Hanns-Josef Ortheil - Faustinas Küsse

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    Inhalt:
    Giovanni Beri ist ein junger Taugenichts, der sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Auf der Piazza del Popolo beobachtet er, wie ein seltsamer Fremder in Rom ankommt und bietet diesem an sein Gepäck zu seiner Unterkunft zu transportieren. Schnell kommt Beri zu dem Schluß, dass der Fremde ein anderer ist als er zu sein vorgibt ("Fillipo Miller, Maler") und beschließt, dass der Heilige Vater über den geheimnissvollen Neuankömmling unterrichtet werden muss. Prompt wird er zum Spion des Vatikan und folgt dem Fremden auf Schritt und Tritt.


    Meine Meinung:
    Schon mit der ersten Szene hatte Ortheil mich in seinen Bann geschlagen: Beri, der gerade genüßlich eine Portion Maccaroni verdrückt, beobachtet wie der rätselhafte Fremde ankommt, sich seltsam gebärdet, sich reckt und streckt und über die Piazza flitzt. Eine herrliche Einstiegsszene! Und auch gleich ein wunderbares Beispiel dafür, was für mich den großen Reiz dieses Romans ausmacht: die Atmosphäre. Ortheil versteht es hervorragend die römische Atmosphäre einzufangen, teilweise hatte ich das Gefühl, dem jungen Beri durch die Gassen der Stadt zu folgen. Und dazu gibt es ausreichend Gelegenheit. Der Fremde, in dem man recht schnell den Geheimen Rat von Goethe aus Weimar erkennt, irrt wie ein "typischer Romreisender" von einer antiken Stätte zur nächsten. Doch abgesehen von der falschen Identität bietet auch Goethes Verhalten sehr bald Futter für Beris Bespitzelungen: er wird in konspirative Treffen verwickelt, dessen Anführer er sogar ist, schreibt zahlreiche ominöse Briefe, die niemand sehen darf, und spricht ketzerisch über den Papst. Zu allem Überfluß muss Beri schließlich feststellen, dass er einen Konkurrenten hat, der die Unterkunft des Fremden beschattet.
    Während der Beschattung passiert aber auch etwas viel Wesentlicheres: Beri studiert Verhalten und Charakter des Fremden und fühlt sich ihm unweigerlich immer verbundener, als beide sich schließlich begegnen verbindet sie bald eine wahre Freundschaft. Beris Beobachtungen des Alltags der ausländischen Künstlergemeinde, zu der auch J. H. W. Tischbein, Angelika Kaufmann und Karl Philipp Moritz gehören, gefielen mir ausgesprochen gut, auch wenn der eigentliche, römische Alltag dabei in den Hintergrund rückt. Dabei schafft Ortheil es, das große Aufgebot historischer Personen glaubhaft darzustellen. Besonders was Goethe anbelangt kam mir der Gedanke, dass er seine Tage in Rom durchaus so verbracht haben könnte... Das alles geschieht mit einem Augenzwinkern, wenn zum Beispiel Beris Vorurteile zu Deutschen, Diplomaten und Poeten nach und nach demontiert werden. Und natürlich bleibt Beri der Mittelpunkt der Geschichte, der Leser sieht die Fremden also immer durch die Augen eines Mannes, der durch und durch Römer ist und allem Nicht-Römischen skeptisch gegenüber steht.
    Faustina, Beris Geliebte und titelgebende Küssende, spielt übrigens erst gegen Ende eine entscheidende Rolle. Bis Ortheil die Liebesgeschichte aufnimmt bedient er sich der Elemente eines historischen Spionageromans, eines Entwicklungsromans mit Familientragödie sowie der Biografie Goethes. Und trotzdem erzählt er mit einer unglaublichen Ruhe und pointierten, poetischen Sprache - womit wir wieder bei der Atmosphäre sind.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Viele Grüße
    Breña

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

    Einmal editiert, zuletzt von Breña ()

  • Zwar hatte ich Breña das Buch geliehen, weil ich es von meiner eigenen Lektüre ausgesprochen positiv in Erinnerung hatte, aber viele Details könnte ich nicht mehr liefern. Daher bin ich für die Auffrischung durch Breñas Kommentar dankbar, der mir zeigt, daß ich es unbedingt wieder einmal lesen sollte. Weil es aber doch etwas ungewöhnlich war, will ich kurz erzählen, wie ich auf dieses Buch gestoßen bin.


    Ich mußte an einem Samstag sehr früh morgens für ein Seminar nach Hagen fahren, zur Vorbereitung auf meine erste Klausur in Geschichte (und die erste im Rahmen des Studiums überhaupt). Mangels geeigneteren Programms hatte ich WDR3 eingeschaltet (für alle Nicht-NRWler: das ist hier der Klassiksender). Der Moderator erzählte nach einem Musikstück, es sei von (ich bin nicht mehr ganz sicher, welches der drei möglichen Jahre er nannte, der Einfachheit halber setze ich mal das mittlere :breitgrins: ) 1787, und dieses Jahr würde in der Sendung noch ganz besondere Rolle spielen. Aha, dachte ich, schön, und weiter? Weiter verriet der Moderator erst mal nichts, dafür kam eine andere Stimme, die eine Szene schilderte, die mich sofort gefangen nahm. Ein junger Mann sitzt an der Piazza del Popolo, hält einen Teller mit fettgetränkten Maccheroni, die ihm herunterhüpfen, als er lacht, und beobachtet die Ankunft eines seltsamen Fremden, der über die Piazza läuft, so daß ihn die Ordnungskräfte, die seine Ankunft registrieren müssen, kaum einholen können. Das ganze Bild war derartig lebendig, daß ich am liebsten auf der Autobahn angehalten hätte, um es besser auf mich wirken zu lassen.


    Ob es das ganze erste Kapitel oder nur ein Teil davon war, weiß ich nicht mehr, jedenfalls hatte Ortheil dies im Studio selbst gelesen, und nach dieser Impression wurde natürlich auch das Rätsel um das Buch und damit auch um dieses ominöse Jahr gelöst. Ortheil erzählte auch über seine Erfahrungen in Rom, wo er ja längere Zeit gelebt hat. Es gab dann noch ein Gespräch mit dem Leiter eines Goethe-Museums oder -Hauses (weiß ich auch nicht mehr genau, ist immerhin zwölf Jahre her :ohnmacht: ), der meinte, man könne sich mit diesem Roman Goethe prima jenseits von Gipsbüsten nähern. Das alles hat mich so überzeugt, daß ich am Montag in der Buchhandlung stand und den Roman gekauft habe. Dann habe ich ihn abends angefangen zu lesen, und weil so viel von Rotwein die Rede war, habe ich mir dann auch noch ein Gläschen dazu gönnen müssen, und irgendwann habe ich es dann zugeklappt und hätte in dem Moment nicht mal sagen können, was für eine Geschichte darin passiert war, weil ich mich von der Sprache so habe wegtragen lassen (dafür war aber die Flasche mit dem Rotwein so gut wie leer, da muß jemand mitgetrunken haben). Ich habe es dann zwei oder drei Tage später noch einmal gelesen, weil ich es blöd fand, ein Buch gelesen zu haben, dessen Handlung ich nicht mal wiedergeben konnte, weil ich sie nicht wahrgenommen habe.


    Das hat zwar alles nur sehr am Rande mit dem Buch zu tun, aber es erklärt zumindest, warum ich diesen Roman schon mehrfach mit gutem Erfolg verschenkt habe und ihn auch bedenkenlos Breña zur Überwindung einer Lesekrise wegen einer Serie schlechter Lektüren empfehlen konnte :breitgrins:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Deine Buchkritik find ich interessant, aber den Kommentar dazu von dir selbst noch viel interessanter. :smile:
    Irgendwie finde ich solche Begleitumstände immer höchst spannend und finde, sie sagen noch mal viel mehr über den Bezug von jemandem zu einem Buch oder dessen Inhalt aus, wenn man ein bisschen was von "Drumherum" kennt. Toll! :daumen:


  • Deine Buchkritik find ich interessant, aber den Kommentar dazu von dir selbst noch viel interessanter. :smile:


    Obwohl wir einen sehr ähnlichen Lesegeschmack haben ist das noch kein Grund uns nicht auseinanderhalten zu können. :zwinker:

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges


  • Obwohl wir einen sehr ähnlichen Lesegeschmack haben ist das noch kein Grund uns nicht auseinanderhalten zu können. :zwinker:


    Upps ... äh ... naja, fand deine Kritik prima und Aldawens Kommentar spannend ... besser? :redface:

  • Schöne Rezi - sehr interessant. Das subt bei mir auch noch - ich fand den Klappentext einfach interessant, habe aber noch nichts von ihm gelesen.Bin schon sehr gespannt ob mich Ortheil auch so einfangen kann.
    Ist mein nächstes Büro-Mittagspausen-Buch.

    Liebe Grüße JaneEyre

    Bücher haben Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht zurück.

    Theodor Fontane


  • Bin schon sehr gespannt ob mich Ortheil auch so einfangen kann.


    Ich hoffe, Du lässt es uns wissen! :winken:

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Hanns-Josef Ortheil - "Faustinas Küsse"


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    Goethe in Italien. Ein italienischer "Spion" bzw. Taugenichts, Giovanni Beri, heftet sich an seine Fersen, spioniert ihn für den "Heiligen Vater" aus, ist aber mehr und mehr fasziniert von ihm.


    Zuerst eine Wahrnung: Lest den Klappentext, zumindest den der Taschenbuchausgabe, nicht! Er verrät Dinge, die im eigentlichen Plot erst ganz zu Ende geschehen!


    Leider hat mich Ortheil nicht derartig gefangen nehmen können wie Breña und Aldawen. Zuerst einmal habe ich ewig gebraucht, um den Roman zu lesen. Die Atmosphäre mag typisch römisch sein, so gut kenne ich Rom nicht (auch wenn ich schon 3 x dort war), aber mir ging sie teilweise arg auf die Nerven. Vor allem Giovanni Beri! Dessen Gedankengänge wir verfolgen, wie sie sich immer weiter aufbauen und meistens im Crescendo enden! Und dies kann mir keiner nehmen, aber ich hasse diese inflationäre Verwendung von Ausrufezeichen!
    Andererseits ist dies natürlich ein Stilmittel. Viel besser als eine bloße Beschreibung bringt es uns die oft anstrengenden Charakterzüge Beris näher.


    Die Geschichte selbst war mir gleichzeitig zu ruhig, meine Antipathie hat mich teilweise die Gedankengänge Beris nur überfliegen lassen, um endlich zu wissen, wie es denn weiter geht. Und manchmal, so scheint es mir, ist die Geschichte auch gar nicht so wichtig, Beri selbst ist der Träger des ganzen, der Römer und Rom wird kontrastiert mit dem "Norden", alles andere ist nur Zierde. So gesehen ist natürlich die Entwicklung am Ende sehr schön und gelungen.


    Trotzdem: Meist war ich nach ein paar kurzen Kapiteln so genervt von Beri und seiner Art sich auszudrücken, dass ich irgendetwas anderes lesen musste. Dabei spreche ich dem Buch seine Faszination nicht ab. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte es sicher auch für mich eine wunderbare Lektüre sein (beim nächsten Besuch in Rom?), aber im Moment haben wir uns nicht ganz gefunden, wenn auch nur relativ knapp verfehlt.


    Ich gebe, für die schönen Momente während des Lesens, für die lustigen Momente und im Bewusstsein einige Verwicklungen noch überdenken zu müssen:


    3ratten

    Auch ungelebtes Leben<br />geht zu Ende<br />- Erich Fried


  • Leider hat mich Ortheil nicht derartig gefangen nehmen können wie Breña und Aldawen.


    Schade! Allerdings hatte ich das schon fast befürchtet, nachdem ich Dich mit meiner Euphorie so überschüttet habe ... Mir gefiel die Sprache ja wirklich gut, und Beri war mir offenbar auch sympathischer als Dir. Die nächste Empfehlung werde ich zurückhaltender aussprechen. ;)

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Schade! Allerdings hatte ich das schon fast befürchtet, nachdem ich Dich mit meiner Euphorie so überschüttet habe ... Mir gefiel die Sprache ja wirklich gut, und Beri war mir offenbar auch sympathischer als Dir. Die nächste Empfehlung werde ich zurückhaltender aussprechen. ;)


    Oh nein, halte dich bloß nicht zurück! :bussi: Wäre ja unheimlich, wenn die Meinungen immer konform wären, und bereuen tu' ich es außerdem auch überhaupt nicht. :smile:

    Auch ungelebtes Leben<br />geht zu Ende<br />- Erich Fried