Beiträge von Rydal


    Rydal
    Wenn Du Die Mutmaßungen geschafft hast sind die Jahrestage viel einfacher. Nach meinem Gefühl ist dieser Roman anders geschrieben und weniger kompliziert in der Erzählweise. Dadurch auch flüssiger zu lesen. Weil eben diese Erzählperspektive dort nicht so schwer zu deuten ist. Obwohl er trotzdem genauso großartig ist. Zu dem wirst Du Gesine wieder treffen - diese Verbindung mag ich sehr. :)


    Danke für den Hinweis. Im Juli erscheint ja eine Neuausgabe der "Jahrestage"...
    http://www.suhrkamp.de/buecher…e_-uwe_johnson_46455.html

    Robert Walser gehört auch zu meinen Lieblingen und den "Gehülfen" schätze ich ganz besonders, weil er von der Machart her zwischen den schwelgerisch-melancholischen "Geschwistern Tanner" und dem sehr kühlen, schon beinahe prä-kafkaesken (Kafka schätzte Walser sehr) "Jakob von Gunten" steht. Wunderbar finde ich vor allem die zahlreichen Brüche im Erzählton, die ganz nebenbei in die vermeintlich einfache Story eingreifen und alles fragwürdig machen - wo genau sind wir eigentlich, da gibt es Widersprüche; was ist das für einer, der Protagonist, und weshalb ist er manchmal auch ein anderer; wer erzählt da und warum tut er das mitunter so eigenartig? Hier ist alles drin, die wunderbare Walsersche Landstreicherästhetik, Gesellschaftskritik, die Frage der Identität, mehr und weniger zuverlässiges Erzählen. Man müsste noch viel mehr sagen, aber glücklicherweise haben das hier ja andere schon vor geraumer Zeit getan. Vielleicht nur noch so viel - wenn man im Leben nur einen Walser lesen möchte, dann doch bitte den Robert!
    5ratten

    Ohne ein Seminar zur Erzähltheorie (oder sowas) hätte ich diesen Roman vielleicht nie gelesen. Es war keine angenehme Lektüre, eher eine sehr anstrengende. Es ist wirklich schwierig, der Handlung zu folgen, es wird nicht gesagt, wer gerade erzählt, wer spricht und so weiter. Der arbeitsintensive Teil bestand darin, herauszufinden, was vor sich geht. Davon abgesehen, hat mir der Roman hingegen sehr gut gefallen, es gibt immer wieder Passagen von berückender sprachlicher Schönheit, kühl und poetisch, und diese haben mich am meisten für das Weiterlesen motiviert. Auch die Konstruktion des Ganzen ist beeindruckend, wenngleich nicht gerade leserfreundlich. Kurzum, manchmal ist Arbeit nötig, um Zugang zu einem wunderbaren Buch zu finden, in dieser Hinsicht bin ich Kummer und Freude gewöhnt. Hier jedenfalls bin ich reich belohnt worden und habe mir schon mehrmals überlegt, vielleicht auch noch die "Jahrestage" zu lesen, aber auf so vielen Seiten wäre mir Johnsons Stil dann vielleicht doch zu anstrengend. Vielleicht werde ich mich irgendwann im Leben langweilen, was bisher nicht vorkommt, und für diese Zeit wäre es ein schönes Projekt...
    Einstweilen aber vergebe ich:
    5ratten

    Ich habe im Rahmen eines Projekts eine Rezension schreiben müssen und mich deshalb noch einmal etwas ausführlicher mit dem "Frühling der Barbaren" auseinandergesetzt. Meinen obigen Beitrag lösche ich dann wohl.



