Péter Nádas - Parallelgeschichten

Es gibt 23 Antworten in diesem Thema, welches 7.979 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Saltanah.


  • 2. Nádas ist nicht langweilig.


    Das ist wohl wahr. Nach gut 200 Seiten der schwedischen Übersetzung bin ich hin und weg vom Buch. Zwar waren die ersten beiden Kapitel ziemlich dröge, aber nachdem ich mich nun in Nádas Welt eingelesen habe, fesseln mich die Geschichten. Natürlich ist viel - das meiste eigentlich - noch unklar, Zusammenhänge zwischen den Kapiteln kann ich nur erraten, teilweise weiß ich nicht einmal, ob Sachen wirklich geschehen sind oder nur halluziniert wurden, aber das ist mir völlig egal. Ich bin "drin", begeistere mich daran, wie geschickt Nádas Motive in die verschiedenen Erzählstränge einbaut, male mir wild phantasierend Zusammenhänge aus und möchte diese Welt so schnell nicht wieder verlassen.


    Nur muss ich mein Buch wegen Kurzleihe schon übermorgen wieder zurückgeben und selbst wenn ich es bis dahin durchhaben sollte, ist es ja nur ein Drittel des Buches und der Rest vom Verlag noch nicht einmal angekündigt. Da bleibt mir nur, darauf zu warten, dass die deutsche Übersetzung in der Stadtbücherei ankommt (sie will es auf meinen Einkaufsvorschlag hin anschaffen), oder doch Amazon zu beauftragen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • 06.06.2012. Wie alle großen Romane der Moderne demontieren Péter Nádas' "Parallelgeschichten" das bürgerliche Subjekt. Es wird perforiert und entdeckt in sich unbekannte Gefühle, Gedanken, Gewalten. Es sieht "Im Zauberspiegel sich selbst". Laudatio auf Péter Nádas und die Übersetzerin Christina Viragh, die gestern den Brücke Berlin Preis erhielten.


    http://www.perlentaucher.de/do…ucharbeit-am-subjekt.html


    Der lange Essay enthält einige Spoiler.


    Gruß, Thomas

  • Péter Nádas – Parallelgeschichten


    Besuch einer Lesung mit dem Autor


    Das neue Buch von Péter Nádas schlägt im professionellen Feuilleton große Wellen. Keine Zeitung, die diesem 1723 Seiten dicken Werk nicht eine große Besprechung widmet. Die Zeitschrift Literaturen widmet dem Autor in ihrem Frühjahrs-Heft gar mehr als 20 Seiten mit einem Portrait des Schriftstellers und früheren Fotografen, einer Lobrede des Freundes Péter Esterházy sowie einer Rezension des Romans.


    Es ist somit erfreulich, dass der 69-jährige Autor Péter Nádas, der in den letzten Jahren immer wieder mal auf den Wettlisten für den Nobelpreis stand, das deutsch-amerikansiche Institut in Heidelberg für eine Lesung ausgesucht hat. Als Moderator stand ihm der aus der Jury der SWR-Bestenliste sowie aus der Sendereihe Literatur im Foyer bekannte Journalist Martin Lüdke zur Seite. Lüdke ist nicht nur Literaturkritiker, sondern auch Literaturwissenschaflter, der bis 1984 den Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur in Frankfurt innehatte. Lüdke gibt in einem etwa 20-minütigen Referat eine (etwas zu lang geratene) fundierte Einführung zum Autor und Werk.


    Aus den zahlreichen Presseberichten wusste ich schon, dass dieser Roman im Jahr 2005 im Original erschienen ist und der Autor daran ganze 18 Jahre lang, also seit 1987, geschrieben hat. Nádas kann später auf die Frage Lüdkes hin, wie lange er an einem Kapitel durchschnittlich gearbeitet habe, keine Antwort geben, da „die verwendeten Seiten hundertmal überarbeitet seien“. Dabei ist das „hundertmal“ sicher nicht für jede Seite wörtlich zu nehmen. Aber er habe jeden Tag daran gearbeitet. Der Autor spricht mit leichtem osteuropäischen Akzent ein fehlerfreies Deutsch, gelegentlich mag ihm die ein oder andere Vokabel nicht in den Sinn kommen. Er spricht leise und gibt wohlbedacht seine Antworten. Nádas wirkt ausgesprochen höflich und nett auf das Publikum. Mit etwa 80 interessierten Zuhörern war der Saal jedoch nicht bis auf den letzten Platz gefüllt.


    Als beste Einstimmung in sein Werk empfiehlt Lüdke das schmale Bändchen "Behutsame Ortsbestimmung", welches zwei Essays des Autors enthält. Darin abgedruckt ist der sehr bewegende Text "Der eigene Tod", der sich mit seinem Herzinfarkt und dem nachfolgenden 3-minütigen Herzstillstand befasst, den der Autor am 28. April 1993 erlitten hat. Im zweiten Text, gleichnamig mit dem Buch, erzählt der Autor von dem kleinen Dorf Gombosszeg, „weit weg von überall“, wie Lüdke ausführt, es besteht nur aus wenigen Straßen, sein Haus ist das 3. oder 4. auf der der linken Seite. Er lebt dort mit seiner Frau und den Großteil seines Romans hat er dort verfasst.


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    Der Roman sei ein „europäisches Ereignis“, so Lüdke, daher wundert es nicht, dass der Autor am Ort seines Schaffens von zahlreichen Journalisten besucht wurde. Dem Besuchsbericht von Jörg Magenau für die Zeitschrift Literaturen entnehme ich, dass das Zimmer „mit antiken Möbeln sparsam ausgestattet und wirklich sehr aufgeräumt“ ist. „Jedes Ding steht für sich im Raum, alles gehört einer Ordnung an, die dazu da ist, Stabilität zu behaupten. [...] Auf dem Schreibtisch der Laptop, ein paar Stifte sind lotrecht ausgerichtet.“ Diese Ordnung kann man sich, nach dem ich den Autor live erlebt habe, nicht anders vorstellen. Er nimmt sich Zeit beim Signieren der Bücher, manchmal dauert es zwei Minuten bis der nächste Leser seine Bücher signieren lassen kann. Mit Bedacht setzt Nádas zunächst mit feinem Tintenroller einer edlen Schreibgerätemarke seinen Namen sowie dann Ort und Datum in das Buch. Die Lesung fand im Frühjahr diesen Jahres statt, bei Nádas wird daraus ein leserlicher Eintrag „Heidelberg, 29. Februar 2012“. Für die Hochglanzseiten des Bandes "Der eigene Tod", den ich vor der Veranstaltung dort käuflich erwarb, wäre solch ein Tintenroller nicht geeignet. Er zieht daher aus seinem Jackett einen sehr spitzen Bleistift und wiederhoft das Prozedere auch für dieses Buch.


    Noch eine andere interessante Geschichte erfährt man aus dem Besuchsbericht, der in Literaturen abgedruckt ist. Für sein erstes großes, ebenfalls mehr als 1000 Seiten umfassendes Buch, "Buch der Erinnerung", welches 1973 erschienen ist, tat Nádas zwei Jahre lang nichts anderes als auf dem Bett zu liegen und zu beobachten, was die Erinnerung ihm zutrug und wie die Phantasie daran herumspielte. Er notierte nichts. Auch für dieses Buch benötigte er mehr als elf Jahre. Nádas Bücher zeichnen sich durch äußerst genaue Beschreibungen aus. Die Parallelgeschichten strotzen nur so vor davon, mit über 100 Seiten sind im "längsten Fick der Welt" zahlreiche medizinische Details beschrieben, kein Muskel, keine Flüssigkeit wird ausgelassen. Die Spannung steigert sich dabei innerhalb des Kapitels langsam. Lüdke fragt Nádas: „Wie kriegst du so was hin?“. Nádas humorvoll: „Das ist mein Beruf. Auch ein Chirurg muss millimetergenau arbeiten.“


    Als Lesetext wird das sogenannte „Taxikapitel“ ausgewählt, eine Fahrt der jungen Gyöngyvér (schade, dass ich die unterschiedlichen Aussprachen dieses Namens von Lüdke und Nádas hier nicht wiedergeben kann) mit Frau Erna. Sie ist die Mutter von Gyöngyvérs Liebhaber Ágost. Während dieser Fahrt spielen sich parallel zum äußeren Geschehen in den Köpfen der Personen ausgesprochene und unausgesprochene Gedanken, innere Wahrnehmungen aus Gegenwart und Vergangenheit ab. Frau Erna denkt an ihr Kind, dass sie stillt und so kommt es auf dieser Fahrt zu einer Intimität zwischen diesen beiden Frauen, die mit außergewöhnlicher Sensibilität beschrieben wird. Der in sich geschlossene Text des Kapitels, der auch in einem Kurzgeschichtenband erscheinen könnte, besitzt einen äußerst feinen Humor. Eine heruntergefallene Tablette verschwindet in den Rillen der Taxi-Fußmatte und dann wird das Suchen nach dieser Tablette sowie die intime Annäherung der beiden Frauen parallel beschrieben. Durch die Lesung des Autors mit seiner langsamen Sprechweise werden ganz andere, beim eigenen Lesen kaum wahrgenommene Stellen betont. Auch dies zeigt die hohe Qualität des Textes.


    Nádas berichtet, dass sich durch nicht vorherzusehende Ereignisse wie dem Mauerfall das Konzept seines Buches nicht grundlegend geändert habe, er habe es modifiziert, nun setzt das 1. Kapitel im Jahr des Mauerfalls ein. Er habe schon einen großen Plan gehabt, „gottseidank konnte er zum Teil nicht verwirklicht werden.“ Er habe von Anfang an eine offene Struktur geplant, Erzählstränge laufen nicht an ihr Ende, sondern bleiben in der Schwebe. „Ich bin Realist, wie im Leben gewisse Phasen zu Ende sind, laufen andere ins Nichts.“ Die Körperlichkeit spielt in vielen Kapiteln eine ausgesprochen große Rolle. „Außerhalb des Körpers passiert nichts. Der Geist ist auch innerhalb des Körpers. Ich bin da Realist.“ Auf ein Personenverzeichnis, welches ich mir aufgrund der zahlreichen Erzählstränge ebenfalls gewünscht hätte, wurde bewusst verzichtet. „Es stört die Substanz des Buches.“, so der Autor. Um ein solches Buch zu schreiben, nimmt der Autor verschiedene Identitäten an und „ich bleibe diese 3. Person. Es ist ein kontrolliertes Spiel mit einer Bewusstseinsspaltung.“ Die Figuren entwickeln sich im Laufe des Schreibprozesses, andernfalls wären es Totgeburten bzw. Kopfgeburten.


    Ein bewegender Abend geht zu Ende, ich muss mich in eine lange Menschenschlange einreihen, um meine mitgebrachten Bücher, darunter auch ein sehr sehenswerter Bildband der berühmten Fotografin Isolde Ohlbaum, signieren zu lassen.


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    Mein Buchhändler stand zufällig neben mir und erzählte mir noch, wie er Nádas vor vielen Jahren in seinem Heidelberger Hotel aufsuchte, um sich ein paar Bücher signieren zu lassen. Das Hotel war jedoch so furchtbar, dass er Nádas woanders hinbrachte. Im strömenden Regen signierte der Autor dann die Büchers des Buchhändlers in seinem Auto. Nádas habe ja schon von vielen Dingen gehört, die man im Auto tun könne, aber dass man dort Bücher signiere, sei ihm neu.

    Schöne Grüße,
    Thomas

  • Nach über 1000 Seiten (knapp 700 sind noch zu lesen) sind zu meiner großen Überraschung und noch größeren Freude noch keinerlei Ermüdungserscheinungen zu verspüren. Dass dieser Brocken mich so sehr fesseln würde, hätte ich nie erwartet.


    Nádas schreibt sehr ausführlich, aber dermaßen präzise, dass alles gleichermaßen interessant ist, egal, was er gerade schildert - ob Geschlechtsverkehr, klingelndes Telefon oder misslungene Architektur. Für ihn ist wohl alles wichtig, da alles zu den Lebensbedingungen des 20. Jahrhunderts beiträgt, bzw. sie widerspiegelt. Dabei fällt es mir allerdings schwer, den Überblick zu behalten. Das stört mich aber nicht weiter, da ich so tief in alle Geschichten eintauche und es ja sowieso kaum möglich ist, den Überblick über ein chaotisches Jahrhundert zu bekommen.


    Ich bin jedenfalls begeistert! Dieses Buch beschert mir ein ganz großes, intensives Leseerlebnis.

    Wir sind irre, also lesen wir!