Ich spiele mal ein wenig den "Erklärbären" ...
@ Alle:
(1) Mehrere römische (und griechische) Autoren haben sich mit Germanien befaßt. Es gibt keine "germanischen" Schriftquellen - sieht man von Sagen ab, die ungefähr in diesem Zeitraum (oder ein paar Jahrhunderte später) im nordischen Raum entstanden sind und in denen die Ereignisse rund um die Varusschlacht eventuell einen Nachhall fanden. Von den römischen Autoren haben mit Sicherheit nur Velleius Paterculus, der eine römische Kavallerieeinheit in einer der Legionen von Drusus und Tiberius befehligte, als Arminius in deren Heer germanische Hilfskontingente kommandierte und sein Zeitgenosse Strabo(n), der bei dem Triumphzug des Germanicus (siehe unten) unter den Zuschauern war, viele der beteiligten Personen persönlich gekannt. Cassius Dio und Tacitus sowie Florus schrieben mit zeitlichem Abstand und schöpften aus sekundären Quellen.
Der Begriff "Germania" wird von römischen Autoren unterschiedlich gebraucht – als Namensbestandteil (keltischer) Stämme, für alle Stämme östlich und einige westlich des Rheins, allgemein als geographischer Begriff und teilweise auch als stilistischer Kunstgriff (lat. "germanus" = wahr, aufrichtig). Letzteres dürfte bei Tacitus eine gewisse Rolle spielen, der mit der Beschreibung der "Germanen" ein idealistisch verklärtes Sittengemälde entwarf, das er seinen (dekadenten) Mitbürgern als Spiegel vorhielt, um sie an ihre tugendhaften Ursprünge zu erinnern. Er selbst weilte nie in Germanien, sondern befragte lediglich Soldaten, die dort gedient hatten.
(2) Das Problem bei der Lokalisierung der Varusschlacht ist, daß es eine vernichtende Niederlage von drei Legionen war, aber keine Schlacht im eigentlichen Sinne. Varus befand sich mit insgesamt weit über 30000 Personen auf dem Rückweg von einem friedlichen Sommerfeldzug, der ihn tief in das Gebiet der mehr oder weniger mit Rom befreundeten Cherusker geführt hatte. Ein Gebiet, in dem es einige vorgeschobene Kastelle und Truppenvorposten gab. Er schwenkte von seiner gebahnten und sicheren Marschroute ab, um Gerüchten über einen angeblich drohenden Aufruhr nachzugehen. Die drei Legionen zogen durch bewaldetes, unwegsames und hügeliges Gelände, das von schlechtem Wetter aufgeweicht war, als sie überraschend aus dem Hinterhalt angegriffen wurden.
Die Varusschlacht bestand aus einer dreitägigen Abfolge massiver Guerillaangriffe auf eine (zumindest anfangs) über 25-30 Kilometer(!!) auseinandergezogene Marschkolonne. Nur am ersten oder zweiten Tag gelang es den Legionen, in ungünstigem Gelände ein behelfsmäßiges Marschlager zu errichten, in dessen Umfeld die Legionen aber keine gefechtsmäßige Aufstellung nehmen konnten. Bereits die Römer hatten sechs Jahre später bei Germanicus Rachefeldzug etwas Mühe, diesen Ort wiederzufinden und erkannten ihn nur an offen herumliegenden Gebeinen, an die Bäume genagelten Schädeln und Resten von zertrümmertem Kriegsgerät.
Die leicht bewegliche Beute - Gefangene, Sklaven, Rüstungen, Waffen, Gold und Silber sowie Feldzeichen und sonstige Gerätschaften - zerstreute sich schnell über weite Gebiete der verschiedenen Stämme. Ein Teil der Gefangenen wurden hingerichtet, ein anderer Teil versklavt und später von Rom freigekauft oder zufällig befreit - teilweise noch 40 Jahre später. Zudem hatten die Germanen die Angewohnheit, erbeutete Rüstungen und Waffen in „heiligen“ Mooren zu versenken oder zu zerbrechen und den Göttern zu weihen. Jedenfalls dürften sich schon Tage oder wenige Wochen nach der sich über eine Strecke von ca. 30-50 Kilometer hinziehenden "Varusschlacht" nur noch jene Waffen und Gerätschaften dort befunden haben, wo sie zu Boden fielen, die völlig unbrauchbar und wertlos waren oder in den Boden getrampelt wurden und so den Plünderern entgingen.
