[China] Su Tong – Die Tränenfrau

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    Vom Buchrücken und aus dem Klappentext:


    „Die Geschichte der Meng, einer Frau, die mit ihren Tränen die Große Mauer zum Einsturz bringt, ist weniger eine traurige als vielmehr eine optimistische Geschichte. Und sie erzählt nicht nur von einer Frau, die mit ihren Tränen die endlos lange Odyssee auf der Suche nach ihrem Mann beendet, sondern auch von einer Frau, die sich mit ihren Tränen aus einer ungeheuren Bedrängnis befreit.“ –– Su Tong


    „Ich freue mich, dass Die Tränenfrau nun Bekanntschaft mit Lesern aus aller Welt schließen kann. Die Geschichte der treuen Meng (eigentlich: Mengjiangnü), die mit ihren Tränen die Große Mauer zum Einsturz bringt, erzählt man sich in China seit rund 2000 Jahren. Es ist ein Mythos, der vom Volk fürs Volk weitererzählt wurde – nun erfreulicherweise auch über die Landesgrenzen hinaus.
    Eine solche Geschichte, die jeder kennt, neu zu erzählen, stellt einen Autor unausweichlich vor ein großes Problem. Ein jeder trägt in seinem Herzen eine eigene Meng. Die Meng, wie ich sie vestehe, ist vor allem eine Frau – eine Frau, die reinen Herzens ist und lang vergessene Gefühle weckt; und in ihrem Schicksal drückt sich im Grunde das Leiden, ja das Wesen der Existenz an sich aus. Ihre Geschichte ist nicht nur die Legende einer Frau aus armen Verhältnissen, sondern die Legende einer ganzen Gesellschaftsschicht. Ich war an der Großen Mauer und auch in dem Tempel, welcher der treuen Meng geweiht ist, doch sie selbst habe ich nicht gesehen. Aber wer hat das schon? Im Roman habe ich versucht, ihr ein Band in die Hand zu geben, an dem sie mich mit sich führt, über die 2000 Jahre in Raum und Zeit hinweg – denn genau wie sie wollte auch ich zur Großen Mauer gehen!“ –– Su Tong


    Su Tong, geboren 1963 in Suzhou, ist einer der wichtigsten Autoren Chinas. Er studierte Chinesische Literatur an der Universität von Beijing. 1991 gewann der Film nach seinem Roman Die Rote Laterne den Silbernen Löswen beim Filmfestival in Venedig und wurde für den Oscar nominiert. Su Tong lebt in Nanjing, China.


    [hr]


    Saltanah und ich lesen das Buch im Rahmen des diesjährigen Wiener SLW und werden uns in den nächsten Tagen hier ein bißchen über unsere Leseeindrücke austauschen.

  • Ich habe vorhin das Vorwort und die ersten vier Kapitel gelesen (das vierte heißt in der deutschen Ausgabe Pfirsichdorf), und ich muß gestehen, daß ich noch nicht so recht weiß, was ich davon halten soll. Ich habe das Gefühl, daß einiges an Symbolik bei mir anders ankommt als es bei einem Chinesen der Fall wäre, bei dem Frosch z. B. bin ich mir da fast sicher. Überhaupt stellt mich die Gedankenwelt der Herkunft und des Weggehens/Sterbens vor ein Problem. Wiedergeburt ist schon nichts für mich, aber die Verwandlung in Pflanzen geht mir dann doch zu weit. Und ist die Fähigkeit, mit allen möglichen Körperteilen außer den Augen zu weinen, nun einfach nur ein märchenhaftes Motiv oder steckt auch dahinter etwas kulturell ganz anderes/wichtiges? Ich habe keine Ahnung ...


    Die ganze sprachliche Ausgestaltung, also Perspektive wie Tonfall, wirken auf mich nicht einfach distanziert, sondern irgendwie ... indirekt, als würde nie genau das gesagt, was gerade im Zentrum der Handlungen und Gedanken steht, sondern etwas daneben. Ich weiß nicht recht, wie ich das beschreiben soll. Es liest sich zwar nicht unangenehm, aber mir fehlt durch diese Form etwas.

  • Ich habe gestern abend noch das 5. Kapitel "The People Market" beendet.


    Auch mir scheint, dass mir eine Menge kulturelles Wissen fehlt. Gerade das von Su Tong im Vorwort angesprochene

    Zitat

    Eine solche Geschichte, die jeder kennt

    stellt mich vor Probleme. Ich habe von Binu noch nie gehört und kann nur raten, wie sich die Geschichte mit dem für Chinesen normalen Vorwissen liest.


    Die Sache mit der Wiedergeburt als Pflanze habe ich einfach hingenommen. An sich ist ja "Wiedergeburt" im asiatischen Raum eine gängige Vorstellung, wobei mich allerdings die eigentlich logische Umkehrung, das nämlich eine Pflanze als Mensch wiedergeboren wird ("a mushroom reborn as a woman", 4. Kap.), erst mal verblüfft und mir dann ein Grinsen entlockt hat. Dass ein Mensch in einem früheren Leben ein Tier oder eine Pflanze war, erscheint mir eine ganz normale Vorstellung, aber der daraus resultierende Gedanke, dass also eine Pflanze in einem späteren Leben zu einem Mensch wird, war mir irgendwie noch nie gekommen.
    Zu dem Flaschenkürbis (? englisch "gourd"), der im Kapitel "Pfirsichdorf" eine so große Rolle spielt, und den Binu vor dem Entzweigeschnitten werden retten will kam mir der Gedanke, dass es da eine Parallele zu Binu selbst gibt: eine Hälfte von ihr, ihr Mann nämlich, ist von ihr getrennt worden und sie macht sich jetzt auf die Suche nach ihm.


