Nein, sandhofer, das malst Du glücklicherweise den Teufel etwas an die Wand. ;)


    Ich fürchte, nein. Die Entwicklung hat eingesetzt. Aber wir werden es beide nicht mehr erleben, dass Kafka von den Leselisten Erwachsener gestrichen wird, vermute ich mal.


    Und wenn ich dann einen Roman lese, in dem ein solcher Vollpfosten die Hauptrolle spielt, dann kann ich mir nicht einfach sagen "Das ist ja nur ein Roman, sieh es als Charakterstudie oder -beschreibung". Dazu muss ich keine Bücher lesen, solche Deppen kann ich jeden Tag in meinem Umfeld studieren. Kafka erzählt mir mit der Beschreibung Rossmanns nichts Neues - insofern habe ich auch auf literarischer Ebene nichts (oder nur wenig) von dem Buch.


    Was Du in der Literatur hast - und das ist unbestreitbar eine Qualität bei Kafke! - ist diese wunderschöne Präparierung solcher Charaktere. In dieser Schönheit, bereits aufgespiesst und in Glas gegossen, kannst Du das "in real life" nie erleben.


    Es eigentlich wirklich nur ein "Geschmacksurteil".


    Es ist der Aufschrei einer gequälten Leserin. Und als solcher rezeptionsgeschichtlich ... Freud würde sagen "interessant", mein Lieblingsalien "faszinierend" ... :breitgrins:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • die Interpretation habe ich ja erst (zufällig) gestern gelesen.


    Du ruinierst meine in sich schlüssige Argumentationskette :breitgrins:


    Es ist der Aufschrei einer gequälten Leserin.


    Das beschreibt für mich die unterschiedliche Wahrnehmungen von Bartlebooth und Alfa sehr treffend. Wenn man - für seinen Geschmack - nur von einem Unsympath zum nächsten stolpert und mit keinem Protagonisten auch nur annähernd warm wird, dann quält ein Buch doch, oder?
    Dann nutzt es doch auch nichts, wenn man das Ganze als konzentriertes Panoptikum betrachtet. Ein Buch kommt einem doch dann am nächsten, wenn man mit mindestens einem Protagonisten mitdenken, mitfühlen oder mitleben kann bzw. ihn bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann. Dann erreicht uns der Autor doch erst?

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  • Ein Buch kommt einem doch dann am nächsten, wenn man mit mindestens einem Protagonisten mitdenken, mitfühlen oder mitleben kann bzw. ihn bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann. Dann erreicht uns der Autor doch erst?


    Ich glaube, da hast du recht. Deswegen kann ich das Geschmacksurteil von Alfa irgendwie nachvollziehen - auch wenn es nicht mein eigenes ist.


    Gruß, Thomas

  • Hallo zusammen!


    Das beschreibt für mich die unterschiedliche Wahrnehmungen von Bartlebooth und Alfa sehr treffend. Wenn man - für seinen Geschmack - nur von einem Unsympath zum nächsten stolpert und mit keinem Protagonisten auch nur annähernd warm wird, dann quält ein Buch doch, oder?


    Mit den Begriffen "unterschiedliche Wahrnehmung" und "quälen" stimme ich überein. Dass mich ein Buch "quält" ist aber nicht unbedingt ein Zeichen für ein schlechtes Buch. Zola "quält" mich und ich verzichte auf seine Lektüre - im durch Lektüre bestätigten Bewusstsein, dass ich hier einen hochklassigen Autor vernachlässige.


    Ein Buch kommt einem doch dann am nächsten, wenn man mit mindestens einem Protagonisten mitdenken, mitfühlen oder mitleben kann bzw. ihn bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann. Dann erreicht uns der Autor doch erst?


    Ja. Aber was sagt das aus? Ein Beispiel: Als Kind hat mich der Tod Winnetous zu Tränen gerührt. Der Autor hat mich also sicher emotional erreicht. Doch: Was sagt uns das über den Autor Karl May? Und über den Leser Jung-Sandhofer? Weder ist May deswegen nun ein "guter" Autor (ein geschickter: ja. Und für besser als Eco halte ich ihn noch allemal ... ), noch ist Jung-Sandhofer ein "guter" Leser, auf dessen Qualitätsurteile man sich abstützen sollte ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Ich hoffe, ich erwecke nicht den Eindruck, dass ich mit der Wertung "Buch erreicht Leser" auch gleichzeitig die Wertung "gutes Buch" oder "guter Autor" abgebe - und umgekehrt für "Buch erreicht Leser nicht". Denn die persönliche Wertung ist subjektiv und nicht allgemeingültig.
    Daher kann Zola durchaus ein guter Autor sein, selbst für Dich, wenn Du Dich mit ihm herumschlägst. Aber Du verzichtest dann doch lieber. Denn Lesen muss uns auch was bringen und uns irgendwie auch gefallen.


    Über Jung-Sandhofer kann ich vielleicht was sagen, aber über Jetzt-Sandhofer nicht mehr. Du hast Dich verändert und May würdest Du heute ganz sicher anders lesen bzw. anders wahrnehmen.

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  • Hi!


    Du hast Dich verändert und May würdest Du heute ganz sicher anders lesen bzw. anders wahrnehmen.


    Den Konjunktiv kannst Du streichen: Ich lese May auch heute noch. Aber ich erkenne unterdessen Kitsch, wenn ich ihn sehe bzw. lese. Bilde ich mir jedenfalls ein ...


    Und Kafka ist ganz sicher kein Kitsch.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • Ein Buch kommt einem doch dann am nächsten, wenn man mit mindestens einem Protagonisten mitdenken, mitfühlen oder mitleben kann bzw. ihn bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann. Dann erreicht uns der Autor doch erst?


    Puh, das ist eine schwierige Frage, aber so ganz spontan würde ich sagen: jein. "Ja" insofern, als Du dieses schöne "bis zu einem gewissen Grad" dazusetzt und "bis zu einem gewissen Grad" kann ich ganz schön viel nachvollziehen.
    "Nein" insofern, als ich hinter dieser Aussage die "Identifikationsfigur" wittere, deren Notwendigkeit für eine interessante Lektüre ich strikt verneinen würde. Ärger über eine Figur, persönliche Nicht-Nachvollziehbarkeit einer dargestellten Handlungsweise oder Motivation - das ist für mich noch lange kein Grund einen Texte nicht zu mögen.



    (...) tritt eine allgemeingültige, überindividuelle Aussage bei Kafka hinter den individuellen Problemen, die Kafkas Protagonisten offenbar mit ihren Vätern bzw. Vaterfiguren haben, zurück - jedenfalls auf den ersten Blick.


    Das kann ich so nicht unterschreiben. Zwar ist Kafka weniger offen politisch als Kleist, aber dass bei Kafka nun vor allem persönliche (semi-)ödipale Probleme verhandelt werden - ich fürchte Du bist verdorben von einer Germanistik der 70er und 80er Jahre :breitgrins:. Ich trete, wenn ich wieder zu Hause bin (bin ich immer noch nicht) gern in eine Phase der eingehenderen Textbetrachtung ein. Ich finde die Kafka-Episoden immer sehr exemplarisch (nicht umsonst werden aus seinen Romanen immer einzelne Szenen herausgelöst und in Schullesebüchern abgedruckt :breitgrins:).


    @Alfa, Deine Antwort muss ich erst noch einmal lesen, bevor ich antworte.


    Herzlich: Bartlebooth.


  • Puh, das ist eine schwierige Frage, aber so ganz spontan würde ich sagen: jein. "Ja" insofern, als Du dieses schöne "bis zu einem gewissen Grad" dazusetzt und "bis zu einem gewissen Grad" kann ich ganz schön viel nachvollziehen.
    "Nein" insofern, als ich hinter dieser Aussage die "Identifikationsfigur" wittere, deren Notwendigkeit für eine interessante Lektüre ich strikt verneinen würde. Ärger über eine Figur, persönliche Nicht-Nachvollziehbarkeit einer dargestellten Handlungsweise oder Motivation - das ist für mich noch lange kein Grund einen Texte nicht zu mögen.


    Jein, Bartlebooth *g*
    Ich kann über ein Buch zwar denken, dass es gut aufgebaut ist, durchdacht ist, etc, aber irgendeinen Aufhänger brauche ich für mich, um das Buch insgesamt zu mögen. Mir ist es bisher noch nicht passiert, dass ich ein Buch z. B. nur wegen seines Aufbaus oder wegen seiner Botschaft mochte oder weil ich dem Autor allerbestes Handwerk bescheinigen konnte oder weil ich wusste, dass er in einem Genre einen Meilenstein gesetzt hat.


    In diesem Sinne brauche ich in der Regel schon einen Protagonisten als Aufhänger, eine Identifikationsfigur, wenn Du sie so nennen möchtest. Die muss aber nicht so sein, wie ich sie gerne hätte, sie muss auch nicht so reagieren wie ich und Ähnliches. Aber ich muss ihre Geschichte verfolgen wollen. Selbst wenn sie ein Schaf ist (wie Sally von E. von Arnim) oder arrogant (wie Hercule Poirot) oder eigenbrötlerisch (wie Avvocato Scalzi von Nino Filasto) oder eine Säuferin (wie Jeanie bei einem Buch von Brigitte Aubert).


    Kannst Du Dich alleine am schriftstellerischen Handwerk erfreuen? An Satzbau, Wortwahl, Konstruktion der Handlung, Bildhaftigkeit, Allegorien? Mir persönlich reicht es nicht, auch wenn ich solche Details schätze, wenn ich sie als besonders erkenne. Das ist doch wie eine Kommode: Wer kauft sie denn, nur weil sie aus peruanischem Affenbrotbaum ist, gleichzeitig aber schlecht rutschende Schubfächer und eine abgrundtief hässliche Platte hat?
    Naja, die Kommode kann man vielleicht reparieren, aber das Buch kannst Du nicht neu schreiben lassen :zwinker:

    ☞Schreibtisch-Aufräumerin ☞Chief Blog Officer bei Bleisatz ☞Regenbogen-Finderin ☞immer auf dem #Lesesofa


  • Kannst Du Dich alleine am schriftstellerischen Handwerk erfreuen? An Satzbau, Wortwahl, Konstruktion der Handlung, Bildhaftigkeit, Allegorien?


    Ich kann mich daran erfreuen. Genauso wenig wie ich für ein Bild bildhafte Elemente benötige (es kann auch vollkommen abstrakt sein), darf auch ein Buch wenig oder gar keine Handlung (sprich: keine Geschichte im herkömmlichen Sinne) aufweisen.


    Schöne Grüße,
    Thomas

  • Hallo zusammen!


    Es gibt auch eine "negative Identifikation", wenn man mir den Einwurf erlaubt. Gerade die Statements von Alfa_Romea in diesem Thread oder von Claudi und chil z.B. alldahier bezeugen dies prächtigst. Ich halte es übrigens für keinen Zufall, dass es sich um Frauen handelt. Dies und die Tatsache, dass auch Claudi Kafka am Vaterkomplex aufmacht, weisen m.M.n. schon darauf hin, dass diese Interpretation sehr weit vorne auf der Zunge liegen muss.


    Ich kann über ein Buch zwar denken, dass es gut aufgebaut ist, durchdacht ist, etc, aber irgendeinen Aufhänger brauche ich für mich, um das Buch insgesamt zu mögen. Mir ist es bisher noch nicht passiert, dass ich ein Buch z. B. nur wegen seines Aufbaus oder wegen seiner Botschaft mochte oder weil ich dem Autor allerbestes Handwerk bescheinigen konnte oder weil ich wusste, dass er in einem Genre einen Meilenstein gesetzt hat.


    Ein Buch hat keine Botschaft ... aber dies nur nebenbei. Doch, dies alles kann ich. Aber - und das hängt wohl damit zusammen: Ich kann auch Lyrik lesen und geniessen.


    Wer kauft sie denn, nur weil sie aus peruanischem Affenbrotbaum ist, gleichzeitig aber schlecht rutschende Schubfächer und eine abgrundtief hässliche Platte hat?


    So was Ähnliches nannte ich lange Zeit mein eigen ... :breitgrins: :breitgrins: :breitgrins:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • Kannst Du Dich alleine am schriftstellerischen Handwerk erfreuen? An Satzbau, Wortwahl, Konstruktion der Handlung, Bildhaftigkeit, Allegorien?


    Das ist für mich der Grund immer mal wieder in Zettel's Traum oder Finnegans Wake reinzuschauen. :winken:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym, 2001


  • Ich halte es übrigens für keinen Zufall, dass es sich um Frauen handelt.


    Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich will hier keine künstliche Frauen-Männer- Front schaffen, aber gerade in der Diskussion hier zu Kafka (und auch früher zu Thomas Bernhard) fällt auf, dass zumindest die hier vertretenen Frauen nach einem positiv besetzten Protagonisten suchen (trotz der Einschränkungen durch Bettina). Dennoch ist mir letztlich nicht klar, worin die geschlechtsspezifische Begründung für diese unterschiedlichen Ansätze liegen sollte.


    sandhofer: Kannst du dein Statement "kein Zufall" noch näher ausführen?


    Schöne Grüße,
    Thomas