Die "Varusschlacht" war eins von dutzenden Gefechten zwischen Legionen und Stammesverbänden in jenem Gebiet, in dem DER Austragungsort für die Varusschlacht wahrscheinlich anzusiedeln ist. Diese Auseinandersetzungen fanden teilweise auf wesentlich begrenzterem Terrain statt als den hingezogenen Strecken, entlang derer die Zermürbung der Varus-Karawane erfolgte. Trotzdem findet man von diesen Gefechten heute keine Spuren mehr und ist ebenfalls bezüglicher der Austragungsorte auf Vermutungen angewiesen. Warum wird ausgerechnet vom Ort der "Varusschlacht" erwartet, als in Zeit und Raum eingefrorenes Diorama im Dornröschenschlaf zu ruhen, um irgendwann entdeckt zu werden? Doch nur, weil diesem Desaster im neuzeitlichen Bewußtsein und obendrein aus teilweise fehlgeleiteten Motiven eine überhöhte Bedeutung verliehen wurde. Insofern kommt jeder Ort, der als Austragungsort einer römisch-germanischen Auseinandersetzung identifiziert wird, nicht allein für die "Varusschlacht" infrage, sondern gleichermaßen auch für alle anderen Gefechte des Zeitraums 1 n. Chr. - 17. n. Chr. ...
(3) Den meisten „Germanen“ ging es schon deshalb nicht um einen "Freiheitskampf gegen römische Fremdherrschaft", weil es bis auf die Identitäten ihrer jeweiligen Stammes- und Sippenverbandes kein übergeordnetes "germanisches" Selbstverständnis gab. Die gemeinsame Zugehörigkeit zu derselben Sippe stellte kein Hindernisgrund für gegensätzliche, politische Strömungen sowie die Wahrung persönlicher Interessen und Intrigen im weiteren Verwandtenkreis dar - pro Rom, contra Rom oder weder noch. Der größte, stammesübergreifende Nenner entsprach ungefähr dem Motto: "Heute kämpfen wir mal gegen Nachbarn, Verwandte oder Römer und morgen schauen wir dann mal weiter..."
Tatsächlich scheinen einige "Fürsten" der Cherusker ihr Brot auf beiden Seiten gebuttert zu haben, während andere als Vertreter der cheruskischen Pro-Römer-Partei sogar die ganze Zeit in römischen Diensten blieben oder sich neutral verhielten. Arminius Vater und seine Söhne standen allesamt zuvor in römischen Diensten, befehligten germanische Hilfskontingente und hatten vielleicht wie ihr Bruder/Onkel auch Besitztümer (Villa/Hof) in römischen Gebieten. Arminius war noch keine 25 Jahre alt, als ihm das römische Bürgerrecht verliehen und er in den röm. Ritterstand aufgenommen wurde. Besonders letzteres spricht dafür, daß er in römischen Diensten wertvolle Leistungen vollbrachte und überdies ein reicher Mann war.
An den gegensätzlichen Auffassungen der romfreundlichen Partei änderte auch die Revolte des Arminius wenig. Während Arminius von Rom abfiel, blieb sein Bruder Flavus auf römischer Seite und befehligte weiterhin germanische Hilfstruppen, zu denen auch cheruskische Verbände gehörten. Andere cheruskische "Fürsten" wechselten in den Jahrzehnten nach der Varusepisode mit ihren Kriegern sogar mehrfach die Seiten, ohne daß das sonderliche Folgen gehabt hätte. Bei den übrigen germanischen Stämmen sah es ähnlich aus.
(4) Vom römischen Standpunkt aus war der Verlust von drei Legionen zwar eine demütigende Niederlage, letztlich aber nur eine Episode des dreißigjährigen Kriegsverlaufs in den germanischen Stammesgebieten. Ohnehin besteht Grund zu der Vermutung, daß weder Augustus noch Tiberius vorhatten, die Germania magna dauerhaft zu okkupieren. Hauptsächlich könnte es darum gegangen sein, die gefährlichsten Gegner dauerhaft zu schwächen und eine Gallien vorgelagerte Verteidigungszone aus befreundeten Stämmen aufzubauen, resp. solche dort als Pufferzone anzusiedeln. Schon Cäsar hatte bei seinen Vorstößen nach Germanien erkannt, daß hier die gesellschaftliche Struktur und landschaftlichen Verhältnisse anders und wesentlich schwieriger waren als in Gallien. Andererseits wird argumentiert, daß die von Varus eingeleiteten Maßnahmen, in den germanischen Stammesgebieten Verwaltungsstrukturen nach römischem Vorbild zu etablieren, dafür sprächen, daß sich die römischen Pläne für Germanien geändert hätten und doch auf eine Eroberung abzielten.
Militärisch betrachtet befand sich Rom zum Zeitpunkt der Varusschlacht in Germanien noch in der bewaffneten Aufklärungs- und Vorbereitungsphase für eine Eroberung weiter Gebiete. Das allerdings bereits seit 20 Jahren. Und Jahr für Jahr wurden vom Rhein ausgehend die "üblichen Sommerfeldzüge" in germanische Stammesgebiete unternommen, um zum Winter hin wieder in die Ausgangslager am Rhein zurückzukehren.
Kaiser Tiberius traf nach seinem Regierungsantritt auf Anraten von Augustus die politische Entscheidung, die Feldzüge quer durch Germanien einzustellen, die Rheingrenze zu konsolidieren und die germanischen Stämme ihren inneren Zwistigkeiten zu überlassen. Diese ca. 16/17 n. Chr. endgültig gefällte Entscheidung – und nicht die Varusschlacht - stellt den eigentlichen Wendepunkt der römisch-germanischen Geschichte dar, denn in den drei vorangehenden Jahren unternahm der römische Feldherr Germanicus mit wechselhaftem Erfolg ausgedehnte, blutige Expeditionen durch die germanischen Stammesgebiete.
(5) Die Frage nach dem Was-wäre-wenn läßt sich auch so beantworten, daß der Druck der römischen Feldzüge die germanischen Stämme, die sich gerne untereinander bekriegten, allmählich zu Bündnissen über Stammesgrenzen hinweg zu bewegen begann und ansatzweise auch zur Aufgabe traditioneller militärischer Konzepte zugunsten disziplinierteren Vorgehens in besser koordinierten und zentral geführten, großen Verbänden. Arminius vernichtete drei römische Legionen, indem er sie in Gelände lockte, in dem sie gegenüber seinen militärisch (noch) unterlegenen Verbänden benachteiligt waren und griff sie massiv aus dem Hinterhalt an. Er versuchte auch in späteren Gefechten gegen römische Legionen konsequent die Situation einer offenen Feldschlacht zu vermeiden, die für die kaum defensiv und nur leicht offensiv bewaffneten Stammesverbände leicht verhängnisvoll verlaufen konnte.
Arminius fand zuletzt nicht nur unter den Cheruskern immer mehr Zulauf und hätte langfristig der zweite, germanische Stammesführer werden können, der - á la Marbod (Markomannen) - ein straff organisiertes, monarchisches Staatswesen mit einem schlagkräftigen Heer zustandebrachte. Rom hatte 9 n. Chr. noch Glück gehabt, denn Marbod weigerte sich, mit Arminius ein Bündnis gegen Rom einzugehen. Hinsichtlich Strategie und diszipliniertem Vorgehen machten die Germanen unter dem Einfluß von Arminius jedenfalls rasch Fortschritte. Das blieb auch den Römern nicht verborgen. Die bloße Möglichkeit, alsbald einer zentralen Machtkonzentration in Germanien gegenüberzustehen, die vereint gegen die inzwischen bis zu acht römische Legionen antraten, die jeden Sommer in Germanien operierten, könnte Tiberius bei seinem Entschluß beeinflußt haben. Eine kluge Entscheidung.
Nachdem Rom die Eroberung des rechtsrheinischen Germanien aufgegeben hatte, lösten sich die innovativen politischen und militärischen Ansätze rasch in Luft auf. Die Stämme bekriegten sich munter untereinander und für die beiden Protagonisten - Arminius und Marbod - fiel bald darauf der Vorhang. Der eine wurde von rivalisierenden Verwandten ermordet, der andere vertrieben und ging nach Italien (Ravenna) ins Exil.
