Hans Waal - Die Nachhut

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    Hans Waal - Die Nachhut


    Inhalt:


    Als der letzte Büchsenöffner abbricht, kommt es in einem geheimen Bunker nahe des Autobahndreiecks Wittstock zur Meuterei: Nach mehr als 60 Jahren unter der Erde ist die eiserne Disziplin von vier alten Männern der Waffen-SS endgültig erloschen und sie beschließen den Ausstieg. Ans Tageslicht treten vier schwer bewaffnete Gespenster der Vergangenheit. Verfolgt von begeisterten brandenburgischen Neonazis, gejagt von Ärzten und der Polizei und begleitet von Fernsehleuten, die zunächst die große Story wittern, bevor sie das ganze Drama der verstörten Opas begreifen, schlagen sie sich durch das wiedervereinigte Deutschland bis in die "Reichshauptstadt" vor.


    Meine Meinung:


    Was für eine absurde Idee, vier Original-Nazis auf unser heutiges Deutschland loszulassen... ein wagemutiges Unterfangen, das sich der Autor da vorgenommen hat. Herausgekommen ist ein Roman, der brillant konstruiert ist, nachdenklich macht und dabei aufs Beste unterhält - eine gelungene Mischung.


    Mit drei verschiedenen Ich-Perspektiven wird die Aufmerksamkeit des Lesers sehr gefordert, aber ich hatte sehr schnell herausgefunden, wer nun wer ist.


    Zum einen bekommen wir die Perspektive des tagebuch- und briefeschreibenden Fritz erzählt, der den Großteil seines Lebens von der Außenwelt abgeschnitten verbracht hat und nun ein Deutschland der Gegenwart durch die Augen eines 20-Jährigen SS-Mannes betrachtet. Dieser Blick auf unser Land und unsere Gesellschaft hat mich sehr fasziniert - schliesslich ist Fritz der Meinung, wir befinden uns immer noch im 2. Weltkrieg und steuern unaufhaltsam auf den Endsieg zu. Wie er das, was er zu sehen bekommt, interpretiert und sich auf seine ganz eigene Weise seinen Reim darauf macht, das ist verwirrend, amüsant, zynisch, abstoßend und bewegend. Ich musste oft lauthals loslachen - aber manchmal blieb mir auch das Lachen im Hals stecken.


    Was dieser Handlungsstrang auch mit sich brachte, war eine gewisse Sympathie für diesen SS-Mann, der da so naiv durch die Gegend stolpert, aber auch ein Hauch von einer Ahnung, wie es passieren konnte, dass den Menschen damals der Blick für die Wirklichkeit verwehrt blieb bzw. wie die Wahrheit verdrängt oder verwässert wurde. Mit geschicktem Einsatz von Elementen wie zum Beispiel der Wehrmachtsausstellung oder dem Holocaust-Denkmal lässt der Autor seinen Protagonisten ganz langsam das Ausmass der Katastrophe erkennen, was zu sehr nachdenklich machenden und bewegenden Szenen führt.


    Außerdem haben wir noch weitere zwei Ich-Erzähler, nämlich den Jungjournalisten Benny und Evelyn, die Leiterin eines Neonazi-Sonderkommandos, die in einer dialogartigen Weise ihre Sicht auf die Ereignisse schildern und durch deren Augen die SS-Männer einschliesslich Fritz ein ganz anderes Bild ergeben. Hier hat der Autor ganz geschickt die Rolle des Sensationsjournalismus und auch der Politik eingeflochten, und ich kann nur Beifall klatschen, wie raffiniert die Personen und Ereignisse am Ende zusammenpassen und verknüpft sind.


    Sprachlich fand ich die Lektüre ebenso facettenreich wie die Figuren; der Autor hat für seinen jeweiligen Ich-Protagonisten den perfekt passenden Sprachstil benutzt. Ein Buch, das mich gleichzeitig so bewegt und auf eine skurille und zynische Art und Weise unterhält, hat in jedem Fall die Höchstbewertung verdient und ich wünsche dem Roman noch sehr viele Leser.


    Viele liebe Grüße
    Miramis


    5ratten

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Hier endlich auch meine Rezi nach der Leserunde:


    Ende März 2004 passiert in einem unterirdischen Bunker in Brandenburg das Undenkbare: der letzte Büchsenöffner bricht ab! Damit bleibt Fritz, Josef, Otto und Konrad nur ein die Möglichkeit, ihren Bunker, die Heimat der letzten 60 Jahre, zu verlassen und sich zur Reichshauptstadt Berlin durchzuschlagen, um neue Befehle zu empfangen. Doch während ihres Exils unter der Erde hat sich einiges verändert und in unserer modernen Welt fallen die vier Fossilien auf. Neben der Polizei und den Medien werden sie auch von Neonazis verfolgt, die in ihnen ihre Vorbilder sehen. Doch sind die vier Senioren, die als junge Menschen den Bunker betraten und dort beinah ihr gesamtes Leben zubrachten, wirklich die Monster, die alle in den Nazis sehen?


    Aus drei verschiedenen Blickwinkeln verfolgt der Leser die rasante Handlung, die sich an nur 6 Tagen abspielt: zum einen wäre da Benny, der Assistent eines Kameramannes, dann Evelyn, die zur Leiterin einer Spezialeinheit zur Bekämpfung des Rechtsextremismus befördert wurde, und schließlich Fritz, der jüngste der vier Nazi-Relikte. Während Bennys und Evelyns Passagen Einblicke in die politischen Ränkespiele eröffnen, die durch das Auftauchen der Bunkerbewohner in Gang gesetzt werden, bieten Fritz Tagebucheinträge dem Leser einen vollkommen anderen Blickwinkel auf unsere moderne Welt, in der Gesichtspiercings schon mal als Granatsplitter interpretiert werden und sich die Frage stellt, wie schlecht es unserem Gesundheitswesen geht, wenn so etwas nicht behandelt wird. Gelungen schafft der Autor an diesen Stellen die Gratwanderung, dass man sowohl über die Schilderungen lachen kann, aber einem das Lachen bald darauf in der Kehle stecken bleibt, ohne gleichzeitig von der Moralkeule erschlagen zu werden.


    Etwas verwirrend hingegen waren zu Beginn die Perspektivwechsel. Während Fritz Passagen als Tagebucheinträge eindeutig zu erkennen waren, sind sowohl Bennys als auch Evelyns Abschnitte, in denen beide als Ich-Erzähler auftreten, schwer auseinander zu halten. Dies gab sich jedoch im Laufe des Buches und am Ende ergibt sich auch, wodurch dieser eigenwillige Stil bedingt war. Ein Vorteil der drei Ich-Erzähler ist, dass man sehr gut ihre jeweiligen Gedanken und Gefühle nachvollziehen konnte, die sich streckenweise deutlich von der jeweiligen Handlungsweise unterschieden. Durch diese inneren Zwiespälte gewinnen die Hauptpersonen an Tiefe und nachdem man den Handlungsrahmen erfasst hat, fiebert man mit ihnen mit.


    Insgesamt gesehen hat es der Autor mit diesem Buch geschafft, einerseits einen spannenden Roman vorzulegen, aber andererseits auch den Leser zum Nachdenken zu bringen, wobei die üblicherweise mit dem Thema Drittes Reich zusammenhängenden Moralpredigten vermieden werden. Statt dessen sorgen leisere Töne dafür, dass man von selbst ins Grübeln gerät und dafür gibt es von mir 4ratten

  • Was für ein böses Buch! Ich kann mich Miramis und Myriel nur anschließen. Diese Geschichte hält den Spiegel vor und jeder bekommt sein Fett weg: ob Journalisten, Polizei, Politiker, Historiker, Alt- und Neonazis - keiner kommt bei Hans Waal gut weg. Als die vier Alten aus ihrem Bunker kriechen, gerät die heile Welt, die sich die Gesellschaft inzwischen gebastelt hat, gehörig aus dem Takt. Die Vier stolpern durch eine Welt, die sie nicht verstehen können und die sie sich aus ihrer Sicht zu erklären versuchen. So entlarvt Hans Waal unerbittlich den Zeitgeist, heimliche Sympathisanten, Berufsgutmenschen, Politischkorrekte und die Faszination des Bösen.
    Und es kommt immer wieder zu absurden Situationen und Begegnungen. Am besten hat mir die Szene gefallen, in der Fritz und Kurt eine ganze Zeit miteinander reden, alten Zeiten nachtrauern und vom jeweils anderen glauben, er sei ein Bruder im Geiste. Fritz, der Waffen-SSler und Kurt, der Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit.
    Durch die drei Erzählperspektiven Fritz, Evelyn und Benny bekommt das Buch Tiefe und Transparenz - und Menschlichkeit, denn bedauern kann man sie schon, die vier Männer, die ihr Leben verschwendet haben.


    5ratten