    Papierne Apokalyptik


    Der Schweizer Jonas Lüscher erzählt in seiner Debütnovelle von der im Menschen schlummernden Barbarei, die erwacht, sobald die bloss übergestülpte zivilisierende Weltordnung ins Wanken gerät. Indem er sich aktueller Themen annimmt – der Globalisierung, des Finanzkapitalismus –, bringt er das Grundmuster von William Goldings Herr der Fliegen (1954) auf den Stand des Zeitgeists. Wo Golding jedoch Kinder als Handlungsträger wählte und mit psychologischem Feingefühl die zunehmende Verwilderung der noch wenig zivilisatorisch Gefestigten erzählte, sind es bei Lüscher britische Finanzhaie, die eine Hochzeit in Tunesien feiern und inmitten der Festlichkeiten von der Nachricht überrascht werden, England sei bankrott, weshalb bald sämtliche Kreditkarten gesperrt werden. Dies löst nach einer kurzen Phase des Leugnens Verwirrung und Panik aus und mündet schliesslich in Gewalt. Es geht dem Autor bei alledem nicht um Psychologie, die Figuren bleiben durchweg Charaktermasken und scheinen ganz bewusst nur schematisch gezeichnet. Keine von ihnen wird bei der Lektüre lebendig oder interessant. Dass das Buch keinen Versuch unternimmt, die Verwilderung glaubwürdig zu schildern – wie Golding es tut –, ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen, zumal es nicht von in den Naturzustand geworfenen Menschen handelt, sondern vielmehr das Barbarische als verborgenen, den Raubtieren des Kapitalismus aber bereits innewohnenden Wesenszug zeigt. Zur rohen, mit den zivilisatorischen Verhaltensnormen kollidierenden Äusserung der Barbarei reicht es offenbar hin, den Bankern ihren eroberten Platz im System ersatzlos zu streichen. Es wären nichtsdestoweniger gerade diese Stellen gewesen, an denen der Autor den explosiven Cocktail aus Selbstherrlichkeit, Angst und Desorientierung, der sich bei einigen in Form brutaler Gewalt Luft verschafft (alternative Überlebensstrategien werden durchaus ebenfalls aufgezeigt), lebendiger und weniger offensichtlich im Dienst der zugrundegelegten Logik hätte beschreiben können. Das Erzählbarmachen eines Ereignisses von globaler Relevanz und wuchernder Unüberschaubarkeit durch die Konzentration auf eine relativ kleinen Gruppe von Betroffenen scheitert daran, dass der Autor es nicht wagt, stärker aus der Abstraktion herauszutreten und mit einer hier nicht erreichten Anschaulichkeit die imaginierte Katastrophe lebhaft vor Augen zu führen. Lüschers Apokalyptik bleibt letztlich ein Papiertiger – klug, sorgfältig konstruiert, aber nicht mutig genug, um aufregend zu sein.


    3ratten

    Mein Lieblingsbuch von Flaubert? Es ist nicht "Madame Bovary", auch nicht die "Éducation sentimentale", so sehr ich diese Romane schätze, es ist "Salambo". Ich bin kein Leser, vor dessen innerem Auge Beschreibungen leicht Bilder entstehen lassen, im Gegenteil, aber hiervon habe ich auch nach vielen Jahren einiges lebhaft zurückbehalten: das grosse Barbarenfest zu Beginn, jener Numidierführer, der sich nach einem kleinen Verrat etwas ziert, der ja und nein sagt und dem man es nicht nachtragen will, der in seiner Sänfte verfaulende karthagische Feldherr, in Büschen verschwindende Priesterinnen, dann der Eunuch...
    Ich finde Flauberts Erzählton ausserordentlich suggestiv und kann mich nicht erinnern, dass mir eine mir in jeder Hinsicht so ferne Szenerie jemals so lebendig geworden wäre wie hier.
    Mag sein, dass ich irre, für mich verdient "Salambo" jedoch nicht weniger als:
    5ratten

    Was für ein Vergnügen, diesen Roman zu lesen; welch ein Jammer, dass er unvollendet bleiben musste. Fragmentarisches muss nicht schlecht sein, wer wollte bei Kafka noch etwas hinzugefügt oder umgearbeitet wissen, hier jedoch wünschte ich mir sehr, Gogol hätte den zweiten Teil seiner "Toten Seelen" noch fertigstellen können. Der erste Teil ist grossartig, der Protagonist, dieser Tschitschikow, ist ein Mann mit einem klaren Ziel, er wird es zu etwas bringen. Ganz habe ich, zu meiner Schande sei es eingestanden, diesen Plan zwar nie verstanden - wer kauft denn unsichtbare Bauern? -, aber es kommt hierauf auch gar nicht so sehr an. Vielmehr bleiben die humoristischen Beschreibungen in Erinnerung, etwa, als gesagt wird, die Kutsche fahre an einigen Bäumen, Sträuchern und ähnlichem Unsinn vorbei. Am besten gefiel mir aber jener Gutsherr, dessen Gut sich in desolatem Zustand befindet, der aber in seiner Gutsherrenbibliothek sitzt und tiefgründige Fragen erörtert: wenn zum Beispiel Elefanten Eier legen würden, müsste man nicht geradezu eine neue, grössere, bessere Art von Kanone erfinden, um derartige Eier zu öffnen? Es ist fürwahr erstaunlich, wie es zugeht auf der Welt...
    Der zweite Teil hätte ebenso gut werden können wie der erste, leider merkt man hier das Unfertige allzu deutlich. Gar nicht auszudenken, dass ursprünglich sogar eine Trilogie geplant war, aber ich will nicht klagen, sondern mich an dem erfreuen, was gegeben worden ist.


    5ratten

    Das "Buch der Unruhe" von Pessoa ist eines meiner Lieblingsbücher, trotzdem fällt es mir schwer, etwas einigermassen Informatives darüber zu schreiben, zumal es darin im Prinzip keine Handlung gibt. Ich musste während der Lektüre immer wieder Pausen einlegen, kaum ein anderes Buch hat mich bisher, sprachlich und inhaltlich, so sehr beeindruckt, dass ich davon geradezu erschlagen war und mich immer wieder von einer kleinen Zahl gelesener Seiten erholen musste. Es ist ein unglaublich intensives Werk, das ich irgendwann noch einmal geniessen möchte, obwohl ich mich gleichzeitig vor dem Versuch fürchte, denn ich habe leider auch Kierkegaard gelesen und musste erfahren: es gibt keine Wiederholung. Dennoch...


    Wer auch ein wenig in Pessoas "Spiel" mit den Heteronymen einsteigen will, dem seien nachdrücklich die sehr schönen englischen Übertragungen der Lyrik von Richard Zenith empfohlen. Eines der schönsten Gedichte, falls man probelesen will, ich glaube, nicht einem der Heteronyme zugeordnet, also in Pessoas eigenem Namen geschrieben, ist meiner Meinung nach Un soir à Lima, eine bewegende Kindheitserinnerung des vielleicht bedeutendsten Melancholikers des zwanzigsten Jahrhunderts.

    Könntest du, Thomas, vielleicht etwas darüber schreiben, wie vergleichbar "Witiko" erzählerisch mit dem "Nachsommer" ist? Ich würde nämlich unter Umständen gerne noch etwas von Stifter lesen, leider hat mich der "Nachsommer" über weite Strecken dann doch ein wenig gelangweilt. Ich kann mir vorstellen, dass es hier anders ist, weil ich historische bzw. Gesellschaftsromane schätze und die Handlung sich im "Witiko" wohl nicht auf einen Garten und viel Beschaulichkeit beschränkt.
    Danke für deine Einschätzung!


    Sie geht schon nach Kriterien vor, also das Buch darf nicht mehr als 300 seiten haben und sie schreibt, dass sie etwa 70 Seiten in einer Stunde schafft...


    Ah, das würde ich nie fertigbringen, dazu bin ich zu langsam. Mehr als (je nach Buch) 20-30 Seiten in einer Stunde schaffe ich einfach nicht. :redface:
    Der amerikanische Literaturkritiker Harold Bloom behauptet ja, in seinen besten Zeiten habe er in einer Stunde 1000 Seiten verarbeiten können, was allerdings selbst meine Vorstellungskraft übersteigt.


    Naja das Buch wäre auch in der deutschen Sprache sehr sehr Dick wenn es komplett veröffentlicht worden wäre. Das könnte man dann kaum heben...


    In Japan ist es laut Wikipedia allerdings in drei Bänden erschienen.
    Mich persönlich stört die deutsche Ausgabe nicht besonders, weil die beiden Bände vergleichbares Format haben, obwohl der erste (Buch 1+2) beinahe doppelt so viele Seiten enthält.

    Dieses Thema ist alt, aber ich will hier einmal meinen "Ärger" kundtun. Was mir im Thalia (Basel) jetzt schon mehrmals aufgefallen ist, ist einerseits das sehr freundliche und unaufdringliche (Kompetenz kann ich nicht beurteilen, weil ich selten etwas frage) Personal bei den Büchern und andererseits wirklich unhöfliche Leute an der Kasse. Ist das Zufall oder gibt es dafür irgendeinen vernünftigen Grund? Ich habe mittlerweile beim Bezahlen schon beinahe das Gefühl, mich erstmal entschuldigen zu müssen, dass ich ausgerechnet hier kaufe. :zwinker:
    Als ich letztes Mal dort war, lief der Dialog genau so ab:


    - Guten Tag.
    - ... (nimmt Geld entgegen, gibt heraus, packt Buch in eine Plastiktüte)
    - Danke. Wiedersehen.
    - Ja.


    PS. Ich sollte vielleicht noch dazu sagen, dass in der Schweiz gewisse Höflichkeitsformeln ziemlich gross geschrieben werden. Man sollte auch nicht in einem Café so etwas sagen, wie: "Ich krieg 'ne Cola." Man bittet sogar höflich um die Rechnung. :breitgrins: Das ist, glaube ich, in Deutschland etwas anders.

    Ich habe heute mit "1Q84" angefangen und es gefällt mir bisher mindestens ebenso gut wie der "Schafsmann". Ausserdem entwickle ich allmählich einen Sinn für Murakamis Humor, der ja ein wenig seltsam ist. Schon beim Schafsmann habe ich irgendwann angefangen, die die anderen Figuren irritierenden Witze des Erzählers lustig zu finden (wie Golfspieler "die Ohren spitzen", wenn sie den Rasen prüfen usw.). Auch hier ist z.B. der Dialog zwischen Aomame und dem Glatzkopf in der Bar (Kapitel 5) recht witzig.
    Jetzt kann ich mich jedenfalls auf das Wochenende freuen. :leserin:

    Was ist ein Mensch ohne seinen Schatten? Er ist, verzeihen Sie mir die Wortwahl, ein Schuft!
    Ich habe gestern und heute endlich einmal den "Peter Schlemihl" gelesen und dieses Büchlein hat mir sehr gut gefallen. Die Sprache ist relativ einfach gehalten und gut lesbar, Chamisso gelingen viele wunderbare Formulierungen, in denen die Melancholie, immer wieder aufkeimende Hoffnung und schliesslich die Resignation des armen Schlemihl zum Ausdruck gebracht werden. Es stellt sich natürlich die Frage, wofür der Schatten hier steht, das in meiner Ausgabe enthaltene Nachwort von Thomas Mann schlägt eine nicht allzu allegorische, eher offene Lesart vor, nach welcher das dem Protagonisten abhanden Gekommene gleichwohl für etwas wie "bürgerliche Solidität" gelten kann. Der Schlemihl, so würde ich es sagen, ist einer, der etwas, das bekanntlich "jeder hat", das in Wahrheit aber nun einmal einige nicht haben, mehr oder weniger zufällig verscherbelt hat. Dies ist ihm auch peinlich, so erfindet er mehrmals possierliche Geschichten darüber, wie er seinen Schatten, in den ihm einer reingetreten sei, nur eben zum Ausbessern fortgegeben habe usw.
    Das Ende bringt keine Erlösung, wie man sie bei einer so aus der Trickkiste der Märchen schöpfenden Novelle erwarten könnte. Auf der anderen Seite gelingt es Schlemihl jedoch schliesslich, sich mit seinem Leben als outcast abzufinden, er wird zum Naturforscher, wobei ihm ein paar alte Siebenmeilenstiefel gute Dienste leisten. Dies ist eine überaus lesenswerte, ebenso unterhaltsame wie melancholische Geschichte.
    5ratten

    Dies ist der einzige "Roman" (?) von Arno Geiger, den ich gelesen habe. Mir hat sehr gut gefallen, wie der Autor über die Aufrechterhaltung der Kommunikation im Angesicht der Krankheit schreibt, viele Aussprüche des Vaters sind beinahe komisch und teilweise verblüffend. Es handelt sich dabei freilich um eine einseitige Geschichte, die Perspektive des Kranken bleibt uns verschlossen, was man Geiger natürlich nicht vorwerfen kann. Trotzdem scheint mir die neue Ebene des Gesprächs, die der Sohn sucht und findet, vor allem dessen Bedürfnis nach Kommunikation bzw. seiner Furcht vor ihrem endgültigen Abreissen und nicht zuletzt auch der Literatur zu dienen (eine gewisse Stilisierung ist deutlich spürbar) - es bleibt zweifelhaft, wie viel davon beim Vater überhaupt "ankommt". Die Erklärungsversuche für manche Äusserungen und Gewohnheiten des Kranken aus dessen früherem Leben wirken vielleicht zu gesucht, mit ihnen tut Geiger jedoch das, was zum Erzählen ebenso wie zum Bewältigen von Erfahrung notwendig ist: er entwirft ein Narrativ, das das Vorgefallene begreiflich macht, überschaubar, damit auch erzählbar.
    4ratten

    Ich schätze Jean Zieglers Sachbücher ("Die neuen Herrscher der Welt", "Das Imperium der Schande", "Der Hass auf den Westen", "Wir lassen sie verhungern") sehr, kann mir allerdings vorstellen, dass Belletristik weniger seine Sache ist, obwohl er bei aller Polemik recht gut und anschaulich formuliert. Gelesen habe ich "Das Gold von Maniema" zwar nicht, ich erinnere mich aber, dass Ziegler mehrmals im Fernsehen bei Literatursendungen zu Gast war und dort extrem dogmatisch-politisch argumentiert hat, so dass einem schon vom Zuhören die Lust am Lesen vergehen konnte. :zwinker:

    Ich weiss beinahe nichts über Fotografie, dieses Büchlein habe ich für ein literaturwissenschaftliches Seminar gelesen.
    Der Text birgt eigentlich einen unauflöslichen Widerspruch zwischen der Subjektivität, der Unverallgemeinbarkeit des punctum und dem gleichwohl immer wieder gemachten Versuch, dennoch so etwas wie eine Theorie desselben zu schreiben. Obwohl ich persönlich (was Literatur[-kritik] angeht) eher gegen explizite Punctumerei bin, habe ich "Die helle Kammer" gerne gelesen, vor allem wegen der auch in der Übersetzung schönen Sprache dieses recht persönlichen Büchleins, das im zweiten Teil auch vom Tod der Mutter des Autors handelt. Das punctum (im Unterschied zum studium) ist für mich ein möglicher Antrieb, sich mit Literatur zu beschäftigen, der allerdings sonst niemanden interessiert, im Prinzip auch keinem anderen zugänglich ist.