(6) Die Gründe für die Eroberung "Germaniens" bestanden darin, die jungen Provinzen (Gallien, Süddeutschland, Alpenregion) und das Kerngebiet Italien zu schützen, das seit Jahrhunderten wiederholt von "vagabundierenden" Stammesverbänden bedroht worden war. So fing es an. Späterhin spielte die Aussicht auf Bodenschätze, Ländereien und Sklaven(!) - sowie die Rekrutierung neuer Hilfstruppen eine immer wichtigere Rolle. Die Rechnung, waffenfähige Krieger davon abzuhalten, in ihren Herkunftsgebieten Unruhe zu stiften, ging zumindest bei wirklich heimatfernen Einsätzen auf. Vor allem in den Anfängen der römischen Kaiserzeit war auch von Bedeutung, daß sich das Heer von einer defensiven Bürgermiliz in eine riesige, stehende Berufsarmee verwandelt hatte, deren Legionen "außenpolitisch" beschäftigt werden mußten, um nicht zum innenpolitischen Unsicherheitsfaktor zu werden und in Rom den Königsmacher spielen zu wollen.
(7) Zumindest zwei - eventuell auch alle drei - der im Verlauf der "Varusschlacht" eroberten Adler sowie die meisten Standarten und Feldzeichen der XVII., XVIII., XIX. Legion wurden bei den nachfolgenden römischen Feldzügen in germanischen Stammesgebieten wieder "eingesammelt". Sie wurden zurückerobert, wenn sie im Feld gegen die Legionen geführt wurden und - zumindest in einem Fall - auf den Tipp eines germanischen "Herzogs" hin, der sich damit bei Rom Liebkind machen wollte, aus einem Stammesheiligtum ausgegraben.
Waffen und Rüstungsteile sowie persönliche Ehrenabzeichen trugen manchmal eingeprägte Signaturen, die auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Einheiten hinwiesen. Ein Helm mit einem solchen Zeichen wäre ein sicheres Indiz. Ein Schmuckstück mit eingeprägten Insignien bedeutet dagegen jedoch nicht unbedingt, daß die gesamte Legion dort vorbeikam, sondern nur, daß derjenige, der es verlor, in der betreffenden Legion ausgezeichnet wurde. Das muß aber nicht die Legion gewesen sein, in der er zuletzt diente. Mal davon abgesehen, daß der Verlierer nicht zwingend ein Römer gewesen sein muß...
@ Grotesque:
Die schwangere Thusnelda wurde von ihrem Vater, einem der Wortführer der cheruskischen Pro-Rom-Partei, an die Römer ausgeliefert und nach Ravenna in Italien gebracht. Laut dem römischen Geschichtsschreiber Strabo nahm sie - mit ihrem dreijährigen Sohn Thumelicus an der Hand - am 26. 5. 17 n. Chr. als Prunkstück an dem Triumphzug durch Rom teil, der dem römischen Feldherrn Germanicus nach seinem Sieg über die Völker zwischen Rhein und Elbe bewilligt wurde. Danach verliert sich ihre Spur.
Thusnelda und der Sohn des Arminius hatten als Statussymbole auch nach Arminius Tod (19/21 n. Chr.) eine Bedeutung. Hochrangige Geiseln wurden gewöhnlich gut behandelt und genossen alle erdenklichen Annehmlichkeiten. Vielleicht kehrte Thusnelda nach Ravenna zurück, wo auch andere Dauergäste geparkt wurden und führte dort ein friedliches, angenehmes Leben? Dies um so mehr als ihr Vater und ihr Schwager und dessen Familie bei den Römern in hohem Ansehen standen und ihr Bruder das römische Wohlwollen wiedererlangt hatte. Er nahm am Aufstand von Arminius teil und kehrte reumütig zu den Römern zurück. Er mußte ebenfalls an dem Umzug teilnehmen, durfte hernach aber in sein Amt als ubischer Priester nach Köln zurückkehren. Beider Vater nahm übrigens auch am Triumphzug teil – als römischer Freund und Bundesgenosse auf der Ehrentribüne...
Tacitus deutet an, daß das launenhafte Schicksal später mit Thumelicus sein Spiel getrieben haben soll, führt das aber nicht weiter aus. Die Bedeutung seiner Bemerkung ist unklar, doch als von klein auf unter römischem Einfluß stehender und römisch erzogener cheruskischer „Adliger“ war Thumelicus eine Art Pfand und möglicher Garant für die Wahrung römischer Interessen in innercheruskischen Angelegenheiten.