Norman Mailer - Oswalds Geschichte. Ein amerikanisches Trauma

Es gibt 3 Antworten in diesem Thema, welches 2.169 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von mohan.

  • [size=11pt]Norman Mailer – Oswalds Geschichte[/size]
    Der Fall Lee Harvey Oswald. Ein amerikanisches Trauma
    erschienen 1995 (dt. 1995)



    Am 22. November 1963 ist die ganze Welt schockiert, als der amerikanische Präsident John F. Kennedy während einer Parade erschossen wird. Bereits kurz nach der Tat wird der 24-jährige Lee Harvey Oswald als Täter verhaftet. Norman Mailer hat sich dieses Falles angenommen und ihn in einem umfangreichen Buch intensiv durchleuchtet, wofür er zahlreiche Interviews führte und Aussagen aus den damaligen Verhörprotokollen sichtete. Das Ergebnis ist nach seinen eigenen Worten eine „romanhafte“ Biografie, in der neben den Schilderungen über Oswalds Leben auch viele der Protokolle wiedergegeben werden. Stilistisch ist das Buch dem „New Journalism“ zugeordnet, der nicht nur trockene Fakten zugrunde legt, sondern fehlende bedeutsame Abschnitte erzählerisch einfügt.


    Lee Harvey Oswald wächst als Halbwaise bei seiner Mutter auf. Bereits in der Kindheit pflegt er kaum Kontakt zu Gleichaltrigen, sondern entwickelt sich zu einem Einzelgänger, der sich in seiner selbst gewählten Isolation sicher fühlt. Schon mit etwa 16 Jahren zeigt er erstes Interesse am Kommunismus. Sein Leben steht unter dem starken Einfluss der Mutter, die ihn für intelligent und vielseitig hält, während er tatsächlich ein schlechter Schüler und sportlich ein Versager ist. Dagegen wird ihm bei anderen Gelegenheiten eine hohe Intelligenz bescheinigt, die die Vermutung nahe legt, dass möglicherweise eine Hochbegabung nicht erkannt wurde. Im Laufe der Handlung erweist er sich mehrfach als scharfsinnige, begabte und vielschichtige Persönlichkeit.


    Trotz seiner körperlichen und intellektuellen Schwächen geht er zu den Marines, einer amerikanischen militärischen Eliteeinheit, wo er Schikanen ausgesetzt ist, die ihn in seinem Entschluss bestärken, Amerika den Rücken zu kehren, um dem demokratischen System zu entfliehen. Bereits als unehrenhaft ausgeschiedener Marine steht er unter dem Verdacht, für ein kommunistisches Regime als Spion zu agieren bzw. ganz konkret militärische Geheimnisse an Japan verkauft zu haben, da er mehr Geld zur Verfügung hat, als er auf legalem Weg verdienen konnte.


    Von einem Besuch in der damaligen Sowjetunion kehrt er nicht mehr zurück und beantragt die russische Staatsbürgerschaft, was ihm die Verachtung der Amerikaner und das Misstrauen der Russen einträgt. Als er nach einigen Jahren mit seiner russischen Frau doch wieder in die USA zurückkehrt, ist er für das FBI zwar kein unbeschriebenes Blatt mehr, dass er allerdings mit einer solchen Tat den Nerv der amerikanischen Bevölkerung zutiefst erschüttert, erwartet niemand.


    Mailer arbeitet die Tat akribisch und präzise auf, stellt aber einiges in Frage: War Oswald ein Einzeltäter oder steckte eine Organisation dahinter? War er überhaupt der Schütze? Ein wirkliches Motiv bleibt im Unklaren. Und steckt hinter Jack Ruby, der Oswald zwei Tage später erschoss - nur ein leidenschaftlicher Rächer oder ein Verbrechersyndikat? Am Ende bleibt es dem Leser überlassen, Fakten und Spekulationen abzuwägen und sich sein eigenes Bild zu machen.


    Das Buch rekonstruiert das Leben Oswalds und seine Psyche sehr ausführlich und stützt sich dabei auf unzählige Interviews, Protokolle und Fremdliteratur. Für einen Leser, der sich lediglich über Oswald und das Attentat informieren möchte, finde ich es allerdings zu komplex und vor allem viel zu ausschweifend. Teilweise werden über Seiten hinweg die Lebensläufe von Personen beschrieben, die eher marginal mit dem Fall zu tun haben. Die Objektivität scheint meistens im Vordergrund zu stehen, doch bei einigen Gesprächen zwischen Oswald und seiner Frau, die als Dialog wiedergegeben werden, gelangt das Romanhafte ein wenig zu sehr in den Vordergrund.


    Für die meisten Zitate werden am Ende des Buches Quellenangaben aufgeführt, außerdem gibt es ein Personenverzeichnis, ohne das es schwer gewesen wäre, den Überblick zu behalten.


    3ratten


    [size=9pt]Das Buch ist zwar noch bei Amazon erhältlich, aber leider funktioniert der Link nicht. [/size]

  • Hallo Doris,


    interessante Rezension, danke. Ein paar Bücher über dieses Trauma habe ich gelesen, allesamt eher verschwörungstheoretische Literatur. Das von Mailer, den ich sehr schätze, kenne ich bisher nicht. Was du schreibst, lässt darauf schließen, dass er mit den ganzen verschwörungstheoretischen Auswucherungen nichts am Hut hatte.


    Mailer hat sein Buch doch geschrieben, nachdem der KGB die Akten freigegeben hatte. Nimmt Oswalds Aufenthalt in der Sowjetunion zwischen 1959 und 1962 in dem Buch viel Platz ein? Dann hätte ich, abgesehen davon, dass es von Mailer ist, einen Grund mehr, das Buch zu lesen.


    Liebe Grüße,
    mohan :winken:

  • Hallo mohan,



    Was du schreibst, lässt darauf schließen, dass er mit den ganzen verschwörungstheoretischen Auswucherungen nichts am Hut hatte.


    Ganz frei ist auch dieses Buch nicht von Verschwörungstheorien. Sie beziehen sich allerdings mehr auf die möglichen Auftraggeber von Jack Ruby, dem man sein "Persönliche Rache"-Motiv nicht so ganz abgenommen hat. Dieser Abschnitt nimmt aber nur einen kleinen Teil des Berichtes ein. Oswald wird von Mailer m. E. als Einzeltäter betrachtet, denn er führt z. B. an, dass Oswald sich nach dem Mordversuch an General Walker sieben Monate vor dem Attentat auf JFK für unfehlbar hielt, weil er nicht erwischt wurde, und sich deshalb auch an den Präsidenten wagte. Für mich klangen seine Ausführungen plausibel.



    Mailer hat sein Buch doch geschrieben, nachdem der KGB die Akten freigegeben hatte. Nimmt Oswalds Aufenthalt in der Sowjetunion zwischen 1959 und 1962 in dem Buch viel Platz ein?


    Der Aufenthalt in der Sowjetunion nimmt etwa 240 Seiten in Anspruch, ist also sehr ausführlich.


    Liebe Grüße
    Doris