    Zur Bedeutung des Frosches in China habe ich keine Ahnung, aber was die Tränen angeht, frage ich mich, ob das Weinen aus anderen Körperteilen nicht einfach dafür steht, dass Trauer (und Gefühle überhaupt) immer irgendwie einen Weg nach außen finden muss, dass sie nie ganz unterdrückt werden kann.


    Wie so oft bei chinesischer Literatur und auch chinesischem Film schockiert mich die Gefühllosigkeit der Mitmenschen, die sich wenig hilfsbereit zeigen, sich offen am Unglück anderer ergötzen und dieses sogar gezielt noch vermehren. Nun glaube ich nicht, dass Chinesen schlechtere Menschen als andere sind, oder das andere weniger Schadenfreude verspüren, aber die Offenheit, mit der diese weniger schönen Seiten der Menschen gezeigt und ausgedrückt werden, erscheint mir doch spezifisch chinesisch. Allerdings gibt es doch auch Gegenbeispiele von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft.


    EDIT: Wikipedia schreibt unter "Chinesische Symbole" folgendes:

    Zitat

    # Kröte(Frosch) (蛤蟆 háma) – Langes Leben, unerreichbare Wünsche, Unverwundbarkeit; eines der fünf Gifttiere

    Das passt ja in diesem Zusammenhang.

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()


  • Ich habe gestern abend noch das 5. Kapitel "The People Market" beendet.


    Das ist bei mir, wenn ich richtig gezählt habe, das sechste. Und ich habe gerade bis einschließlich des Folgekapitels Die Immerfrühlingsburg gelesen.



    Wie so oft bei chinesischer Literatur und auch chinesischem Film schockiert mich die Gefühllosigkeit der Mitmenschen, die sich wenig hilfsbereit zeigen, sich offen am Unglück anderer ergötzen und dieses sogar gezielt noch vermehren. Nun glaube ich nicht, dass Chinesen schlechtere Menschen als andere sind, oder das andere weniger Schadenfreude verspüren, aber die Offenheit, mit der diese weniger schönen Seiten der Menschen gezeigt und ausgedrückt werden, erscheint mir doch spezifisch chinesisch. Allerdings gibt es doch auch Gegenbeispiele von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft.


    Das ist in der Tat auffällig und vielleicht einer der Gründe, warum ich mich mit Literatur aus diesem Land so schwer tue. Dieses Verhalten zwischen Gleichgültigkeit und Demütigung stößt mich einfach ab. Das war im Kapitel Der Menschenmarkt schon widerlich, und es wird im nachfolgenden nicht besser, im Gegenteil. Außerdem beginnt mich Binu schon jetzt zu nerven. Wie blöd kann man denn eigentlich sein? Wenn ich doch schon mehrfach mit dem Versuch aufgelaufen bin, Mitreisende für diese Wahnsinnstour zu finden, dann halte ich doch irgendwann einfach die Klappe darüber und überlege mir eine glaubhafte Story. Ehrlich, diese Frau ist so dämlich, das geht auf keine Kuhhaut.


    Auch habe ich immer noch das Gefühl, das wesentliche Infos an mir vorbeilaufen, weil ich Ortsnamen, die wahrscheinlich eine spezifische Bedeutung haben, sowie andere Symbole nicht entschlüsseln kann. Warum z. B. sind das nun ausgerechnet Hirschkinder? Ich glaube nicht, daß das zufällig ist, aber ich habe keine Vorstellung, warum es ausgerechnet diese sein müssen. Ein Nachwort oder Glossar oder sonst etwas in der Richtung, in dem dergleichen für den durchschnittlichen europäischen Leser erläutert wird, wäre mehr als hilfreich :sauer:

  • Inzwischen bin ich sieben Kapitel weiter, bis inklusive Die Hofleute. Zwar verstehe ich jetzt, was es mit Hirsch- und Pferdemenschen auf sich hat, aber der Zweck für die Geschichte erschließt sich mir immer noch nicht. Auch dieser Frosch beginnt lästig zu werden. Von mir aus soll es die verwandelte alte Frau sein, aber kann sie sich dann nicht bitte bald für einen Menschen als ihren Sohn entscheiden?


    Binu hat, wenn es ums Weinen geht, offensichtlich ein paar ihr selbst unbekannte Fähigkeiten, die sie aber wohl nicht steuern kann. Aber von einem Baum einen Ast herunterzuweinen, ist ja schon mal kein schlechtes Kunststück. Allerdings wird sie bestimmt noch ein bißchen üben müssen, bis aus einem heruntergeweinten Ast eine zusammenbrechende Große Mauer wird, daher schwant mir schon Schreckliches für den weiteren Fortgang der Geschichte ...


    Ich kann nicht einmal behaupten, daß ich den Roman schlecht finde, mit Mängeln wie in Ugrešić' Baba Jaga legt ein Ei oder selbst nur Schwächen wie bei Jančars Der Wandler der Welt, aber es läßt mich schlicht kalt. Dafür sind rund 460 Seiten dann doch eine ganze Menge Text :rollen:

  • Ich habe nun das 11. Kapitel "The River Bend" beendet. Auch mir ist ein Rätsel, worauf Su Tong mit dem Buch hinaus will. Teils liegt das sicher an den schon erwähnten mangelnden chinaspezifischen Vorkenntnissen, aber ob es nur das ist? Ich habe nach "Meng Jiangnü" gegoogelt und mir einige Varianten der Geschichte durchgelesen, aber auch das hat mir nicht weiter geholfen. Zwar weiß ich jetzt, dass sich Su Tong z. B. die Sache mit dem Kürbis nicht ausgedacht, sondern nur abgeändert/erweitert hat, nur was soll ich jetzt mit diesem Wissen anfangen?
    Die Geschichte an sich finde ich schon ansprechend und ich würde gerne mehr über sie lesen. Leider hat keine schwedische Bibliothek Meng Jiangnü Brings Down the Great Wall: Ten Versions of a Chinese Legend. Google Bücher hat zwar den größten Teil des Textes, aber mir ist das Lesen am Bildschirm zu anstrengend.


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    Im Kapitel "Gravedigging" begann ich mich zu fragen, ob ich vielleicht ganz falsch an diese Geschichte herangegangen war. Ich hatte es für eine ernste, tragische Geschichte gehalten, aber hier gerät sie zur Farce. Wie Binu Nacht für Nacht auf ihren Tod wartet und jeden Morgen enttäuscht wieder aufwacht, hat durchaus eine gewisse Komik. Ob diese beabsichtigt ist?
    Auch die Verwendung von Menschen als Reittieren und als Jagdbeute in "The River Bend" hat bei allem Entsetzen, das der Gedanke bei mir hervorruft, absurde, komische Züge. Vielleicht sollte ich das Buch lieber wie eine Bauernkomödie lesen.


    Schwierigkeiten macht mir auch der Stil. Teilweise hat zumindest die englische Übersetzung auf mich modern wirkende oder umgangssprachliche Ausdrücke, die ich nur schwer mit dem sagenhaften Stoff in Einklang bringen kann. "Emotionally overwrought" oder "traumatized" sind Ausdrücke, die ich in einem Märchen oder einem historischen Roman nicht erwarte.



    es läßt mich schlicht kalt.


    Das trifft auch auf mich weitgehend zu. Aber ab und zu gibt es dann Formulierungen, die mich direkt ins Herz treffen und bei denen ich das Gefühl habe, sie könnten zu einem viel besseren Buch gehören.



    Dafür sind rund 460 Seiten dann doch eine ganze Menge Text


    460 Seiten? :entsetzt: Wie kann man das Buch denn so sehr aufblähen? Meine englische Ausgabe hat 290 Seiten und selbst die sind nicht besonders eng bedruckt, wie bei den Canongateausgaben der Mythenserie üblich. Nur 25 Zeilen pro Seite sind schon extrem wenig; man könnte den Text wahrscheinlich problemlos auf gut 200 Seiten unterbringen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Eben habe ich das 19. Kapitel "Binu" beendet.
    Die letzten Kapitel, die in der Five-Grain City spielen, haben mir relativ gut gefallen. Sobald sich das Buch nicht ganz auf Binu konzentriert, wird es interessanter. Wie in so vielen anderen Büchern kann ich auch hier feststellen, dass ich in jenem Land zu jener Zeit nicht gelebt haben wollte. Wie hier mit Menschen umgegangen wird, wie recht- und wehrlos und Übergriffen der Stärkeren hilflos ausgeliefert sie sind, beschreibt Su Tong hier ziemlich deutlich. Wie die normalerweise Hilflosen dann die Gunst der Stunde nutzen, plötzlich Amok laufen, und die ganze Stadt plündern, war dann eindringlich beschrieben. In so einen Mob möchte ich nie hineingeraten, vor allem weil auch er nicht irgendwie "besser" ist oder moralischer handelt als die Mächtigen. Die Altkleiderhändlerin fasst das ganz richtig zusammen: "Die Armen bestehlen die Armen."


    Aber was hat das alles mit Binu und ihrer Suche nach ihrem Mann zu tun? Wann wird sie endlich an der Mauer ankommen und diese durch ihre Tränen zum Einsturz bringen? Allmählich gehen mir die Seiten zu Ende und sie ist noch immer nicht in der Nähe der Mauer. Oder spart Su Tong diese Szene ganz aus und ersetzt sie durch diverse andere Heulszenen?

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • 460 Seiten? :entsetzt: Wie kann man das Buch denn so sehr aufblähen? Meine englische Ausgabe hat 290 Seiten und selbst die sind nicht besonders eng bedruckt, wie bei den Canongateausgaben der Mythenserie üblich. Nur 25 Zeilen pro Seite sind schon extrem wenig; man könnte den Text wahrscheinlich problemlos auf gut 200 Seiten unterbringen.


    Ich habe mittlerweile fast den Eindruck, die englische Ausgabe ist gegenüber der deutschen gekürzt. Normalerweise kann man ja sagen ist die englische Fassung um rund ein Drittel kürzer als die deutsche, aber hier muß es mehr sein, denn der Text in der deutschen Ausgabe ist zwar anderthalbzeilig gesetzt, aber trotzdem mit 30 Zeilen pro Seiten, durchschnittliche Zeichen habe ich nicht gezählt. Was mich in der Annahme bestärkt, ist das hier:



    Eben habe ich das 19. Kapitel "Binu" beendet.


    Ich habe auch ein Kapitel Binu, aber mir kam das mit der 19 so komisch vor, deshalb habe ich gerade mal die Kapitel zusammengestellt:


    0 – Vorwort
    1 – Der Nordberg
    2 – Die Tränen
    3 – Der Frosch
    4 – Pfirsichdorf
    5 – Die Blaugrasschlucht
    6 – Der Menschenmarkt
    7 – Die Immerfrühlingsburg
    8 – Die Hirschmenschen
    9 – Die Zugbrücke
    10 – Das Grab des Hirschkönigs
    11 – Unter dem Baum
    12 – Die Pferdemenschen
    13 – Der Totengräber
    14 – Die Hofleute
    15 – Qinsu
    16 – Die Sterbehymne
    17 – Der Fürst
    18 – Am Ufer
    19 – Der Schwarzwolken-Paß
    20 – Die Duftwald-Station
    21 – Siebenhöhlen
    22 – Die Reichsstraße
    23 – Kornstadt
    24 – Die Tränensuppe
    25 – Das blaue Kleid
    26 – Die Häscher
    27 – Der Attentäter
    28 – Am Stadttor
    29 – Der Kaiser
    30 – Binu
    31 – Der Norden
    32 – Dreizehnstätten
    33 – General Jian
    34 – Die Hatz
    35 – Die große Mauer


    Demnach wärst Du ja in der deutschen Ausgabe schon bei Kapitel 30 (ich bis inkl. 19). Kannst Du anhand der Überschriften ableiten, ob Dir das alles in Deiner Ausgabe untergekommen ist? Irgendwie ist das doch recht merkwürdig :gruebel:



    Zwar weiß ich jetzt, dass sich Su Tong z. B. die Sache mit dem Kürbis nicht ausgedacht, sondern nur abgeändert/erweitert hat, nur was soll ich jetzt mit diesem Wissen anfangen?