    Gore Vidal mochte den Truman Capote nicht leiden. Fragte man ihn, weshalb, erklärte er lakonisch: ein Lügner sei das gewesen. Dies ist, scheint mir, kein gutes Kriterium, will man über einen Dichter urteilen. Auf "Kaltblütig" (und Capote überhaupt) bin ich vor Jahren aufmerksam geworden, als ich den Film "Capote" mit dem grandiosen Philip Seymour Hoffman gesehen hatte, welcher just die Entstehungsgeschichte dieses Buches erzählt. Ja, Capote hat manchmal gelogen und manipuliert. Wenn wir dem Film glauben schenken, hat er sich zuletzt sogar den Tod des Perry und des Dick gewünscht, um endlich sein Buch abschliessen und sich etwas anderem zuwenden zu können. Er war schon vorher auf dem besten Wege, ein schwerer Alkoholiker zu werden, hinterher ging es nur noch bergab und Capote hat kein Manuskript mehr vollendet. Über die Qualität von "Kaltblütig" ist mit all dem freilich noch nichts gesagt.
    Der Autor nimmt sich viel Zeit, beschreibt (zugegebenermassen, wie oben von jemandem vermerkt, vielleicht etwas zu bieder) das Dorf, die Familie, die Menschen, man bemerkt sowohl die ebenso in- wie extensive Recherche, als auch die bewusste literarische Stilisierung. Die beiden Täter durchleuchtet Capote noch ausführlicher, ihre ganze Lebensgeschichte wird mit bemerkenswerter Einfühlung nachgezeichnet und selbst eine "Nebenfigur", wie der zum Tode verurteilte, offenbar emotionslose Dicke, bei dem man heute wahrscheinlich eine neuronale Störung feststellen würde, wird mit einem umfangreichen Abschnitt bedacht. Das ganze Buch ist ein Plädoyer für das genaue Hinschauen, für das Verstehenwollen, welches nicht mit Entschuldigen einhergehen muss, darf. Capote verleiht all jenem eine Stimme, das die Richter und Henker nicht interessiert hat, Familie und Freunde der Opfer auch nicht zu interessieren brauchte. Ich las "Kaltblütig", als in Norwegen gerade der Breivik-Prozess stattfand und das Verfahren gegen den Perry und den Dick, mit seiner bewussten Ignoranz für alle psychologischen Aspekte, die die Zurechnungsfähigkeit der Verbrecher in Frage stellen könnten, erschien mir beinahe wie das nicht weniger schädliche Gegenstück zur grotesken Komödie, welche die beiden vermeintlichen Experten, nach deren Vorstellungen die halbe Menschheit unzurechnungsfähig wäre, bei Gericht vorgeführt zu haben sich nicht schämten.


    "Kaltblütig" mag nicht die letzte Wahrheit über alles, was zu diesem brutalen Verbrechen gesagt werden kann, enthalten, es ist aber durchaus ein ernsthafter Versuch, zu verstehen, und, vor allem, schlicht grosse Literatur.
    5ratten

    Philip Roth liegt mir nicht, ich habe mit ihm ähnliche Probleme, wie sie von manchen hier schon beschrieben worden sind. Aber trotz meines persönlichen Unbehagens muss ich zugeben, dass "Der menschliche Makel" ein bedeutender Roman ist. Es ist grandios und immer wieder überraschand, wie Roth die Vergangenheit Colemans Schritt für Schritt aufschlüsselt und den Blick auf ein vielfältiges Panorama, eine reiche Entwicklungsgeschichte dort freigibt, wo zunächst alles ganz einfach zu sein schien. Die Milieuschilderungen und Figuren sind hervorragend gelungen, sehr lebendig, durchaus glaubwürdig. Die einzige Figur, die mich wirklich nicht überzeugt hat, ist Delphine Roux. Oh, und am Ende stellt sich natürlich heraus, dass sie in Wirklichkeit scharf auf den Alten ist, weshalb bin ich nur nicht selbst darauf gekommen.


    Ich mag weder Coleman Silk, noch beabsichtige ich, in näherer Zukunft mehr von Philip Roth zu lesen, es würde mir jedoch schwer fallen, an diesem Roman beträchtliche literarische Mängel zu bennenen. Was mich stört, ist wohl vielmehr der menschliche Makel selbst und diesen hat der Autor im vorliegenden Roman meisterhaft beleuchtet.
    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus: