Carol Birch - Der Atem der Welt

Es gibt 5 Antworten in diesem Thema, welches 1.389 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Inhalt:


    Wäre der Tiger nicht gewesen, Jaffys Leben wäre wahrscheinlich anders verlaufen. Der Tiger war der Schlüssel zu Jamrachs Menagerie. Denn welcher Junge geht schon hin und tätschelt einem herumstreifenden Tiger die Schnauze?


    Das ist nun Jaffys Welt: Wilde Tiere, Käfige säubern und sich mit Tim zanken. Der strahlende Tim, Jaffys bester Freund. Er ist auch, dem Jaffy einige Jahre später auf den Walfänger folgt. Doch werden sie nicht nur angeheuert, um Wale zu jagen, das eigentliche Ziel ist etwas viel Grösseres, Gefährlicheres. Ein Drache soll es sein, ein echter, lebender Drache...


    Meine Meinung:


    "Der Atem der Welt" von Carol Birch nimmt uns mit ins Jahr 1857 und gleich zu Beginn treffen wir den Tiger, der aus seinem Käfig fliegen konnte und sich London anschauen geht. Ein spektakulärer Anfang für ein Buch mit Höhen und Tiefen.


    Zu den Höhen gehört definitiv die Fahrt auf See. Jaffy und Tim, beides junge Männer voller Tatendrang, wollen hinaus und die Welt sehen. Beziehungsweise, Timm will die Welt sehen. So landen die Burschen auf dem Schiff und meiner Ansicht nach im stärksten Teil des Buches.
    Hier kommt am meisten Stimmung und Spannung auf. Man trifft auf skurille Menschen, ist bei der Jagd auf den Drachen dabei und vor allem die Schilderungen der Zeit mit dem Drachen sind sehr intensiv. Das Schiff wird von einem grossen Unglück heimgesucht und stellt Jaffy vor eine Entscheidung, die härter nicht sein kann.


    Dabei erinnert die Geschichte zwar etwas an "Schiffbruch mit Tiger", entwickelt aber dennoch eine starke Eigendynamik, für die ich das Buch wirklich schätzen lernte. Es war eine fesselnde Geschichte und ich konnte meine Nase kaum mehr aus dem Buch nehmen. Es entwickelte einen derartigen Sog, dass ich gar nicht anders konnte, als ständig daran denken, wie es nun mit den lieb gewonnenen Figuren weitergehen mag.


    Doch trotz des starken Mittelteils hat "Der Atem der Welt" auch einige Schwachstellen. Zu denen gehören der Anfang und vor allem der Schluss.
    Der Anfang war zu wenig packend, liebevoll erzählt, das gewiss, aber eigentlich besteht der erste Teil des Buches bloss aus Alltagsgeschehnissen aus Jaffys und Tims Leben. Man merkt, dass Jaffy sich mehr und mehr in Tims Zwillingsschwester verliebt, dass er gut mit Tieren kann, aber es fehlt der rote Faden. Einige Male dachte ich daran, das Buch zur Seite zu legen. Es sind zwar lustige Erlebnisse und das Trio überzeugt in seiner verqueren Dreieckskonstellation. Aber wozu muss ich das alles wissen? Wohin führt diese Geschichte?


    Diese Fragen erübrigten sich als die Geschichte an Fahrt aufnahm und in den von mir bereits gelobten Mittelteil überging. Der Schluss jedoch verpatzte wiederum alles.
    Ansatt die Geschichte mit Gefühl zu beenden und den Leser das Buch mit einem wohligen Seufzer schliessen zu lassen, zieht Birch das Ganze in die Länge.


    Sie erzählt uns noch dies und das und jenes. Und mit jeder Seite schwindet der wohlige Seufzer mehr und als Leser dachte ich nur noch: "Komm zum Schluss!" Denn die eigentliche Geschichte war schon lange zu Ende. Der Rest ist nur noch Blabla und zerstört den Zauber des Hauptteils.