    Keine Ahnung, ich kann Dir da auch nichts zu anbieten.



    Die Geschichte an sich finde ich schon ansprechend und ich würde gerne mehr über sie lesen.


    Nee, ich denke, da kann ich mich zurückhalten :zwinker:



    Im Kapitel "Gravedigging" begann ich mich zu fragen, ob ich vielleicht ganz falsch an diese Geschichte herangegangen war. Ich hatte es für eine ernste, tragische Geschichte gehalten, aber hier gerät sie zur Farce. Wie Binu Nacht für Nacht auf ihren Tod wartet und jeden Morgen enttäuscht wieder aufwacht, hat durchaus eine gewisse Komik. Ob diese beabsichtigt ist?
    Auch die Verwendung von Menschen als Reittieren und als Jagdbeute in "The River Bend" hat bei allem Entsetzen, das der Gedanke bei mir hervorruft, absurde, komische Züge. Vielleicht sollte ich das Buch lieber wie eine Bauernkomödie lesen.


    Alles richtig, aber was hat das mit der Geschichte um die Tränenfrau zu tun? Mir fehlt da völlig der innere Zusammenhang.

  • Die deutschen Kapitel 20 bis 24 habe ich jetzt auch noch gelesen, und wenn nicht mehr weniger als ein Drittel übrig wäre, dann würde ich das Buch glatt zuklappen und Binu alleine weiterheulen lassen. Es gibt zwar immer wieder mal Elemente, die mir gefallen oder die ich, wie ich glaube, einordnen kann. Dazu gehört z. B. die Fahrt nach Siebenhöhlen und die Begegnungen mit den Leuten, bei denen der Junge immer fragt, ob man nicht essen oder trinken oder mitnehmen könne. Das hat etwas märchenhaftes, wie bei Frau Holle und in vielen anderen gleichgelagerten Erzählungen.


    Im Grunde könnte man das ganze auch als klassische Queste lesen, aber dafür ist Binu einfach viel zu passiv. Sie handelt nicht selbst, mit ihr wird gehandelt – jedenfalls zu derart überwiegenden Teilen, das es mich anödet. So jemand taugt für mein Empfinden einfach nicht als Handlungsträger in einem Roman, und jemand anders ist ja nun mal nicht da, der diese Rolle ausfüllen könnte. Andererseits ist die Erzählung nicht so auf eine Innenperspektive ausgelegt, daß sie deshalb auf einen solchen Handlungsträger verzichten könnte. Nein, hier liegt irgendwie ein grundsätzliches Konstruktionsproblem vor, und deshalb werde ich – abgesehen von den kulturellen Differenzen – mit dem Roman auch nicht mehr warm werden.

  • Das ist ja wirklich sonderbar! Mir scheint, dass mir gerade im Mittelteil viele Kapitel fehlen. Wenn die deutsche Ausgabe nicht so viel mehr Seiten mit mehr Text hätte, würde ich ja annehmen, dass die Übersetzer ihre eigenen Kapiteleinteilungen vorgenommen hätten. Aber dagegen spricht auch, dass die meisten Kapitel doch eine genaue Titelentsprechung haben. Ich werde mir in der Bibliothek nachher die schwedische Übersetzung anschauen und vielleicht auch einen Blick ins chinesische Original werfen. Das wird mir zwar mangels Sprachkenntnissen nicht viel helfen, aber vielleicht hat es ja ein Inhaltsverzeichnis, in dem ich die Kapitel zählen kann.


    So ist jedenfalls meine Kapiteleinteilung:

    0 – Vorwort
    1 – Der Nordberg
    2 – Die Tränen
    3 – Der Frosch
    4 – Pfirsichdorf
    5 – Die Blaugrasschlucht
    6 – Der Menschenmarkt
    7 – Die Immerfrühlingsburg
    8 – Die Hirschmenschen
    9 – Die Zugbrücke
    10 – Das Grab des Hirschkönigs
    11 – Unter dem Baum
    12 – Die Pferdemenschen
    13 – Der Totengräber
    14 – Die Hofleute
    15 – Qinsu
    16 – Die Sterbehymne
    17 – Der Fürst
    18 – Am Ufer
    19 – Der Schwarzwolken-Paß
    20 – Die Duftwald-Station
    21 – Siebenhöhlen
    22 – Die Reichsstraße
    23 – Kornstadt
    24 – Die Tränensuppe
    25 – Das blaue Kleid
    26 – Die Häscher
    27 – Der Attentäter
    28 – Am Stadttor
    29 – Der Kaiser
    30 – Binu
    31 – Der Norden
    32 – Dreizehnstätten
    33 – General Jian
    34 – Die Hatz
    35 – Die große Mauer
    Preface




    Crying
    Frog
    Peach Village
    Bluegrass Ravine
    The People Market
    Hundred Springs Terrace
    Deer-boys
    The Drawbridge
    The Deer King's Grave







    Gravedigging













    The River Bend




    Fragrant Forest Station
    Seven-Li Cave




    Five-Grain City
    Tear Brew







    Assassin
    City Gate
    King
    Binu
    The North
    Thirteen-Li Shop
    ?
    ? (Great Swallow Mountain)
    The Great Wall


    Heute werde ich noch die letzten 4 Kapitel lesen und das Buch dann leicht enttäuscht beiseite legen.

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Das ist ja wirklich sonderbar! Mir scheint, dass mir gerade im Mittelteil viele Kapitel fehlen. Wenn die deutsche Ausgabe nicht so viel mehr Seiten mit mehr Text hätte, würde ich ja annehmen, dass die Übersetzer ihre eigenen Kapiteleinteilungen vorgenommen hätten.


    Das hätte ich ja auch noch vermutet, aber wie Du schon sagst: Dafür sind die anderen Kapitelüberschriften einander zu ähnlich. Ich bin ja gespannt, was Dein Vergleich in der Bib ergibt. Ich würde ja direkt einen Abgleich mit der englischen Ausgabe vornehmen, aber in keiner Bibliothek im Umkreis ist es vorhanden.


    Mal zu der Lücke rund um Qinsu und die Sterbehymne: Kam das bei Dir denn vor? Ein Gesandter des Kaisers kommt zur Immerfrühlingsburg und interessiert sich für mehr, als nach Ansicht des Fürsten gut für ihn ist. Daher beschließt man, einen der Hofleute, nämlich den „gelernten“ Dieb Qinsu, zum Auskundschaften zu schicken. Diesem gelingt es zunächst, in das Zimmer des Gesandten einzudringen und auch wieder herauszkommen, aber mehr als eine Karte hat er nicht gesehen. Er soll noch mal zurück und diese Karte stehlen. Dabei wird er durch den Frosch, der ihn verfolgt, so aus dem Konzept gebracht, daß der Gesandte und dessen Leibwächter ihn überwältigen können. Der Gesandte will Qinsu mitnehmen, um am Hof ein Urteil über ihn sprechen zu lassen. Der Fürst würde das gerne verhindern, damit Qinsu nicht etwas über die Burg, den Fürsten usw. ausplaudert. Einer der Höflinge, der aus der gleichen Provinz wie Qinsu stammt, kommt auf die Idee, ihn mit der Sterbehymne für Viehdiebe in den Tod zu singen, ein Schicksal, das Qinsus Großvater und Vater noch erlitten haben. Qinsu findet das alles aber nur lächerlich und läßt sich erst zum Selbstmord überreden, als man ihm eine Rückführung in sein Heimatdorf und eine prächtige Beisetzung, sogar mit trauernder Frau und Sohn, verspricht.


  • Mal zu der Lücke rund um Qinsu und die Sterbehymne: Kam das bei Dir denn vor? Ein Gesandter des Kaisers kommt zur Immerfrühlingsburg und interessiert sich für mehr, als nach Ansicht des Fürsten gut für ihn ist. Daher beschließt man, einen der Hofleute, nämlich den „gelernten“ Dieb Qinsu, zum Auskundschaften zu schicken. Diesem gelingt es zunächst, in das Zimmer des Gesandten einzudringen und auch wieder herauszkommen, aber mehr als eine Karte hat er nicht gesehen. Er soll noch mal zurück und diese Karte stehlen. Dabei wird er durch den Frosch, der ihn verfolgt, so aus dem Konzept gebracht, daß der Gesandte und dessen Leibwächter ihn überwältigen können. Der Gesandte will Qinsu mitnehmen, um am Hof ein Urteil über ihn sprechen zu lassen. Der Fürst würde das gerne verhindern, damit Qinsu nicht etwas über die Burg, den Fürsten usw. ausplaudert. Einer der Höflinge, der aus der gleichen Provinz wie Qinsu stammt, kommt auf die Idee, ihn mit der Sterbehymne für Viehdiebe in den Tod zu singen, ein Schicksal, das Qinsus Großvater und Vater noch erlitten haben. Qinsu findet das alles aber nur lächerlich und läßt sich erst zum Selbstmord überreden, als man ihm eine Rückführung in sein Heimatdorf und eine prächtige Beisetzung, sogar mit trauernder Frau und Sohn, verspricht.


    Nein, das alles gibt es in meinem Buch nicht. Bei mir sucht Binu ewig nach einem passenden Grabplatz, findet schließlich einen am Ufer, der vom Frosch okkupiert wird, dann folgt die Jagdszene und dann kommt der Wagen mit dem Sarg bei Binu an. Nun verstehe ich auch, wieso du was von dem "nervenden Frosch" geschrieben hattest. Der kam bei mir nämlich nur ganz kurz vor und hatte gar keine Gelegenheit, mich zu stören.
    Ich bin sauer! Zwar könnte ich mich darüber freuen, weniger lesen zu "müssen", aber wenn ich schon ein Buch lese, dann will ich es auch ganz lesen. Zudem sehe ich mich nun auch noch die schwedische Übersetzung lesen (der Name der Übersetzerin Anna Gustafsson Chen lässt auf eine Direktübersetzung aus dem Chinesischen schließen), was dann im Endeffekt wenn nicht doppelt, dann doch eindreiviertel so viel Lesearbeit ist - und das bei einem Buch, das nicht besonders gut ist :sauer: . Naja, vielleicht kann ich mich ja doch zurückhalten.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Es ist nicht so, als würdest Du wirklich etwas verpassen ohne diese Teile. Wahrscheinlich hat sich der Übersetzer für die englische Ausgabe das auch gedacht. Aber immerhin wissen wir nun, warum die englische Ausgabe so viel kürzer ist als die deutsche ...

  • Bin zurück aus der Bibliothek und etwas klüger als vorher.
    Ich habe nämlich gelernt, dass chinesische Bücher nicht von oben nach unten und von rechts nach links gelesen werden, sondern ganz "normal" von links nach rechts. Und dass sie mit arabischen Seitenzahlen versehen werden. So war es zumindest bei den circa fünf Büchern, die ich nach "Binu" noch blind aus dem Regal gezogen hatte, um zu überprüfen, ob das allgemein so üblich ist.
    Außerdem habe ich gelernt, dass Chinesisch eine sehr platzsparende Schrift ist. Die chinesische Ausgabe hat nämlich nur 220 Seiten mit übrigens ebenfalls 25 Zeilen pro Seite. Das Ein Zeichen pro Wort-System ist eben effektiv. Aber das nur nebenbei.


    Die schwedische Ausgabe ist wie vermutet ungekürzt. Ich habe ein wenig in ihr rumgeblättert und festgestellt, dass in der englischen Übersetzung nicht nur ganze Kapitel weggefallen sind - wobei manche wichtigen Informationen dann in die verbliebenen Kapitel integriert wurden -, sondern dass auch in den Kapiteln gekürzt wurde. So fehlen z. B. im vorletzten Kapitel auf der Suche nach der weinenden Person die Zwillinge, die sich gegenseitig kitzeln, um nicht weinen zu müssen.


    Ich habe das Buch nun beendet, wobei mir das letzte Kapitel richtig gut gefallen hat. Der zentrale Satz darin, der meiner Meinung nach für das gesamte Buch von Bedeutung ist, lautet you are not the only one who wants to cry. Binu gibt stellvertretend für das gesamte Volk ihrem Kummer Ausdruck. Sie weint für alle ihre Mitmenschen, die freiwillig oder (oft) gezwungenermaßen ihre Gefühle unterdrücken. Grund zum Weinen haben die meisten, aber sie weinen nicht; oder nur, wenn sie von Binu "angesteckt" werden.
    Auf ihrer Reise nach Norden trifft Binu geplagte, geknechtete Menschen, die von den Herrschenden auf vielfältige Art missbraucht werden und die sich dessen teilweise nicht einmal bewusst sind. Es ist so normal, dass sie sich etwas anderes nicht einmal vorstellen können. Auch Binu kann das nicht, aber sie fühlt das Elend eines ganzen Volkes (das klingt jetzt zwar gut, aber ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmt. Nimmt sie ihre Mitmenschen eigentlich wirklich wahr, oder ist sie ganz in ihrem Kummer eingekapselt?) und gibt ihm Ausdruck. Am Ende stürzt durch ihre Tränen die Große Mauer ein. Hier drängt sich mir eine psychologische Deutung auf: Ist das vielleicht die Mauer, die die Chinesen um ihre Gefühle gebaut haben, hat Binu ihnen den Zugang zu ihren unterdrückten Gefühlen verschafft?


    Ich muss gestehen, dass es mich doch jetzt tatsächlich reizt, auch noch die schwedische Übersetzung zu lesen. Obwohl mich das Buch nicht voll überzeugen konnte, hat es mir sonderbarerweise doch nicht wirklich schlecht gefallen. Ich habe den Eindruck, dass mehr darin steckt, als ich beim ersten Lesen herausgefunden habe.

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Die schwedische Ausgabe ist wie vermutet ungekürzt. Ich habe ein wenig in ihr rumgeblättert und festgestellt, dass in der englischen Übersetzung nicht nur ganze Kapitel weggefallen sind - wobei manche wichtigen Informationen dann in die verbliebenen Kapitel integriert wurden -, sondern dass auch in den Kapiteln gekürzt wurde.


    Mich wundert vor allem, daß diese Kürzung nicht irgendwo im Impressum vermerkt ist :gruebel:


    Ich bin auch vorhin fertig geworden, nachdem ich mich leicht angenervt noch durch eine Reihe weiterer langatmiger Kapitel gewühlt habe. Abschließend denke ich, daß Du mit Deinem Interpretationsansatz wahrscheinlich recht hast. Allerdings ist mir Binu – bei aller Hartnäckigkeit, die sich durchaus an den Tag legt – bis zum Ende sowohl zu passiv als auch zu selbstbezogen.



    Auch Binu kann das nicht, aber sie fühlt das Elend eines ganzen Volkes (das klingt jetzt zwar gut, aber ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmt. Nimmt sie ihre Mitmenschen eigentlich wirklich wahr, oder ist sie ganz in ihrem Kummer eingekapselt?)


    Mein Eindruck ist tatsächlich eher letzteres. Zwar zerrt sie ab und zu an irgendwelchen Leuten, aber nicht, weil sie sich wirklich für diese interessiert, sondern weil sie Gesellschaft auf der Reise sucht oder sonst eine Form der Unterstützung, die nie gewährt wird. Da sie ausschließlich ihre eigene Not und ihren eigenen „Auftrag“ sieht, kann sie selbst auch kein echtes Mitleid mit anderen mehr empfinden, daher wird es ihr auch nicht entgegengebracht.


    Ich kann sogar verstehen, daß sie sich vor der Erkenntnis verschließt, daß ihr Mann wahrscheinlich schon tot ist. Aber vieles andere an ihrem Verhalten kann man schlicht nur unter Lernresistenz verbuchen und es gibt kaum etwas, was mich in Büchern mehr nervt, als lernresistente Protagonisten :rollen: Fazit: Ich bin bereit zuzugestehen, daß es eine Aussage, eine Moral, in der Erzählung gibt, aber die Umsetzung gefällt mir nach wie vor nicht.

  • Rezension:


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    Ich habe die oben gezeigte englische Übersetzung unter dem Titel "Binu and the Great Wall" gelesen und nur auf sie bezieht sich meine Rezension. Das muss in diesem Fall besonders hervorgehoben werden, da sie sich als gekürzt herausstellte, etwas, das nirgendwo im Buch auch nur angedeutet würde. Einige Kapitel fehlen ganz, in anderen wurde einzelne Szenen gestrichen. Es mag sein, dass das Buch dadurch besser wurde, der Übersetzer die Arbeit übernahm, die eigentlich dem zuständigen Menschen im Verlag zugestanden hätte, es kann aber auch sein, dass es schlechter wurde. Was zustimmt, werde ich vielleicht demnächst feststellen können, falls ich tatsächlich noch die vollständige schwedische Übersetzung lese.
    Auf jeden Fall bin ich sauer auf den Canongateverlag, der einfach so (und ohne jeden Hinweis) in dem Buch herumkürzt.


    Su Tongs Buch ist sein Beitrag zum internationalen Mythenprojekt, in dem er sich der in China in unzähligen Versionen weit verbreiteten Geschichte über Meng Jiangnü annimmt. Der "treuen Meng", hier im Buch Binu genannt, wird ihr Ehemann Qiliang geraubt. Er wird wie so viele arbeitsfähige Männer auch zum Bau der Großen Mauer zwangskommandiert. Binu kann sich mit dem Verlust ihres Mannes nicht abfinden und als es Herbst wird, macht sie sich mit warmer Kleidung für ihren Mann nach Norden auf, wo, wie sie gehört hat, die Kälte im Winter unbarmherzig ist. Nach langer Reise endlich an der Mauer angekommen muss sie leider erfahren, dass Qiliang ums Leben gekommen ist und sein Leichnam unter den Fundamenten der Mauer ruht. Daraufhin beginnt Binu so sehr zu weinen, dass die Mauer einstürzt und seine Gebeine freigelegt werden.


    Su Tong hat diese Geschichte ausgeschmückt, wobei er sich oft weiterer Motive bedient, die er aus verschiedenen Versionen entnommen hat. Seine Binu weint nicht nur am Grabe ihres Mannes sondern nahezu ununterbrochen, was besonders auffällt, da Tränen sonst verpönt sind. In verschiedenen Gegenden ist den Bewohnern das Weinen sogar verboten, denn das würde ja bedeuten, dass sie unglücklich sind, und das können die Untersassen eines so tollen Herrschers ja nicht sein, egal, wie miserabel (und dafür gibt es im Buch einige haarsträubende Beispiele) er sie auch behandeln mag.
    Binus Tränen ziehen sich also durch das gesamte Buch - weshalb der deutsche Titel "Die Tränenfrau" wirklich gut gewählt ist - und es drängt sich die Vermutung auf, dass sie für ein ganzes geknechtetes Volk weint.


    Leicht war der Zugang zu diesem Buch nicht. Das liegt zum Teil an der kulturellen Barriere; ich konnte wahrscheinlich viele chinesische Motive nicht einmal als solche erkennen, geschweige denn einordnen. Ein ganz grundsätzliches Zugangsproblem spricht der Autor - allerdings ganz umgekehrt - in seinem Vorwort an:

    Zitat

    Eine solche Geschichte, die jeder kennt, neu zu erzählen, stellt einen Autor unausweichlich vor ein großes Problem.

    Ich hatte von Meng/Binu bisher noch nie gehört, hätte eine allgemeine Einführung in die Binugeschichte mit ihren diversen Variationen benötigt, aber so ohne Vorkenntnisse konnte ich kaum feststellen, was denn nun Sus eigener Beitrag zu der Geschichte ist.


    Weiterhin war es mir nicht möglich, Binu als Person näher zu kommen. Sie wird mit einer ziemlichen Distanz geschildert und taugt kaum als Identifikationsfigur, die den Zugang zu einer fremden Welt erleichtert hätte. Binu verhielt sich meist sehr passiv, wenn sie auch durch ihre Reise eine Aktivität zeigt, die ihre Mitmenschen sie staunend angucken lässt. Sie lässt sich von den Menschen, die ihr begegnen ohne Gegenwehr hin- und herschieben, was zwar zu ihrer hilf- und rechtlosen Situation passt, sie aber doch als "Heldin" einer Queste (als die man, wie Aldawen feststellte, das Buch auch lesen kann), ungeeignet macht.


    Zu einer Märchenfigur passt ihr Verhalten schon besser, aber für ein Märchen war das Buch zum einen zu lang, zum anderen war mir der Stil zu modern. Ein Wort wie z. B. "traumatisiert" passt nicht in diesen Zusammenhang. An anderen Stellen haben mir Ausdrücke aber fast den Atem geraubt; dies gerade dort, wo die Grenzen der Realität überschritten werden und zum Beispiel Binus Körperteile und Besitztümer ihr den Vorwurf machen, sich nicht ausreichend um sie gekümmert zu haben. An diesen Stellen öffnet sich eine weitere Dimension und ich beginne zu verstehen, wieso diese Geschichte in China über die Jahrtausende hinweg lebendig geblieben ist. Nur sind sie zu selten und die Längen des Buches (trotz Kürzungen meiner Ausgabe) zu viele, als das mich das Buch wirklich hätte begeistern können. Andererseits hat mich sein Thema doch gefesselt und so vergebe ich hin- und hergerissen
    3ratten

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Eigentlich kann ich Saltanahs Rezension in vielen Punkten nichts hinzufügen. Der Zugang zu dieser Geschichte ist für jemanden mit hiesiger kultureller Prägung ohne weitere Erläuterungen wahrscheinlich nur schwer bis gar nicht möglich. Daher hätte ich mir seitens des Verlages zumindest ein erläuterndes Nachwort gewünscht, wie der Lenos Verlag das bei seiner Arabischen Literatur geradezu vorbildlich praktiziert. Das interessante an diesem Gedanken der kulturellen Fremdheit ist aber eigentlich etwas anderes: Wenn wir mit Binu/Meng solche Probleme haben, welche Probleme hat dann ein Chinese mit den Mythennacherzählungen aus dem europäisch-antiken Umfeld? Darüber würde ich mich gerne mal mit Chinesen unterhalten, die Diskussion verspräche einigen Erkenntnisgewinn.


    Neben diesem grundsätzlichen Aspekt, der sich auch nicht so ohne weiteres ausräumen läßt, krankte der Roman für mich aber noch ganz anderen, wesentlichen Punkten. Saltanah hat schon einiges davon gesagt, als sie Binu charakterisiert hat. Auch mir war sie einerseits viel zu passiv, abgesehen von ihrer Reise nach Norden äußert sie kaum je eine eigene Meinung, läßt sich herumschubsen, ohne sich zu wehren und flennt die ganze Zeit vor sich hin. Andererseits, oder vielleicht auch als Folge davon, ist sie auch recht selbstbezogen. Wenn sie sich für die Menschen um sich herum interessiert, dann immer nur vor dem Hintergrund, daß diese sie doch nach Norden begleiten oder ihr sonstwie auf dem Weg helfen sollen. Warum sollten die Menschen das tun, wenn Binu/Meng offensichtlich nicht an ihnen interessiert ist? Das kann im Einzelfall ja mal funktionieren, wenn man an altruistische Leute gerät, aber der Regelfall ist das wohl eher nicht. Erschwerend kommt im Falle Binu/Meng noch dazu, daß sie ausgesprochen lernresistent ist. Sie zieht aus ihren Erlebnissen einfach keine Schlüsse für ihr zukünftiges Verhalten. Wohlwollend könnte man sie einfach als naiv bezeichnen, aber dieses Wohlwollen hat sie bei mir über die Erzählung hinweg dann doch recht schnell aufgebraucht – wer sich derart dämlich benimmt, hat's nicht anders verdient.


    Wenn ich auch Saltanahs Unmut über die nicht gekennzeichnete Kürzung durch den Canongate Verlag verstehen kann: Ich wäre froh gewesen, wären mir die in der englischen Fassung entfallenen Kapitel erspart geblieben. Sie drehten für die Handlung zweckfreie Schleifen und trugen auch sonst nicht zu einem besseren Verständnis bei, eher verwirrten sie noch zusätzlich. Das ist der Konstruktionsfehler des Romans: Entweder man erzählt die Geschichte wirklich als Queste, dann kann man diese Kapitel auch tatsächlich weglassen, oder man erzählt es als Entwicklungsroman, dann braucht man eine andere Protagonistin, oder man erzählt es als märchenhaft verbrämte Gesellschaftskritik, dann braucht es stringentere Ausarbeitung der Episoden. Ich habe fast den Eindruck, Su Tong wollte alles auf einmal und deshalb konnte nichts rechtes mehr dabei herauskommen.



    zum anderen war mir der Stil zu modern. Ein Wort wie z. B. "traumatisiert" passt nicht in diesen Zusammenhang.


    Das zumindest scheint nicht auf dem Mist des Übersetzers der englischen Ausgabe gewachsen zu sein, dergleichen ist mir auch mehrfach aufgefallen, und Wendungen wie auf dem Quivive sein gehören einfach nicht in einen solchen Roman. Mag sein, daß Su Tong das als Stilmittel bewußt eingesetzt hat, aber dann hat es auf mich seinen Zweck eindeutig verfehlt. Und wenn Saltanah in ihrer gekürzten Fassung schon Längen gefunden hat, so kann ich nur feststellen: Für die deutsche Ausgabe gilt das erst recht. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, daß das Buch eine einzige Länge war, es hat gute Passagen, aber diese sind in Summe einfach zu wenig.


    1ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo miteinander,


    ich habe ja immer wieder in eure Kommentare gespickt und gehofft, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss, denn ich habe "Die Tränenfrau" letztes Jahr nach etwa 80 Seiten abgebrochen.
    Der Anfang hatte mir noch sehr gut gefallen, aber als es dann um Binu ging, fing ich an, mich zu langweilen. Ich konnte mit diesem "Zerfließen" einfach nichts anfangen.
    Inzwischen denke ich, dass mir das Buch vermutlich auch später nicht gefallen hätte und dass ich nichts verpasst habe.


    Grüße von Annabas :winken:


  • ich habe ja immer wieder in eure Kommentare gespickt und gehofft, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss, denn ich habe "Die Tränenfrau" letztes Jahr nach etwa 80 Seiten abgebrochen.


    Das kann ich gut verstehen, wäre unter anderen Umständen wahrscheinlich auch meine Entscheidung gewesen, aber ich konnte Saltanah ja nicht einfach allein damit lassen. Außerdem hätten wir dann ja nie diese Kürzung herausgefunden :breitgrins:


    Aber ist es nicht auch schön, noch nachträglich die Bestätigung zu bekommen, daß man sich richtig entschieden hat? Das eigene Gefühl trügt doch selten, und deshalb bin ich auch recht rigoros beim Abbrechen von Büchern. Warum soll ich meine Zeit damit verplempern, wenn es offensichtlich nicht für mich geschrieben wurde?


  • Aber ist es nicht auch schön, noch nachträglich die Bestätigung zu bekommen, daß man sich richtig entschieden hat? Das eigene Gefühl trügt doch selten, und deshalb bin ich auch recht rigoros beim Abbrechen von Büchern. Warum soll ich meine Zeit damit verplempern, wenn es offensichtlich nicht für mich geschrieben wurde?


    Das stimmt allerdings.
    Nur hin und wieder frage ich mich nach einem abgebrochenen Buch, ob die zweite Hälfte vielleicht gaaaaanz toll gewesen wäre. :zwinker:


    Grüße von Annabas