Dieser Faden beinhaltet keine Buchwerbung im eigentlichen Sinne. Ich beteilige mich seit einigen Jahren in zwei anderen Foren an einem mehr oder weniger literarischen Adventskalender, der von den Mitgliedern gestaltet wird. Hier gibt es so etwas in der Art nicht, aber vielleicht hat ja doch jemand Lust auf eine weihnachtliche Geschichte zwischendurch, und weil ich keinen passenderen Themenbereich finde, stelle ich sie hier ein. Suse Wenn das nicht genehm ist, einfach löschen.
Ferne Weihnachten
Als sein Handy mit einem kurzen Ping-Ton eine eingehende Nachricht
signalisierte, ahnte Emilio nichts Böses. Er hatte viele Freunde,
die ihm gelegentlich über WhatsApp schrieben, erst recht in der
letzten Zeit, wo sie sich nicht persönlich treffen konnten. Emilio
hatte sich dafür entschieden, die erste Hälfte seines zehnten
Schuljahres im Ausland zu verbringen, und nach einigem Überlegen war
die Wahl auf Frankreich gefallen. Er hatte sich bei einer
Organisation beworben, die Gastfamilien für Austauschschüler
vermittelte und für ihn eine passende Familie in der Bretagne
gefunden hatte. Seit Ende August lebte er bei den Aubertins, jetzt
hatten gerade die Weihnachtsferien begonnen. Emilio war vor einer
halben Stunde aus der Schule gekommen und hatte eben begonnen, seinen
Rucksack zu packen für die Weihnachtstage, die er zu Hause
verbringen wollte. Er würde am nächsten Morgen, einen Tag vor
Heiligabend, mit dem Zug nach Hause fahren und zum Jahreswechsel
zurückkehren. Viel brauchte er nicht einzupacken, denn er hatte
nicht seinen gesamten Besitz mit nach Frankreich genommen.
Er nahm sein Handy
vom Schreibtisch und sah, dass es keine WhatsApp war, sondern eine
E-Mail. Von der Bahn? Was wollten die denn von ihm?
Emilio las den
kurzen Text, der fast unterging zwischen Links auf Serviceportale und
Apps, und unterdrückte einen Fluch. Streik!
Dass die
Angestellten der französischen Staatsbahn gerade um höhere Löhne
und bessere Arbeitsbedingungen kämpften, hatte er mitbekommen, sich
deswegen aber bisher keine großen Sorgen gemacht. Bis Paris würde
er schon irgendwie kommen, und von dort aus würde er ohnehin den ICE
nehmen, der vom Streik nicht betroffen war.
Das war jedenfalls
der Plan, doch jetzt schrieb ihm die Bahn, dass sie für die nächsten
drei Tage alle Zugverbindungen von und nach Frankreich gecancelt
hatte. Die Verantwortlichen befürchteten, dass der Streik auf
französischer Seite auch bei den ICE für große Verspätungen
sorgen würde, die in der Folge auch in Deutschland Chaos verursachen
würden.
Emilio ließ das
Handy aufs Bett fallen und sich selbst daneben. Und jetzt? So gern er
die Aubertins mochte, so gut er sich mit seinem Gastbruder Léo
verstand und auch mit dessen Schwester Lina – über Weihnachten
wollte er zu Hause sein. Er liebte einfach die ganze Stimmung der
Weihnachtszeit, und bei den Aubertins war davon nichts zu spüren.
Sie feierten kein Weihnachten, warum, das wusste Emilio nicht. Léo
hatte ihm gesagt, dass seine Eltern nichts dafür übrig hatten, ihm
war klar gewesen, dass sein Gast sich wundern musste, wenn überall
die Vorbereitungen fürs Fest in vollem Gange waren, nur bei seinen
Gasteltern nicht. Aber warum seine Eltern Weihnachten nicht mochten,
hatte er Emilio nicht verraten, und Emilio hatte nicht nachgefragt,
weil er glaubte, dass es ihm nicht zustand. Er war ja auch gekommen,
um Land und Leute kennenzulernen, und dass er sich etwas anpasste,
durfte man von ihm erwarten, das wusste er. Aber Weihnachten war eben
auch ein besonderer Fall, deshalb hatte er sich um ein Zugticket nach
Hause gekümmert, als sich herausgestellt hatte, dass die Aubertins
nicht feierten. Immerhin nahmen seine Gastgeber ihm das nicht übel,
und er spürte, dass sie meinten, was sie sagten. Auch wenn sie
selbst das Fest nicht mochten, vergaßen sie nicht, dass es anderen
etwas bedeutete.
***
Emilio brauchte ein
paar Minuten, um die Nachricht halbwegs zu verdauen. Was sollte er
machen? Erst mal zu Hause anrufen, beschloss er, vielleicht hatten
seine Eltern ja eine Idee. Und dann musste er auch seinen Gasteltern
Bescheid sagen, die hatten ihn schließlich nicht eingeplant für die
Feiertage. Hoffentlich gab es keine Schwierigkeiten, wenn er doch
blieb!
Er überlegte kurz
und wählte dann die Nummer seines Vaters. Der musste schon
Feierabend haben, wenn nichts Ungewöhnliches passiert war, seine
Mutter arbeitete dagegen wahrscheinlich noch.
Tatsächlich meldete
sein Vater sich rasch, und seine Stimme klang leicht besorgt. Es war
nicht die Zeit, zu der Emilio normalerweise zu Hause anrief, meist
meldete er sich nach dem Abendessen, sodass sich zu Hause die gesamte
Familie vor der Webcam versammeln konnte. „Ich kann nicht fahren“,
berichtete Emilio. „Hier streiken sie, und die Bahn lässt deshalb
jetzt auch den ICE ausfallen.“ Er las seinem Vater die E-Mail vor.
„Die machen sich’s leicht!“, schloss er bitter. „Und ich
stehe doof da.“ „Das ist wirklich Mist“, stimmte sein Vater ihm
zu. „Auch wenn’s natürlich stimmt, wenn der ICE mit wer weiß
wie viel Verspätung aus Frankreich kommt, dann müssen sie hier auch
wieder eine Lücke finden. Das bringt ihnen mit etwas Pech eine Menge
durcheinander.“ „Und jetzt?“, fragte Emilio. „Abholen könnt
ihr mich nicht, oder?“
Sein Vater
schüttelte den Kopf. Das konnte Emilio nicht sehen, aber er wusste
es. „Schwierig“, sagte sein Vater. „Die Strecke hin und zurück,
da sind wir einen Tag und eine Nacht unterwegs. Da müsste Mama
mitkommen, damit wir uns ablösen können, und das heißt, wir
müssten auch Cara und Eloi mitnehmen.“ Das waren Emilios
Geschwister, Cara war zehn, Eloi sieben. Klar, die konnten nicht so
lange allein zu Hause bleiben, zumal Emilio selbst schätzte, dass
seine Eltern vor der Rückfahrt eine längere Pause brauchen würden,
selbst wenn sie sich gegenseitig ablösten. Da hätten sie direkt
losfahren müssen, um Heiligabend wieder zu Hause zu sein, und Emilio
hatte schon befürchtet, dass das nicht funktionieren würde. Blieb
noch das Flugzeug, aber daran verschwendete er keinen Gedanken. Mal
ganz abgesehen von den Klimafolgen – er war noch nie geflogen, und
seine Eltern würden sich nicht auf ein Experiment einlassen.
Außerdem würde das auch verflixt teuer werden, so kurzfristig
kosteten die Tickets bestimmt ein paar Hundert Euro.
Sein Vater atmete
tief durch. „Ich werde nachher noch mal mit Mama sprechen“,
kündigte er an. „Aber ich fürchte, du musst über Weihnachten in
Frankreich bleiben. Vielleicht können wir das verschieben, dass du
dafür über Silvester ein paar Tage kommst. Ich weiß, das ist nicht
das Gleiche, aber…“ Er schien nicht zu wissen, was er Emilio
Tröstendes sagen konnte, und letztlich gab es wohl auch wirklich
nichts. Weihnachten würde dieses Jahr für Emilio ausfallen, daran
gab es nicht zu rütteln.
***
Mit den Aubertins
gab es zum Glück keine Probleme wegen der unfreiwilligen
Planänderung. Sie würden zu Hause sein, und sie hatten Emilios Bett
auch nicht anderweitig verplant für die Zeit, die er eigentlich zu
Hause hatte verbringen wollen.
Ein Tag blieb Emilio
noch, um sich auf ein Weihnachten einzustellen, das keines war. Aber
ein Vorteil war das nicht, im Gegenteil, er hatte viel zu viel Zeit,
sich über die Eisenbahner zu ärgern, die ihm mit ihrem Streik das
Fest versauten.
Seiner Gastfamilie
gegenüber versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Die
Aubertins konnten nichts für den Streik, der ihm die Heimfahrt über
die Feiertage unmöglich machte, und er konnte nicht erwarten, dass
sie seinetwegen jetzt doch feierten.
Zum Glück hatten
sie Verständnis für seine Situation und taten das Beste, was sie
tun konnten: Sie gingen nicht ständig darauf ein. Dass es ihnen
leidtat, dass er nicht nach Hause fahren konnte, war nicht nur so
dahergesagt, das wusste er, aber was hätte es geholfen, es ihm immer
wieder aufs Neue zu versichern? Emilio war ihnen dankbar, dass sie
nicht versuchten, ihn mit hektisch aus dem Boden gestampften
Unternehmungen abzulenken oder gar seinetwegen doch irgendwas
Weihnachtliches zu machen. Das hätte nicht funktioniert, denn wenn
er wusste, dass sie sich nur für ihn bemühten, Weihnachtsstimmung
aufkommen zu lassen, dann würde er sich nur zu allem Überfluss auch
noch schuldig fühlen.
***
An Heiligabend brach
Emilio am frühen Nachmittag, als überall das Festessen auf den Herd
gesetzt und der Weihnachtsbaum ein letztes Mal geradegerückt wurde,
zu einem Spaziergang auf. Die Aubertins wohnte nicht weit weg von der
Küste, und außerhalb der Stadt hatte er seine Ruhe. Das Wetter war
garstig, kalt, aber nicht kalt genug, um statt des leichten
Nieselregens Schneeflocken fallen zu lassen, und ein scharfer Wind
pfiff über die Weiden. Doch Emilio war nicht aus Zucker, und
irgendwie tat es gut, so die Elemente zu spüren.
Er lief gut zwei
Stunden, nicht sehr schnell, aber es kam doch eine nicht gerade
kleine Strecke zusammen. Kaum jemand begegnete ihm unterwegs, hier
mal jemand mit einem Hund, dort ein Bauer, der natürlich auch an
Weihnachten nach dem Vieh sehen musste, mehr nicht.
Als er sich wieder
dem Haus der Aubertins näherte, war es fast schon dunkel. Viele
Fenster waren festlich erleuchtet, mit Lichterketten und elektrischen
Kerzen in den verschiedensten Formen. Dass bei den Aubertins nur die
normalen Deckenlampen brannten, und die Schreibtischlampe in Léos
Zimmer, fiel dazwischen gar nicht auf, wenn man nicht genau
hinschaute.
Als er noch zwei
Häuser entfernt war, sah Emilio eine schmale Gestalt in der Gasse
vor dem Haus seiner Gastfamilie stehen. Nanu, wer war das? Die Person
wirkte so, als würde sie auf jemanden warten – war sie eingeladen,
aber zu früh dran und wollte die Gastgeber nicht stören?
Ein paar Augenblicke
später erkannte er, wer es war. Er hatte gar nicht damit gerechnet,
dass er die Person kennen könnte, denn er kannte nach vier Monaten
bei den Aubertins zwar einige von den Nachbarn, aber nicht deren
Freunde und Verwandte. Aber zu sehen, wer es war, machte die Sache
erst richtig rätselhaft – was machte Lina hier draußen?
Lina entdeckte ihn
und setzte sich in Bewegung, um ihm entgegenzugehen. Hatte sie auf
ihn gewartet? Es schien fast so, aber Emilio hatte keine Idee, warum.
Sie verstanden sich gut, sie war auch nur etwas über ein Jahr jünger
als ihr Bruder und damit ein knappes Jahr jünger als Emilio, aber
Emilio unternahm doch deutlich mehr mit Léo.
„Ich dachte schon,
du kommst gar nicht mehr“, sagte sie zur Begrüßung, aber sie
lächelte dabei. Sie sprach Französisch, Emilio antwortete auf
Deutsch. „Hab ich was verpasst?“, fragte er. Lina schüttelte den
Kopf. „Ich will auch noch ein bisschen raus“, erklärte sie.
„Hast du Lust, noch mal mitzukommen?“ Emilio zuckte mit den
Schultern. Er war nicht ganz sicher, was er davon halten sollte,
allein mit ihr hatte er noch nie irgendwas unternommen, aber warum
nicht? Sonst würde er doch nur in seinem Zimmer sitzen und
rausstarren auf die Fenster der Nachbarn, die Weihnachten feierten.
„Prima!“, freute
Lina sich. „Musst du vorher noch mal rein?“ Emilio schüttelte
den Kopf. „Wir können“, sagte er.
„Erzähl doch mal
ein bisschen!“, forderte Lina ihn auf, als sie sich ein Stück von
ihrem Elternhaus entfernt hatten. „Wie ist das, wenn ihr zu Hause
Weihnachten feiert?“
Emilio zuckte
zusammen, so sehr überraschte ihn die Frage. „Du musst nicht, wenn
du nicht willst“, sagte Lina, als er nicht direkt antwortete. „Ich
meine, das ist für dich ja auch blöd alles gerade.“ „Da könnte
ihr ja nichts für“, beruhigte Emilio sie. „Wundert mich nur,
dass du fragst. Interessiert dich das wirklich?“ Er würde ihr gern
erzählen, was bei ihm zu Hause an den Weihnachtsfeiertagen los war,
aber nur, wenn sie es wirklich hören wollte. Dass sie aus
Höflichkeit zuhörte und sich dabei zu Tode langweilte, wollte er
auf keinen Fall.
Aber Lina meinte es
ernst, und so erzählte er von den Traditionen seiner Familie zu
Weihnachten. „Das stelle ich mir schön vor“, sagte Lina, als er
erzählte, wie sich am ersten Weihnachtstag immer die ganze Familie
traf, mit Großeltern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen. „Auch
wenn es manchmal nicht so einfach ist.“ Emilio hatte ihr nicht
verschwiegen, dass es gelegentlich auch zu kontroversen Diskussionen
kam, wenn die Familie an Weihnachten zusammenkam. Aber das gab es in
vielen Familien, und Lina kannte das auch von Geburtstagen und
anderen Familienfeiern. Entscheidend war, wie man dann damit umging,
und wirklich ausgeartet war es in Emilios Verwandtschaft noch nie.
***
Emilio achtete kaum
darauf, wohin sie gingen, er war davon ausgegangen, dass Lina einfach
nur durch den Ort und die Umgebung schlendern wollte. Doch nach und
nach bekam er das Gefühl, dass Lina ein klares Ziel hatte,
vielleicht, weil sie an keiner Kreuzung, keiner Abzweigung auch nur
einen Augenblick überlegte, in welche Richtung sie sich wenden
sollte. Oder hatte sie eine feste Route, auf der sie regelmäßig
spazieren ging? Auch wenn er schon vier Monate bei den Aubertins
lebte, war er sich nicht sicher, ob er das auf jeden Fall hätte
mitbekommen müssen.
Irgendwann bog Lina
ab auf einen schmalen Pfad, der direkt zur Küste führte. Die
bestand an dieser Stelle – eigentlich überall in der Gegend –
aus einem steilen Kliff mit einem Streifen Kiesstrand davor. Der Pfad
schlängelte sich durch eine Scharte nach unten, im Licht der
Taschenlampe, die Lina anknipste, erkannte Emilio hier und da Stufen,
die in den Stein gehauen worden waren. „Ist das nicht gefährlich?“,
fragte er unsicher. „Bei Dunkelheit da runter?“ Das Kliff war
kein Wolkenkratzer, zehn Meter hoch, schätzte Emilio, aber das
reichte, um sich bei einem Absturz den Hals zu brechen. „Nicht,
wenn man sich auskennt und aufpasst“, beruhigte Lina ihn. „Vertrau
mir!“
Was blieb Emilio
auch anderes übrig? Er hätte sich höchstens umdrehen und
zurückgehen können, aber das wollte er natürlich nicht. Außerdem
waren sie jetzt schon fast zur Hälfte unten, und wenn der Weg so
blieb wie im oberen Teil, dann brauchte man sich wohl wirklich keine
Sorgen zu machen. Wie Lina gesagt hatte: gucken und aufpassen, wohin
man den Fuß setzte.
Wenig später waren
sie unten, und Lina wandte sich zielsicher nach links. Im Schatten
des Kliffs war es noch dunkler als oben, aber Lina schien jeden Stein
zu kennen. Emilio sah, dass sie manchem Felsen, der aus dem Kies
herausragte, schon auswich, bevor der Schein der Taschenlampe ihn
erreichte.
Wenn er zur Seite
schaute, konnte er weit draußen vereinzelte Lichter erkennen,
Schiffe, die in sicherem Abstand die Küste entlangfuhren. Wie sich
wohl die Seeleute fühlten, die jetzt an Weihnachten auf ihren
Schiffen Dienst tun mussten? Sicher, sie waren es gewohnt, lange von
ihren Familien weg zu sein, aber an Weihnachten war es bestimmt auch
für sie nicht so leicht.
Unvermittelt fiel
der Lichtstrahl der Taschenlampe auf eine weiß lackierte Wand. Im
ersten Moment wusste Emilio nichts damit anzufangen, ein Haus hier
unten, das konnte er sich nicht vorstellen. Dann wurde ihm klar: Es
musste ein Boot sein. Lina ließ den Lichtkegel etwas wandern, jetzt
war auch die Reling zu sehen, und links von ihnen der Bug. Ein
Fischerboot, vermutete Emilio, nicht sehr groß und vermutlich auch
nicht das neueste Modell, soweit er das als Laie beurteilen konnte,
aber es sah auch nicht so aus, als würde es im nächsten Moment
auseinanderfallen. Zehn oder zwölf Meter mochte es lang sein, viel
kleiner als die modernen schwimmenden Fischfabriken.
„Da wären wir!“,
sagte Lina. „Hier stört uns niemand.“ Sie sprang an der Bordwand
hoch und griff zwischen den Stangen der Reling durch. Als ihre Füße
wieder auf den Kies trafen, hatte sie das Ende einer Strickleiter in
der Hand. Die Leiter rollte sich von allein aus, und Lina machte
einen Schritt zur Seite. „Nach dir!“, sagte sie lächelnd. „Es
ist sicher“, fügte sie hinzu, als er kurz zögerte.
Immer noch unsicher,
griff Emilio nach der Leiter. Es war gar nicht so leicht, nach oben
zu kommen, weil die Leiter so wackelte. Das obere Ende war zwar
festgemacht, und Lina hatte kurz daran geruckt, um sich zu
vergewissern, dass sie hielt, aber davon ab gaben die Seile in alle
Richtungen nach. Lina schien das nicht das Geringste auszumachen, sie
enterte das Boot, als hätte sie zeit ihres Lebens nie etwas anderes
gemacht. Wahrscheinlich war sie tatsächlich ziemlich oft hier, ohne
dass er bislang etwas von ihren Ausflügen mitbekommen hätte.
„Mein geheimer
Platz“, erklärte sie, als sie neben ihm an Deck des kleinen
Kutters stand. „Hierher komme ich immer, wenn ich mal wirklich
meine Ruhe haben will.“ „Darfst du das?“, fragte Emilio. „Ich
meine, das Boot muss doch irgendjemandem gehören, oder?“ „Na ja,
so halb“, antwortete Lina. „Der Fischer, dem es gehörte, ist vor
drei Jahren gestorben. Er hatte sich aber schon Jahre vorher zur Ruhe
gesetzt. Zum Schluss hat es sich auch nicht mehr gelohnt, mit dem
kleinen Boot kannst du nicht bestehen gegen die großen Schiffe, die
viel weiter rausfahren können. Deshalb hat sich auch niemand
gefunden, der es kaufen wollte. Ich war früher oft am Hafen, ich
wäre gerne mal mit rausgefahren, aber als ich endlich alt genug war,
dass Maman und Papa es erlaubt hätten, da hatte Monsieur Moreau
schon aufgehört. Ich bin dann immer wieder hergekommen, weil ich es
so schade finde, dass das Boot hier liegt und niemand es mehr haben
will. Madame Moreau findet es gut, sie meint, solange ich herkomme,
hat die Mademoiselle Marie noch eine Aufgabe. Sie hat mir sogar den
Schlüssel zur Kajüte gegeben.“
Das klang traurig,
aber es war auch irgendwie tröstlich, dass Lina dem Boot noch einen
Nutzen gab. Er hatte das Gefühl, sie würde das Boot nicht aufgeben,
auch wenn es irgendwann anfing, zu verfallen.
Lina führte ihn zum
Deckhaus und schloss die Tür auf. Der Schlüssel kratzte nicht im
Schloss, offensichtlich gönnte sie dem Schloss von Zeit zu Zeit
einen Tropfen Öl. „Vorsicht, Kopf!“, warnte sie ihn, weil die
Tür ziemlich niedrig war. „Halt mal bitte!“ Sie drückte ihm die
Taschenlampe in die Hand, und während er ihr leuchtete, entzündete
sie eine Petroleumlampe, die an einem Haken von der Decke hing. Es
gab auch elektrisches Licht, aber das funktionierte wahrscheinlich
nicht mehr. Emilio kannte sich nicht besonders gut aus mit
Schiffstechnik, aber er vermutete, dass die Elektrizität an Bord von
einem Generator kam, der vom Schiffsmotor angetrieben wurde, und wenn
es Batterien gab, dann hatten sie schon lange ihre Ladung verloren.
Er traute Lina zu,
dass sie es genauer wusste, wurde aber abgelenkt, ehe er fragen
konnte. Das Licht der Petroleumlampe holte etwas aus der Dunkelheit,
mit dem er im Leben nicht gerechnet hätte: eine weihnachtliche
geschmückte Brücke. Das Frontfenster, das sich über die ganze
Breite des Deckhauses erstreckte, war mit Tannengrün eingerahmt,
über der Tür hing eine Lichterkette, die einen eigenen Akku haben
musste, und auf dem Instrumentenpult stand sogar eine kleine Krippe.
„Wow!“, entfuhr
es Emilio. „Das geheime Weihnachts-Hauptquartier!“ Lina wurde
rot. „Du bist der Erste, der davon erfährt“, erklärte sie.
„Wovon?“, fragte Emilio, der sich nicht ganz sicher war, ob er
den Zusammenhang richtig verstanden hatte, obwohl er sich wohl
inzwischen in den Lebenslauf schreiben durfte, dass er fließend
Französisch sprach. „Davon, dass du hier ein kleines Versteck
hast?“
Doch Linas Geheimnis
war viel größer: Sie feierte heimlich Weihnachten. Sie fand
Weihnachten schön, und weil ihre Eltern alles von sich wiesen, was
mit dem Fest zu tun hatte, feierte sie für sich an ihrem ganz
privaten Rückzugsort. Davon wusste niemand etwas, nicht die Eltern,
nicht der große Bruder, nicht mal ihre beste Freundin, mit der sie
sonst über alles reden konnte.
***
Jetzt überlegte
Emilio doch, ob er Lina fragen sollte, warum ihre Eltern so überhaupt
nichts mit Weihnachten zu tun haben wollten. Aber würde er ihr damit
nicht zu nahe treten? Doch seine Schweigsamkeit reichte Lina, sie
schien ganz genau zu wissen, was ihn bewegte. „Für dich ist es
schwer zu verstehen, was Maman und Papa gegen Weihnachten haben,
oder?“, stellte sie sehr treffend fest. Emilio nickte. „Ich
meine, es kann ja sein, dass jemand keine Lust darauf hat, aber…“
Er verstummte, er wollte keine Mutmaßungen äußern, die Lina
vielleicht verletzten.
„Ich glaube, sie
haben Angst“, versuchte Lina zu erklären. „Weil sie…“ „Du
musst mir das nicht erzählen“, warf Emilio ein. „Wenn du nicht
willst, dann ist es völlig okay, wenn du nichts sagst.“ „Doch,
du darfst es wissen“, versicherte Lina. „Aber erzähle ihnen
nicht, dass ich es dir erzählt habe, ja?“
Emilio versprach es,
und Lina begann zu erzählen. Früher, als Léo und sie noch nicht
geboren gewesen waren, da war wohl alles anders gewesen, und ihre
Eltern hatten Weihnachten gefeiert wie viele andere auch. Doch ein
Autounfall hatte alles verändert, auf der Rückfahrt von einer
Weihnachtsfeier mit Freunden. Linas Vater, der am Steuer gesessen
hatte, hatte keine Schuld getroffen, er war vollkommen nüchtern
gewesen und vorsichtig gefahren. Ein Raser – die Polizei hatte
später ausgerechnet, dass er fast doppelt so schnell gefahren war
wie erlaubt – hatte sie geschnitten und den Wagen beim Einscheren
touchiert. Linas Vater hatte keine Chance gehabt, den schleudernden
Wagen auf der Straße zu halten, das Auto war in den Acker gerutscht
und hatte sich überschlagen. Obwohl Linas Eltern überlebt und sich
körperlich vollständig erholt hatten, hatte der Raser, der selbst
nur ein paar Kratzer abbekommen hatte, ein Menschenleben auf dem
Gewissen: Léos und Linas Bruder, der gestorben war, ohne zuvor das
Licht der Welt zu sehen. „Das haben sie nie richtig überwunden“,
schloss Lina. „Vielleicht kann man das auch gar nicht, zumindest
nicht ganz. Und deshalb wollen sie kein Weihnachten mehr feiern, weil
Weihnachten für sie immer mit diesem Unfall verbunden ist.“
***
Lina war stark, denn
sie schaffte es trotz des traurigen Hintergrunds, echte
Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. In einem Rucksack, den Emilio
gar nicht richtig wahrgenommen hatte unterwegs, hatte sie eine große
Tüte Weihnachtsplätzchen mitgebracht, und eine Thermosflasche voll
heißem Tee. Tassen fanden sich an Bord, und aus einer Koje holte
Lina eine dünne Matratze und Decken. Emilio ging durch den Kopf,
dass das kleine Schiff fast ein zweites zu Hause für sie war, sie
hielt die Einrichtung offenbar in Schuss.
Es war wohl das
merkwürdigste Weihnachten, das er je erlebt hatte, an diesem Ort,
mit Lina neben sich, ein bisschen aus der Welt gefallen irgendwie.
Und so sehr er sich über den Streik geärgert hatte, der ihn zwang,
über Weihnachten in Frankreich zu bleiben, so sehr gefiel es ihm,
zusammen mit Lina auf der Matratze zu liegen, gut zugedeckt gegen die
Kälte, Plätzchen zu essen, Tee zu trinken und auf YouTube nach
Weihnachtsliedern zu stöbern. Er suchte und fand einige deutsche
Lieder, die er Lina vorspielen konnte, Lina suchte französische
heraus, und manche gab es ja auch in mehreren Sprachen. So sangen sie
„Stille Nacht, heilige Nacht“, und „Douce nuit, sainte nuit“,
„Nun freut euch, ihr Christen“, „Come all you Faithfull“ und
„Peuple fidèle“, und Lina probierte genauso, die deutschen Texte
zu singen, wie Emilio sich an den französischen versuchte.
Emilio hatte gerade eine schöne Version von „Hark! The Herold
Angels Sing“ gefunden, als sein Handy klingelte. Die Verbindung war
nicht allzu toll, er war zu weit draußen und noch dazu umgeben von
Stahl, aber als er aufstand und an die Tür ging, funktionierte es
einigermaßen.
Am anderen Ende war
seine ganze Familie, sie wollte ihm trotz allem frohe Weihnachten
wünschen und nachfragen, wie es ihm ging, so ganz ohne alles
Weihnachtliche. „Wo steckst du?“, erkundigte sich sein Vater.
„Nicht bei den Aubertins zu Hause, oder?“ „Nein“, antwortete
Emilio. In zwei Sätzen beschrieb er die Überraschung, die Lina ihm
bereitet hatte, und schwenkte das Handy, sodass die Kamera die
geschmückte Brücke einfangen konnte. Er wusste, dass das okay war,
und Lina konnte sicher sein, dass seine Eltern ihren nichts erzählen
würden.
„Dann ist es ja
doch nicht so schlecht, dass du nicht kommen konntest“, stellte
sein Vater fest. „Nicht, dass wir dich nicht gerne hier haben
würden, aber wie es aussieht, habt ihr beiden ja doch schöne
Weihnachten, und für Lina bist du ein Geschenk, wenn sie zum ersten
Mal jemanden hat, der mit ihr Weihnachten feiert.“
Emilio wurde rot,
aber irgendwie hatte sein Vater ja recht. Ja, seine Weihnachten waren
völlig anders, als er es von zu Hause kannte, anders, als er sie
sich je hätte vorstellen können, aber sie waren trotzdem wirklich
schön. Er war Lina dankbar dafür, dass sie ihr Geheimnis mit ihm
teilte, und es war nicht zu übersehen, wie glücklich sie war,
Weihnachten mit ihm zusammen feiern zu können. Diese Freude würde
Folgen haben, davon war er überzeugt, denn die Stimmung, die sie
hier in sich aufsog, würde ausstrahlen, wenn sie später am Abend
nach Hause gingen. Linas Eltern würden spüren, dass sich etwas
verändert hatte, und Emilio hatte plötzlich das sichere Gefühl,
dass der Funke der Weihnachtsfreude überspringen würde.