    Schade, wie ich finde, sehr schade sogar. Denn an und für sich ist "Der Atem der Welt" eine gut erzählte Abenteuergeschichte vor historischem Hintergrund. Ein Buch über Leben und Sterben, die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und der Natur. Alles war sehr gut durchdacht, bis auf das Kaugummi-Ende...


    Fazit:


    Wer ein Buch im Stil von "Schiffbruch mit Tiger" sucht, findet hier eine weitere Schilderung des Lebens auf dem Meer, seinen Gefahren und seinen Chancen. Ein schönes Buch mit einigen Schwächen, doch der wichtigste Teil des Buches ist so gut erzählt, dass man den schwächelnden Anfang vergessen kann.
    Allen Lesern jedoch empfehle ich, den dritten Teil nicht mehr zu lesen.


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    3ratten & :marypipeshalbeprivatmaus:

    //Grösser ist doof//

  • Danke für deine Meinung, Jari. Ich habe mir das Buch vor Kurzem gekauft, weil mich der Klappentext angesprochen hat. Ich bin gespannt, wie es mir gefallen wird und ob ich deine Meinung teile. :breitgrins:

    &quot;Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat&quot;<br />Carlos Ruiz Zafón<br />:lesen:

  • Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, und zwar in dieser Ausgabe (aber ohne die hässlichen Sticker auf dem Cover :zwinker::(


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    Interessanterweise hat mir im Gegensatz zu Jari der erste Teil besonders gut gefallen, in dem beschrieben wird, wie Jaffy im Dreck der Londoner Slums aufwächst und lebt, wie er sich in Ishbel verliebt und mit Tim rivalisiert, bis er sich schliesslich mit ihm anfreundet. Mir gefallen solche Alltagsschilderungen, von mir aus hätte der erste Teil doppelt so lang sein dürfen. :smile:
    Der Mittelteil hatte dagegen für mich ein paar Längen. Es werden zwar dramatische Ereignisse geschildert, aber zwischendurch dümpelt die Geschichte auch so ein bisschen vor sich hin...


    Spannend finde ich, dass das Buch lose auf der Geschichte des Walfangschiffs "Essex" aus dem 19. Jahrhundert basiert, von der sich auch Herman Melville zu Moby Dick inspirieren liess. :smile:



    Dabei erinnert die Geschichte zwar etwas an "Schiffbruch mit Tiger", entwickelt aber dennoch eine starke Eigendynamik, für die ich das Buch wirklich schätzen lernte.


    Mich haben die Parallelen zu Life of Pi zunächst abgeschreckt, weil ich das damals gar nicht mochte, es war mir viel zu esoterisch. Aber ich finde, dass die beiden Bücher kaum etwas gemeinsam haben, abgesehen vom Thema Schifffahrt. (Der Tiger spielt hier ja keine grosse Rolle im Vergleich zu Life of Pi...)



    Ansatt die Geschichte mit Gefühl zu beenden und den Leser das Buch mit einem wohligen Seufzer schliessen zu lassen, zieht Birch das Ganze in die Länge.


    Sie erzählt uns noch dies und das und jenes. Und mit jeder Seite schwindet der wohlige Seufzer mehr und als Leser dachte ich nur noch: "Komm zum Schluss!" Denn die eigentliche Geschichte war schon lange zu Ende. Der Rest ist nur noch Blabla und zerstört den Zauber des Hauptteils.


    Schade, wie ich finde, sehr schade sogar. Denn an und für sich ist "Der Atem der Welt" eine gut erzählte Abenteuergeschichte vor historischem Hintergrund. Ein Buch über Leben und Sterben, die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und der Natur. Alles war sehr gut durchdacht, bis auf das Kaugummi-Ende...


    Den Schluss fand ich auch zu sehr in die Länge gezogen. Anfang und Mittelteil bilden zusammen eine schöne Abenteuergeschichte, die auch eine Geschichte vom Erwachsenwerden ist, finde ich, und die sicher Stoff zum Nachdenken gibt, aber der langatmige Schlussteil nimmt einem ein bisschen die Lust, sich danach noch weiter mit dem Buch zu beschäftigen...



    Alles in allem würde ich dem Buch auch 3ratten und :marypipeshalbeprivatmaus: geben, weil es zwar unterhaltsam und gut geschrieben ist, aber auch ein paar Schwächen hat.

  • Als Achtjähriger wird Jaffy Brown, der Mitte des 19. Jahrhunderts im übelsten Slum von London aufwächst, zu einer kleinen Berühmtheit, nachdem er ganz ohne Angst auf einen entlaufenen Tiger zugegangen ist, ihm die Nase gestreichelt hat und dafür "belohnt" wurde, indem der Tiger ihn ins Maul nahm.


    Zu Hilfe kam ihm Jamrach, der zeitweilige Besitzer der Raubkatze, ein Importeur exotischer Tiere, der den vorwitzigen, mutigen Knirps spontan ins Herz schließt und ihm eine Arbeitsstelle in "Jamrach's Menagerie" anbietet, was natürlich viel besser ist, als Fäkalien zu schaufeln, womit Jaffy früher zum Lebensunterhalt für sich und seine Mutter beigetragen hat.


    Jaffys ganz großer Traum ist es aber, zur See zu fahren, und als er alt genug ist, heuert er gemeinsam mit seinem Freund Tim auf einem Walfänger an, nicht ohne einen Spezialauftrag von Jamrach: die "Lysander" soll nicht nur Wale jagen, sondern auch einen leibhaftigen (Komodo-)Drachen mit nach England bringen. Keine einfache Mission, die am Ende in die härteste Belastungsprobe mündet, die man sich vorstellen kann.


    Carol Birch ist eine Meisterin der Schilderungen, wobei sie nicht "herumlabert" oder sich seitenweise in überdetaillierten Beschreibungen ergeht. Das Buch ist auch mit knapp 400 Seiten nicht allzu dick. Sie schafft es, mit wenigen Worten schillernde Bilder im Kopf zu erzeugen, ob von den entsetzlichen Hygieneverhältnissen in Londons Armenvierteln, dem bunten Sammelsurium von Tieren in Jamrachs Menagerie oder dem Leben auf dem Schiff. Alltagsszenen sind dabei genauso fesselnd wie dramatische Vorkommnisse, von denen es nicht gerade wenige gibt.


    Jaffys schicksalhafte Seereise nimmt dabei den größten Raum im Buch ein, das Davor und Danach bildet den - nicht minder interessanten - Rahmen. Was routinemäßig mit dem Kennenlernen der Schiffsbesatzung und dem ersten Landgang auf den Azoren beginnt, entwickelt sich zu einem packenden Seefahrerdrama, das nichts für schwache Nerven und schon gar nichts für schwache Mägen ist.


    Wer mit Blut und Gedärmen und Jagdszenen nicht klarkommt, sollte lieber nicht zu dem Buch greifen. Es ist beileibe kein Splattermovie im historischen Gewand, aber einige Passagen haben es schon heftig in sich (dass der Walfang relativ detailliert geschildert und an Bord ziemlich viel gekotzt wird, ist noch quasi harmlos), und das eine oder andere hätte man in dieser Deutlichkeit vielleicht nicht gebraucht. Aber es ist nicht Ekel um des Ekels willen, die Ürgs-Szenen haben im Gesamtkontext durchaus ihre Berechtigung.


    Für seefeste und auch anderweitig belastbare Leser ein fesselndes, sprachgewaltiges Abenteuer mit tollen Charakteren und vielen Überraschungen. Fragwürdig ist nur der deutsche Titel. Das Original heißt "Jamrach's Menagerie".


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()

  • Ich habe jetzt erst die vorherigen Rezis gelesen und muss sagen, dass ich weder den Anfang noch den Schlussteil langatmig oder überflüssig fand. Jaffys Vorgeschichte zu kennen gefiel mir genauso, wie zu erfahren, wie es letztendlich mit ihm weitergeht und auch, wie er das Erlebte verarbeitet hat.


    Interessant war auch die Anmerkung der Autorin, dass die Begebenheit mit dem Tiger sowie die Figur des Mr. Jamrach der Wahrheit entsprechen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen