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Ist die Sprache eines Buches allein wegen der Verwendung zeitgenössischer Ausdrücke altmodisch? Renate Feyl pflegt einen sehr eigenwilligen, präzisen, darstellenden Stil, den sie in diesem Roman ins Beschreibende ausufern läßt und hin und wieder mit altertümlichen Formulierungen verbrämt. Sie schreibt stur im Präsens, mitunter im Perfekt und so gleicht der Roman weniger einer Erzählung denn einer aktuellen Reportage. Das erweckt den Anschein, aufgrund gründlicher Recherche im Besitz exakter Informationen zu sein und so beginnt man sich erst bei späterem Nachdenken zu fragen, wieviel von der sehr gefühlsbetonten und äußerst detailreichen, präzisen Beschreibung des Empfindungslebens der "Gottschedin" denn überhaupt authentisch sein kann?
Im Rahmen der feyl'schen Sichtweise ist Viktoria Adelgunde Kulmus eine Frau, deren Schicksal dem vieler Frauen mit wissenschaftlichen Ambitionen und Meriten gleicht - ihr Nachruhm verblaßt gegenüber dem der, bzw. ihrer Männer, selbst wenn jene zu Lebzeiten unbedeutender waren als ihre Frauen. Auch wirklich bemerkenswerte Frauen, die von ihren eigenen Zeitgenossen anerkannt, geachtet und bewundert wurden, sind heute unverdientermaßen so gut wie vergessen. So gilt auch der gottsched'sche Nachruhm in erster Linie dem Wirken von Herrn Gottsched und nicht den Werken der "Gottschedin". Daß sich die Literaturgeschichte heute wieder für sie und ihre Werke zu interessieren beginnt und sie der Vergessenheit zu entreißen bemüht, ist u.a. Renate Feyl zu verdanken.
Dennoch fragt man sich eben, inwieweit die Lebensbeschreibung der "Gottschedin" jenseits der historischen Eckdaten und der nachweislich vorliegenden Zeugnisse ihres Wirkens authentisch ist? Haben die geschilderten Erlebnisse so stattgefunden, den einen oder anderen wahren Kern oder sind sie Phantasie und auf der Basis der feyl'schen Analyse der Persönlichkeit der "Gottschedin" und ihrer Werke frei erfunden? Hat Viktoria wirklich so gefühlt, wie es beschrieben wird oder würde nur Frau Feyl sich so fühlen, wenn sie an ihrer Stelle wäre? War Herr Gottsched wirklich in jeglicher Hinsicht der bornierte Kleingeist und ein immer gleichgültiger werdender Haustyrann oder ist er so nur in den Augen von Frau Feyl, der es darum zu tun ist, ihn als Typus zu überzeichnen und eine Karikatur aus ihm zu machen, um im Kontrast dazu die "Gottschedin" als um so angenehmeren Menschen und wirklich bedeutende Wissenschaftlerin hervortreten zu lassen?
Sofern sich keine Tagebücher der "Gottschedin" als Quellen erhalten haben, die Auskunft über ihr Gefühlsleben geben könnten, ist dessen Beschreibung wohl eher als nachempfindende und darum weitgehend moderne Interpretation zu betrachten. Es ist eine Theorie, daß sich die emanzipatorischen Bestrebungen einer Person auf germanistischem Felde auch in einer Veränderung ihres Beziehungslebens und ihrem Rollenselbstverständnis gespiegelt haben müssen und daß sich ein Mann, der sich im gemeinsamen Beruf von den Erfolgen seiner Frau überflügelt sah, durch boshafte Eifersüchteleien, Kleingeistigkeit und amouröse Affären an ihr gerächt hat. Vom heutigen, psychologischen Standpunkt aus betrachtet, erscheint es glaubwürdig, daß es so gewesen sein kann, aber - wie gesagt - was sagen die Quellen? Vielleicht gibt es sie gar nicht und vielleicht steht deswegen nicht "Biographie", sondern "Roman" auf dem Vorsatzblatt?
Feyl steigert sich sehr in eine Täter-Opfer-Systematik hinein, die ins Karikaturhafte überzogen ist und damit bei genauerer Betrachtung etwas an Nachvollziehbarkeit einbüßt. Auf der einen Seite der selbstsüchtige Popanz von eigenen Gnaden, dessen feierliche Erhabenheit ihm zum alleinigen Selbstverständnis wird und der nicht zu begreifen scheint, wie peinlich und lächerlich er sich damit vielerorts macht. Und auf der anderen Seite die ambitionierte Literaturwissenschaftlerin und humorvolle Stückeschreiberin, die sich strebend bemüht, zugleich eine gute Hausfrau und Beziehungsgefährtin zu sein, an dieser Doppelrolle aber mangels Unterstützung durch den Ehegemahl und durch seinen zunehmenden Mangel an Respekt und Achtung ihren Gefühlen und ihrer Person gegenüber zerbricht. Doch war Frau Gottsched wirklich so häuslich, einsam, äußeren Dingen eher abgewandt und wenig selbstbewußt und selbstbestimmt, wie sie teilweise erscheint?
Das Buch befaßt sich im Grunde nur mit der Beziehung zwischen Herrn und Frau Gottsched und der emotionalen Interaktion zwischen ihnen vor dem Hintergrund beider literaturwissenschaftlicher Ambitionen und Erfolge, ihrem Wirken und ihren Werken. Die "Gottschedin" muß jedoch eine wesentlich selbstbewußtere, eigenwilligere und tatkräftigere Frau gewesen sein, als sie im Buch dargestellt wird. Ein Element ihres wirklichen Lebens, das zudem in den gleichen Zeitraum fällt, in dem die Geschehnisse des Romans angesiedelt sind, glänzt durch vollständige Abwesenheit. Renate Feyl sind die zusätzlichen Facetten der "Gottschedin" selbstverständlich bekannt gewesen, schreibt sie doch andernorts: "... Adelgunde Kulmus, engagierte Übersetzerin und Dramatikerin, gründet 1744 in Königsberg eine "Frauenzimmer-Akademie", überschreitet damit kühn die Grenzen des Gewohnten und führt vor, was zwar längst noch nicht allgemein wirklich, wohl aber schon vereinzelt möglich ist. ..."
Quelle: Renate Feyl, Der lautlose Aufbruch. Frauen in der Wissenschaft. (Verlag Neues Leben - Berlin 1981)
Das besagte Werk behandelt die Rolle von Frauen in der Wissenschaft anhand von 11 Einzelbiographien, die den Zeitraum zwischen dem 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts abdecken. Wer Renate Feyl in Höchstform erleben möchte, dem sei dieses Buch zur Lektüre anempfohlen! Es ist ungeheuer intensiv geschrieben, sachlich, informativ und präzise, doch bei aller bissigen Ironie und Unversöhnlichkeit, die der männerzentrierten Wissenschaft gilt, überaus erfrischend zu lesen.
Es ist ein zentrales Thema von Feyl, den Wissenschaften sowie der wissenschaftlichen Nachwelt vorzuwerfen, männerzentriert zu sein. Sie wird dessen nicht müde, die vielfältigen Hindernisse zu beklagen, denen Frauen sich in der Welt der Wissenschaft auf dem Weg zur Emanzipation immer wieder gegenübersahen - nicht immer, aber eben auch in Gestalt von Ehemännern. Womit Feyl zwar durchaus Recht hat, aber ihre Überzeugung der grundsätzlichen Benachteiligung von Frauen in der Wissenschaft scheint sie teilweise blind dafür zu machen, daß viele dieser bemerkenswerten Frauen - wie die "Gottschedin" ja auch - von ihren eigenen Zeitgenossen weit über die Grenzen der wissenschaftlichen Welt hinaus geschätzt, bewundert und anerkannt wurden.
Die Autorin scheint sich nie so recht entscheiden zu können, was sie stärker gewichten und kritischer bewerten will - die Anerkennung und Achtung, die diesen Frauen zu Lebzeiten gezollt wurden oder den ausbleibenden Nachruhm und ihr späteres Fastanheimfallen der Vergessenheit, während selbst weniger bedeutenden männlichen Kollegen post mortem Denkmäler gesetzt wurden und sie bis heute unvergessen sind?
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